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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Cla
an fürtreflichen Aussichten, weit fruchtbarer, und
an Vergnügungen weit reicher ist, als die gröbere,
blos auf die äussern Sinnen würkende Natur. Wer
einmal mit dieser unsichtbaren Welt bekannt worden,
der führt alles, was zur feinesten Ergötzlichkeit, zur
angenehmsten Unterhaltung nöthig ist, beständig mit
sich, und entfaltet in dem gesellschaftlichen Leben
mancherley Scenen dieser unsichtbaren Natur; er
macht die, welche mit ihm umgehen, aufmerksam
darauf, und so breitet sich ein feiner Geschmak an
Gegenständen des Verstandes und des Witzes nach
und nach in der menschlichen Gesellschaft aus. Man
lernt Dinge hochschätzen, die in einem rohern Zu-
stand, ganz unbemerkt geblieben sind; man sieht
diejenigen, welche die neuen Quellen dieses feinen
Vergnügens eröfnet haben, als wolthätige und für
die Gesellschaft wichtige Männer an. Durch diese
Ehre ermuntert verdoppeln sie ihre Kräfte, drin-
gen immer tiefer in die Beobachtung der sittlichen
Welt hinein, und wenden die äusserste Sorgfalt an,
alles was sie bemerkt haben, andern auf die voll-
kommenste Art mitzutheilen. So breitet sich Ver-
stand und Geschmak nach und nach über die feinen
Gesellschaften aus. Alsdenn erscheinen die Schrift-
steller, die auch für die Nachwelt claßisch bleiben,
weil sie aus der unveränderlichen Quelle alles Gu-
ten und Schönen, der Natur, geschöpft haben.

Es scheinet, daß der Mensch ein gewisses Maas
von Verstandeskräften habe, in die Beschaffenheit
sittlicher Gegenstände einzudringen, welches er nicht
überschreiten kann, und daß die besten Köpfe jeder
Nation, die sich die Cultur des Verstandes ernstlich
hat angelegen seyn lassen, den höchsten Grad dieses
Maasses erreichen. Daher geschieht es denn, daß
die Schriften dieser Männer, in welcher Nation und
in welchem Jahrhundert sie gelebt haben mögen, je-
der andern Nation, die ohngefehr auch den höchsten
Grad der Vernunft erreicht hat, nothwendig gefal-
len müssen. Diese sind alsdenn die wahren claßischen
Schriftsteller für alle Völker.

Der beste Schriftsteller einer Nation aber, die
jenen hohen Grad der Cultur noch nicht erreicht hat,
kann seiner Nation sehr gefallen, kann einen allge-
meinen Ruhm bey seinen Zeitverwandten haben,
ohne in die Zahl der claßischen Schriftsteller zu ge-
hören. Nicht die besten jeder Nation sind claßische
Schriftsteller, sondern die besten der Nation, welche
die Cultur der Vernunft auf das höchste gebracht hat.

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Cla

Auch nicht die Cultur des Verstandes, die nur
auf das abstrakte Denken geht, die alle Begriffe
bis auf das einfacheste auflöset, bildet solche Schrist-
steller; denn unter allen Scholastikern flndet sich kei-
ner. Also können die strengen Wissenschaften un-
ter einem Volke auf einen hohen Grad der Vollkom-
menheit gestiegen seyn, ohne daß sie einen einzigen
claßischen Schriftsteller hat. Der claßische Verstand
geht nicht auf das Abstrakte; er setzt das Mannig-
faltige in einer Sache nicht aus einander, sondern
weiß es in seiner Mannigfaltigkeit einfach zu sagen,
und es dem anschauenden Erkenntniß klar darzustel-
len. Er macht mehr feine, ein durchdringendes
Aug erfodernde Beobachtungen, als richtige auf
die Entwiklung der Begriffe gegründete Schlüsse.
Der abstrakte Denker sagt mit viel Worten wenig,
weil er blos die höchste Gewißheit zum Augenmerk
hat: der claßische Denker sagt in wenig Worten
viel, und giebt uns durch einen kurzen und leicht zu
fassenden Spruch, das Resultat eines langen und
scharfen Nachdenkens.

Der scharfe Beobachtungsgeist, der die Haupt-
eigenschaft eines claßischen Kopfs ist, entwikelt sich
nicht durch das Studium der abstrakten Wissenschaf-
ten; wird nicht durch die Arbeit im Cabinet aus-
gebildet, sondern in der Welt, unter Geschäften,
und vornehmlich durch den Umgang mit Menschen,
die denselben schon besitzen. Nicht die Schulen, son-
dern die Gesellschaft, da wo sie sich am meisten mit
grossen Gegenständen beschäftiget, wo die schnelle
Anstrengung der Verstandeskräfte nothwendig wird,
wo man vieles auf einmal übersehen, und sich an-
gewöhnen muß, auch ohne methodisches Nachden-
ken gründlich zu seyn, geben dem Geist die Stärke,
die männliche Kühnheit und die Sicherheit, welche
zum claßischen Denken nöthig ist. Doch kann ein
glükliches Genie, durch den blossen lebendigen oder
todten Umgang mit wahrhaftig claßischen Köpfen,
sich selbst zum claßischen Schriftsteller bilden.

Wenn diese Anmerkungen ihre Richtigkeit haben,
so können daher die Gründe angegeben werden, war-
um ohne irgend einen Mangel an Genie, bis itzt
noch so wenig deutsche Schriftsteller sich hervorge-
than haben, von denen man vermuthen kann, daß
sie, sowol bey der deutschen Nachwelt, als auch bey
andern Nationen, als claßische Schriftsteller werden
angesehen werden.

Daß

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Cla
an fuͤrtreflichen Ausſichten, weit fruchtbarer, und
an Vergnuͤgungen weit reicher iſt, als die groͤbere,
blos auf die aͤuſſern Sinnen wuͤrkende Natur. Wer
einmal mit dieſer unſichtbaren Welt bekannt worden,
der fuͤhrt alles, was zur feineſten Ergoͤtzlichkeit, zur
angenehmſten Unterhaltung noͤthig iſt, beſtaͤndig mit
ſich, und entfaltet in dem geſellſchaftlichen Leben
mancherley Scenen dieſer unſichtbaren Natur; er
macht die, welche mit ihm umgehen, aufmerkſam
darauf, und ſo breitet ſich ein feiner Geſchmak an
Gegenſtaͤnden des Verſtandes und des Witzes nach
und nach in der menſchlichen Geſellſchaft aus. Man
lernt Dinge hochſchaͤtzen, die in einem rohern Zu-
ſtand, ganz unbemerkt geblieben ſind; man ſieht
diejenigen, welche die neuen Quellen dieſes feinen
Vergnuͤgens eroͤfnet haben, als wolthaͤtige und fuͤr
die Geſellſchaft wichtige Maͤnner an. Durch dieſe
Ehre ermuntert verdoppeln ſie ihre Kraͤfte, drin-
gen immer tiefer in die Beobachtung der ſittlichen
Welt hinein, und wenden die aͤuſſerſte Sorgfalt an,
alles was ſie bemerkt haben, andern auf die voll-
kommenſte Art mitzutheilen. So breitet ſich Ver-
ſtand und Geſchmak nach und nach uͤber die feinen
Geſellſchaften aus. Alsdenn erſcheinen die Schrift-
ſteller, die auch fuͤr die Nachwelt claßiſch bleiben,
weil ſie aus der unveraͤnderlichen Quelle alles Gu-
ten und Schoͤnen, der Natur, geſchoͤpft haben.

Es ſcheinet, daß der Menſch ein gewiſſes Maas
von Verſtandeskraͤften habe, in die Beſchaffenheit
ſittlicher Gegenſtaͤnde einzudringen, welches er nicht
uͤberſchreiten kann, und daß die beſten Koͤpfe jeder
Nation, die ſich die Cultur des Verſtandes ernſtlich
hat angelegen ſeyn laſſen, den hoͤchſten Grad dieſes
Maaſſes erreichen. Daher geſchieht es denn, daß
die Schriften dieſer Maͤnner, in welcher Nation und
in welchem Jahrhundert ſie gelebt haben moͤgen, je-
der andern Nation, die ohngefehr auch den hoͤchſten
Grad der Vernunft erreicht hat, nothwendig gefal-
len muͤſſen. Dieſe ſind alsdenn die wahren claßiſchen
Schriftſteller fuͤr alle Voͤlker.

Der beſte Schriftſteller einer Nation aber, die
jenen hohen Grad der Cultur noch nicht erreicht hat,
kann ſeiner Nation ſehr gefallen, kann einen allge-
meinen Ruhm bey ſeinen Zeitverwandten haben,
ohne in die Zahl der claßiſchen Schriftſteller zu ge-
hoͤren. Nicht die beſten jeder Nation ſind claßiſche
Schriftſteller, ſondern die beſten der Nation, welche
die Cultur der Vernunft auf das hoͤchſte gebracht hat.

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Cla

Auch nicht die Cultur des Verſtandes, die nur
auf das abſtrakte Denken geht, die alle Begriffe
bis auf das einfacheſte aufloͤſet, bildet ſolche Schriſt-
ſteller; denn unter allen Scholaſtikern flndet ſich kei-
ner. Alſo koͤnnen die ſtrengen Wiſſenſchaften un-
ter einem Volke auf einen hohen Grad der Vollkom-
menheit geſtiegen ſeyn, ohne daß ſie einen einzigen
claßiſchen Schriftſteller hat. Der claßiſche Verſtand
geht nicht auf das Abſtrakte; er ſetzt das Mannig-
faltige in einer Sache nicht aus einander, ſondern
weiß es in ſeiner Mannigfaltigkeit einfach zu ſagen,
und es dem anſchauenden Erkenntniß klar darzuſtel-
len. Er macht mehr feine, ein durchdringendes
Aug erfodernde Beobachtungen, als richtige auf
die Entwiklung der Begriffe gegruͤndete Schluͤſſe.
Der abſtrakte Denker ſagt mit viel Worten wenig,
weil er blos die hoͤchſte Gewißheit zum Augenmerk
hat: der claßiſche Denker ſagt in wenig Worten
viel, und giebt uns durch einen kurzen und leicht zu
faſſenden Spruch, das Reſultat eines langen und
ſcharfen Nachdenkens.

Der ſcharfe Beobachtungsgeiſt, der die Haupt-
eigenſchaft eines claßiſchen Kopfs iſt, entwikelt ſich
nicht durch das Studium der abſtrakten Wiſſenſchaf-
ten; wird nicht durch die Arbeit im Cabinet aus-
gebildet, ſondern in der Welt, unter Geſchaͤften,
und vornehmlich durch den Umgang mit Menſchen,
die denſelben ſchon beſitzen. Nicht die Schulen, ſon-
dern die Geſellſchaft, da wo ſie ſich am meiſten mit
groſſen Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget, wo die ſchnelle
Anſtrengung der Verſtandeskraͤfte nothwendig wird,
wo man vieles auf einmal uͤberſehen, und ſich an-
gewoͤhnen muß, auch ohne methodiſches Nachden-
ken gruͤndlich zu ſeyn, geben dem Geiſt die Staͤrke,
die maͤnnliche Kuͤhnheit und die Sicherheit, welche
zum claßiſchen Denken noͤthig iſt. Doch kann ein
gluͤkliches Genie, durch den bloſſen lebendigen oder
todten Umgang mit wahrhaftig claßiſchen Koͤpfen,
ſich ſelbſt zum claßiſchen Schriftſteller bilden.

Wenn dieſe Anmerkungen ihre Richtigkeit haben,
ſo koͤnnen daher die Gruͤnde angegeben werden, war-
um ohne irgend einen Mangel an Genie, bis itzt
noch ſo wenig deutſche Schriftſteller ſich hervorge-
than haben, von denen man vermuthen kann, daß
ſie, ſowol bey der deutſchen Nachwelt, als auch bey
andern Nationen, als claßiſche Schriftſteller werden
angeſehen werden.

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[208/0220] Cla Cla an fuͤrtreflichen Ausſichten, weit fruchtbarer, und an Vergnuͤgungen weit reicher iſt, als die groͤbere, blos auf die aͤuſſern Sinnen wuͤrkende Natur. Wer einmal mit dieſer unſichtbaren Welt bekannt worden, der fuͤhrt alles, was zur feineſten Ergoͤtzlichkeit, zur angenehmſten Unterhaltung noͤthig iſt, beſtaͤndig mit ſich, und entfaltet in dem geſellſchaftlichen Leben mancherley Scenen dieſer unſichtbaren Natur; er macht die, welche mit ihm umgehen, aufmerkſam darauf, und ſo breitet ſich ein feiner Geſchmak an Gegenſtaͤnden des Verſtandes und des Witzes nach und nach in der menſchlichen Geſellſchaft aus. Man lernt Dinge hochſchaͤtzen, die in einem rohern Zu- ſtand, ganz unbemerkt geblieben ſind; man ſieht diejenigen, welche die neuen Quellen dieſes feinen Vergnuͤgens eroͤfnet haben, als wolthaͤtige und fuͤr die Geſellſchaft wichtige Maͤnner an. Durch dieſe Ehre ermuntert verdoppeln ſie ihre Kraͤfte, drin- gen immer tiefer in die Beobachtung der ſittlichen Welt hinein, und wenden die aͤuſſerſte Sorgfalt an, alles was ſie bemerkt haben, andern auf die voll- kommenſte Art mitzutheilen. So breitet ſich Ver- ſtand und Geſchmak nach und nach uͤber die feinen Geſellſchaften aus. Alsdenn erſcheinen die Schrift- ſteller, die auch fuͤr die Nachwelt claßiſch bleiben, weil ſie aus der unveraͤnderlichen Quelle alles Gu- ten und Schoͤnen, der Natur, geſchoͤpft haben. Es ſcheinet, daß der Menſch ein gewiſſes Maas von Verſtandeskraͤften habe, in die Beſchaffenheit ſittlicher Gegenſtaͤnde einzudringen, welches er nicht uͤberſchreiten kann, und daß die beſten Koͤpfe jeder Nation, die ſich die Cultur des Verſtandes ernſtlich hat angelegen ſeyn laſſen, den hoͤchſten Grad dieſes Maaſſes erreichen. Daher geſchieht es denn, daß die Schriften dieſer Maͤnner, in welcher Nation und in welchem Jahrhundert ſie gelebt haben moͤgen, je- der andern Nation, die ohngefehr auch den hoͤchſten Grad der Vernunft erreicht hat, nothwendig gefal- len muͤſſen. Dieſe ſind alsdenn die wahren claßiſchen Schriftſteller fuͤr alle Voͤlker. Der beſte Schriftſteller einer Nation aber, die jenen hohen Grad der Cultur noch nicht erreicht hat, kann ſeiner Nation ſehr gefallen, kann einen allge- meinen Ruhm bey ſeinen Zeitverwandten haben, ohne in die Zahl der claßiſchen Schriftſteller zu ge- hoͤren. Nicht die beſten jeder Nation ſind claßiſche Schriftſteller, ſondern die beſten der Nation, welche die Cultur der Vernunft auf das hoͤchſte gebracht hat. Auch nicht die Cultur des Verſtandes, die nur auf das abſtrakte Denken geht, die alle Begriffe bis auf das einfacheſte aufloͤſet, bildet ſolche Schriſt- ſteller; denn unter allen Scholaſtikern flndet ſich kei- ner. Alſo koͤnnen die ſtrengen Wiſſenſchaften un- ter einem Volke auf einen hohen Grad der Vollkom- menheit geſtiegen ſeyn, ohne daß ſie einen einzigen claßiſchen Schriftſteller hat. Der claßiſche Verſtand geht nicht auf das Abſtrakte; er ſetzt das Mannig- faltige in einer Sache nicht aus einander, ſondern weiß es in ſeiner Mannigfaltigkeit einfach zu ſagen, und es dem anſchauenden Erkenntniß klar darzuſtel- len. Er macht mehr feine, ein durchdringendes Aug erfodernde Beobachtungen, als richtige auf die Entwiklung der Begriffe gegruͤndete Schluͤſſe. Der abſtrakte Denker ſagt mit viel Worten wenig, weil er blos die hoͤchſte Gewißheit zum Augenmerk hat: der claßiſche Denker ſagt in wenig Worten viel, und giebt uns durch einen kurzen und leicht zu faſſenden Spruch, das Reſultat eines langen und ſcharfen Nachdenkens. Der ſcharfe Beobachtungsgeiſt, der die Haupt- eigenſchaft eines claßiſchen Kopfs iſt, entwikelt ſich nicht durch das Studium der abſtrakten Wiſſenſchaf- ten; wird nicht durch die Arbeit im Cabinet aus- gebildet, ſondern in der Welt, unter Geſchaͤften, und vornehmlich durch den Umgang mit Menſchen, die denſelben ſchon beſitzen. Nicht die Schulen, ſon- dern die Geſellſchaft, da wo ſie ſich am meiſten mit groſſen Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget, wo die ſchnelle Anſtrengung der Verſtandeskraͤfte nothwendig wird, wo man vieles auf einmal uͤberſehen, und ſich an- gewoͤhnen muß, auch ohne methodiſches Nachden- ken gruͤndlich zu ſeyn, geben dem Geiſt die Staͤrke, die maͤnnliche Kuͤhnheit und die Sicherheit, welche zum claßiſchen Denken noͤthig iſt. Doch kann ein gluͤkliches Genie, durch den bloſſen lebendigen oder todten Umgang mit wahrhaftig claßiſchen Koͤpfen, ſich ſelbſt zum claßiſchen Schriftſteller bilden. Wenn dieſe Anmerkungen ihre Richtigkeit haben, ſo koͤnnen daher die Gruͤnde angegeben werden, war- um ohne irgend einen Mangel an Genie, bis itzt noch ſo wenig deutſche Schriftſteller ſich hervorge- than haben, von denen man vermuthen kann, daß ſie, ſowol bey der deutſchen Nachwelt, als auch bey andern Nationen, als claßiſche Schriftſteller werden angeſehen werden. Daß

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/220>, abgerufen am 29.04.2024.