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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bew
keit, der er fähig ist, gegeben hat. Zu dem Ende
muß er sich unnachläßig in den Versuchen üben, alles
deutlich zu sehen, und das, was er selbst so sieht,
mit der höchsten Klarheit auszudrüken.

Eine wichtige Sache bey dem Beweisen ist auch
der Ton, in welchem sie vorgetragen werden. Man
bemerkt bisweilen einen gewissen Ton der Wahr-
heit und der Ueberzeugung von Seite des Redners,
der uns sanft, aber unwiderstehlich, zum Beyfall nö-
thiget, wenn wir auch sonst die Stärke des Bewei-
ses nicht einsehen, ja selbst da, wo gar kein Be-
weis angegeben wird. Denn so wie wir geneigt
sind, mit dem traurigen zu trauren und mit dem
lachenden zu lachen, so fühlen wir auch einen Hang
demjenigen Beyfall zu geben, wovon wir andre
überzeuget sehen. Es wird nicht überflüßig seyn
hier ein Beyspiel anzuführen, darin dieser Ton
der Wahrheit sich klar bemerken läßt, da man ohne
dem ihn nicht beschreiben, sondern nur an Bey-
spielen merklich machen kann.

Jn der Andromache des Euripides wird diese
unglükliche Prinzeßin von der Hermione beschul-
diget, daß sie durch allerhand Künste die Zuneigung
des Neoptolemus gewonnen, und ihn ihr, als der
rechtmäßigen Gemahlin und der Tochter des Me-
nelaus entzogen habe. Andromache beweißt ihre
Unschuld in folgender Rede.

"Sage mir doch, du junge, unerfahrne Königin,
worauf sollte sich mein Vorsatz, dich aus dem recht-
mäßigen Ehebett zu vertreiben, gründen können?
Jst etwa itzt Sparta geringer als die phrygische
Troja, und geht diese jener an Glükseligkeit vor?
Bin ich etwa frey, oder jung oder zur Wollust ge-
bildet? Kann ich etwa aus Stolz auf die Macht
meiner (in der Asche liegenden) Vaterstatt, oder
auf meine (umgebrachte) Freunde, es versuchen,
an deiner Statt in deinem Hause zu herrschen?
Sollte ich etwa Lust haben deine Unfruchtbarkeit
hier zu ersetzen und Kinder zu gebähren, mir zur
größten Laft, und daß sie dir künftig zu Selaven
dienten? Bilde ich mir etwa ein, daß die Griechen
des Hektors halber mich so sehr lieben, daß sie
meine Kinder, wenn du keine hast, zu Königen die-
(*) Eurip.
Androm.
VI.
190-
202.
ses Landes machen? u. s. w.". (*) Jedermann
fühlt den Ton der Wahrheit, womit Andromache
hier ihre Unschuld beweißt.

[Spaltenumbruch]
Bew

Wenn dieser Ton der Wahrheit zugleich durch
den würklichen Ton der Stimme, durch die Stel-
lung und Gebehrdung des Redners unterstüzt wird,
daß der Zuhörer fühlt, er rede aus innerster Ueber-
zeugung, so wird sein Beweis die volle Würkung
thun. So lange der Zuhörer ohne Vorurtheil ist,
wird man ihn sehr geneigt finden, dem Beyfall zu
geben, der etwas auch ohne Beweis in dem Ton
der Wahrheit versichert. Bemerken wir an dem
Redner eine bescheidene Zuversichtlichkeit in seine
eigene Ueberzeugung, und ein natürliches einfaches
Wesen, womit er uns dessen versichert, so ersezt
unser Herz, was dem Verstand fehlt, und wir
glauben, ohne zu sehen. Läßt aber der Redner das
geringste merken, daß er unsern Beyfall erzwin-
gen will, so widersteht die Reigung der Ueberzeugung.
Gar oft schadet der Redner seinem Beweis, wenn er
sich bey klaren Sachen zu lange aufhält, um sie noch
deutlicher zu machen. Die wahre Gründlichkeit ist
einfach und kurz. Gewisse Gründe sprechen durch
die Sache selbst am lautesten, und ihre Stimme wird
durch übertriebenes Bemühen des Redners ge-
schwächt. Hieher gehört auch, was wir im
nächsten Artikel von den pathetischen Beweisen
anmerken.

Durch die Art des Vortrages kann der Redner
einem Beweis sehr auf helfen, oder schaden. Der
stärkste Beweis kann durch einen schlechten und
schwachen Vortrag seine Kraft verliehren. Das
klare kann durch die Aussprach und den Ton dunkel,
das kurze, langweilig, und das lebhafte, schwach
werden. Vornehmlich hat der Redner genau zu
überlegen, wo eigentlich in seiner Rede der Ort ist,
da natürlicher Weise verschiedene vorgetragene
Gründe ihre Würkung nun auf einmal thun sollen.
Da muß er alle Kunst anwenden sie gut zu ver-
einigen, den Verstand die Einbildungskraft und
das Herz des Zuhörers auf einmal lebhaft anzu-
greifen.

Bey der Bestätigung des Satzes, wozu mehrer-
ley Beweise angeführt werden, kommt auch ofte
viel auf die Ordnung an, darin sie einander fol-
gen. Die Frage ist ofte untersucht worden, ob die
starken oder die schwächern Gründe zuerst sollen auf-
gestellt werden. Quintilian rathet von den schwä-
chern den Anfang zu machen. (+) Allein die Sache

scheinet
(+) Prout ratio causae cujusque postulabit ordinabuntur, uno (ut ego censeo) excepto, ne a potentissimis ad laevissima
decrescat oratio.

[Spaltenumbruch]

Bew
keit, der er faͤhig iſt, gegeben hat. Zu dem Ende
muß er ſich unnachlaͤßig in den Verſuchen uͤben, alles
deutlich zu ſehen, und das, was er ſelbſt ſo ſieht,
mit der hoͤchſten Klarheit auszudruͤken.

Eine wichtige Sache bey dem Beweiſen iſt auch
der Ton, in welchem ſie vorgetragen werden. Man
bemerkt bisweilen einen gewiſſen Ton der Wahr-
heit und der Ueberzeugung von Seite des Redners,
der uns ſanft, aber unwiderſtehlich, zum Beyfall noͤ-
thiget, wenn wir auch ſonſt die Staͤrke des Bewei-
ſes nicht einſehen, ja ſelbſt da, wo gar kein Be-
weis angegeben wird. Denn ſo wie wir geneigt
ſind, mit dem traurigen zu trauren und mit dem
lachenden zu lachen, ſo fuͤhlen wir auch einen Hang
demjenigen Beyfall zu geben, wovon wir andre
uͤberzeuget ſehen. Es wird nicht uͤberfluͤßig ſeyn
hier ein Beyſpiel anzufuͤhren, darin dieſer Ton
der Wahrheit ſich klar bemerken laͤßt, da man ohne
dem ihn nicht beſchreiben, ſondern nur an Bey-
ſpielen merklich machen kann.

Jn der Andromache des Euripides wird dieſe
ungluͤkliche Prinzeßin von der Hermione beſchul-
diget, daß ſie durch allerhand Kuͤnſte die Zuneigung
des Neoptolemus gewonnen, und ihn ihr, als der
rechtmaͤßigen Gemahlin und der Tochter des Me-
nelaus entzogen habe. Andromache beweißt ihre
Unſchuld in folgender Rede.

„Sage mir doch, du junge, unerfahrne Koͤnigin,
worauf ſollte ſich mein Vorſatz, dich aus dem recht-
maͤßigen Ehebett zu vertreiben, gruͤnden koͤnnen?
Jſt etwa itzt Sparta geringer als die phrygiſche
Troja, und geht dieſe jener an Gluͤkſeligkeit vor?
Bin ich etwa frey, oder jung oder zur Wolluſt ge-
bildet? Kann ich etwa aus Stolz auf die Macht
meiner (in der Aſche liegenden) Vaterſtatt, oder
auf meine (umgebrachte) Freunde, es verſuchen,
an deiner Statt in deinem Hauſe zu herrſchen?
Sollte ich etwa Luſt haben deine Unfruchtbarkeit
hier zu erſetzen und Kinder zu gebaͤhren, mir zur
groͤßten Laft, und daß ſie dir kuͤnftig zu Selaven
dienten? Bilde ich mir etwa ein, daß die Griechen
des Hektors halber mich ſo ſehr lieben, daß ſie
meine Kinder, wenn du keine haſt, zu Koͤnigen die-
(*) Eurip.
Androm.
VI.
190-
202.
ſes Landes machen? u. ſ. w.‟. (*) Jedermann
fuͤhlt den Ton der Wahrheit, womit Andromache
hier ihre Unſchuld beweißt.

[Spaltenumbruch]
Bew

Wenn dieſer Ton der Wahrheit zugleich durch
den wuͤrklichen Ton der Stimme, durch die Stel-
lung und Gebehrdung des Redners unterſtuͤzt wird,
daß der Zuhoͤrer fuͤhlt, er rede aus innerſter Ueber-
zeugung, ſo wird ſein Beweis die volle Wuͤrkung
thun. So lange der Zuhoͤrer ohne Vorurtheil iſt,
wird man ihn ſehr geneigt finden, dem Beyfall zu
geben, der etwas auch ohne Beweis in dem Ton
der Wahrheit verſichert. Bemerken wir an dem
Redner eine beſcheidene Zuverſichtlichkeit in ſeine
eigene Ueberzeugung, und ein natuͤrliches einfaches
Weſen, womit er uns deſſen verſichert, ſo erſezt
unſer Herz, was dem Verſtand fehlt, und wir
glauben, ohne zu ſehen. Laͤßt aber der Redner das
geringſte merken, daß er unſern Beyfall erzwin-
gen will, ſo widerſteht die Reigung der Ueberzeugung.
Gar oft ſchadet der Redner ſeinem Beweis, wenn er
ſich bey klaren Sachen zu lange aufhaͤlt, um ſie noch
deutlicher zu machen. Die wahre Gruͤndlichkeit iſt
einfach und kurz. Gewiſſe Gruͤnde ſprechen durch
die Sache ſelbſt am lauteſten, und ihre Stimme wird
durch uͤbertriebenes Bemuͤhen des Redners ge-
ſchwaͤcht. Hieher gehoͤrt auch, was wir im
naͤchſten Artikel von den pathetiſchen Beweiſen
anmerken.

Durch die Art des Vortrages kann der Redner
einem Beweis ſehr auf helfen, oder ſchaden. Der
ſtaͤrkſte Beweis kann durch einen ſchlechten und
ſchwachen Vortrag ſeine Kraft verliehren. Das
klare kann durch die Ausſprach und den Ton dunkel,
das kurze, langweilig, und das lebhafte, ſchwach
werden. Vornehmlich hat der Redner genau zu
uͤberlegen, wo eigentlich in ſeiner Rede der Ort iſt,
da natuͤrlicher Weiſe verſchiedene vorgetragene
Gruͤnde ihre Wuͤrkung nun auf einmal thun ſollen.
Da muß er alle Kunſt anwenden ſie gut zu ver-
einigen, den Verſtand die Einbildungskraft und
das Herz des Zuhoͤrers auf einmal lebhaft anzu-
greifen.

Bey der Beſtaͤtigung des Satzes, wozu mehrer-
ley Beweiſe angefuͤhrt werden, kommt auch ofte
viel auf die Ordnung an, darin ſie einander fol-
gen. Die Frage iſt ofte unterſucht worden, ob die
ſtarken oder die ſchwaͤchern Gruͤnde zuerſt ſollen auf-
geſtellt werden. Quintilian rathet von den ſchwaͤ-
chern den Anfang zu machen. (†) Allein die Sache

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(†) Prout ratio cauſæ cujusque poſtulabit ordinabuntur, uno (ut ego cenſeo) excepto, ne a potentiſſimis ad læviſſima
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[159/0171] Bew Bew keit, der er faͤhig iſt, gegeben hat. Zu dem Ende muß er ſich unnachlaͤßig in den Verſuchen uͤben, alles deutlich zu ſehen, und das, was er ſelbſt ſo ſieht, mit der hoͤchſten Klarheit auszudruͤken. Eine wichtige Sache bey dem Beweiſen iſt auch der Ton, in welchem ſie vorgetragen werden. Man bemerkt bisweilen einen gewiſſen Ton der Wahr- heit und der Ueberzeugung von Seite des Redners, der uns ſanft, aber unwiderſtehlich, zum Beyfall noͤ- thiget, wenn wir auch ſonſt die Staͤrke des Bewei- ſes nicht einſehen, ja ſelbſt da, wo gar kein Be- weis angegeben wird. Denn ſo wie wir geneigt ſind, mit dem traurigen zu trauren und mit dem lachenden zu lachen, ſo fuͤhlen wir auch einen Hang demjenigen Beyfall zu geben, wovon wir andre uͤberzeuget ſehen. Es wird nicht uͤberfluͤßig ſeyn hier ein Beyſpiel anzufuͤhren, darin dieſer Ton der Wahrheit ſich klar bemerken laͤßt, da man ohne dem ihn nicht beſchreiben, ſondern nur an Bey- ſpielen merklich machen kann. Jn der Andromache des Euripides wird dieſe ungluͤkliche Prinzeßin von der Hermione beſchul- diget, daß ſie durch allerhand Kuͤnſte die Zuneigung des Neoptolemus gewonnen, und ihn ihr, als der rechtmaͤßigen Gemahlin und der Tochter des Me- nelaus entzogen habe. Andromache beweißt ihre Unſchuld in folgender Rede. „Sage mir doch, du junge, unerfahrne Koͤnigin, worauf ſollte ſich mein Vorſatz, dich aus dem recht- maͤßigen Ehebett zu vertreiben, gruͤnden koͤnnen? Jſt etwa itzt Sparta geringer als die phrygiſche Troja, und geht dieſe jener an Gluͤkſeligkeit vor? Bin ich etwa frey, oder jung oder zur Wolluſt ge- bildet? Kann ich etwa aus Stolz auf die Macht meiner (in der Aſche liegenden) Vaterſtatt, oder auf meine (umgebrachte) Freunde, es verſuchen, an deiner Statt in deinem Hauſe zu herrſchen? Sollte ich etwa Luſt haben deine Unfruchtbarkeit hier zu erſetzen und Kinder zu gebaͤhren, mir zur groͤßten Laft, und daß ſie dir kuͤnftig zu Selaven dienten? Bilde ich mir etwa ein, daß die Griechen des Hektors halber mich ſo ſehr lieben, daß ſie meine Kinder, wenn du keine haſt, zu Koͤnigen die- ſes Landes machen? u. ſ. w.‟. (*) Jedermann fuͤhlt den Ton der Wahrheit, womit Andromache hier ihre Unſchuld beweißt. (*) Eurip. Androm. VI. 190- 202. Wenn dieſer Ton der Wahrheit zugleich durch den wuͤrklichen Ton der Stimme, durch die Stel- lung und Gebehrdung des Redners unterſtuͤzt wird, daß der Zuhoͤrer fuͤhlt, er rede aus innerſter Ueber- zeugung, ſo wird ſein Beweis die volle Wuͤrkung thun. So lange der Zuhoͤrer ohne Vorurtheil iſt, wird man ihn ſehr geneigt finden, dem Beyfall zu geben, der etwas auch ohne Beweis in dem Ton der Wahrheit verſichert. Bemerken wir an dem Redner eine beſcheidene Zuverſichtlichkeit in ſeine eigene Ueberzeugung, und ein natuͤrliches einfaches Weſen, womit er uns deſſen verſichert, ſo erſezt unſer Herz, was dem Verſtand fehlt, und wir glauben, ohne zu ſehen. Laͤßt aber der Redner das geringſte merken, daß er unſern Beyfall erzwin- gen will, ſo widerſteht die Reigung der Ueberzeugung. Gar oft ſchadet der Redner ſeinem Beweis, wenn er ſich bey klaren Sachen zu lange aufhaͤlt, um ſie noch deutlicher zu machen. Die wahre Gruͤndlichkeit iſt einfach und kurz. Gewiſſe Gruͤnde ſprechen durch die Sache ſelbſt am lauteſten, und ihre Stimme wird durch uͤbertriebenes Bemuͤhen des Redners ge- ſchwaͤcht. Hieher gehoͤrt auch, was wir im naͤchſten Artikel von den pathetiſchen Beweiſen anmerken. Durch die Art des Vortrages kann der Redner einem Beweis ſehr auf helfen, oder ſchaden. Der ſtaͤrkſte Beweis kann durch einen ſchlechten und ſchwachen Vortrag ſeine Kraft verliehren. Das klare kann durch die Ausſprach und den Ton dunkel, das kurze, langweilig, und das lebhafte, ſchwach werden. Vornehmlich hat der Redner genau zu uͤberlegen, wo eigentlich in ſeiner Rede der Ort iſt, da natuͤrlicher Weiſe verſchiedene vorgetragene Gruͤnde ihre Wuͤrkung nun auf einmal thun ſollen. Da muß er alle Kunſt anwenden ſie gut zu ver- einigen, den Verſtand die Einbildungskraft und das Herz des Zuhoͤrers auf einmal lebhaft anzu- greifen. Bey der Beſtaͤtigung des Satzes, wozu mehrer- ley Beweiſe angefuͤhrt werden, kommt auch ofte viel auf die Ordnung an, darin ſie einander fol- gen. Die Frage iſt ofte unterſucht worden, ob die ſtarken oder die ſchwaͤchern Gruͤnde zuerſt ſollen auf- geſtellt werden. Quintilian rathet von den ſchwaͤ- chern den Anfang zu machen. (†) Allein die Sache ſcheinet (†) Prout ratio cauſæ cujusque poſtulabit ordinabuntur, uno (ut ego cenſeo) excepto, ne a potentiſſimis ad læviſſima decreſcat oratio.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/171>, abgerufen am 23.11.2024.