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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Com
ausgedrukt, so kann nur der mit Fortgang für die
comische Bühne arbeiten, der ausser den Talenten
des Dichters, auch die Eigenschaften eines wahren
praktischen Philosophen hat. Hier gilt es vorzüg-
lich was Horaz sagt:

-- Neque enim concludere versum
Dixeris esse satis.
--

Denn blos poetische Talente sind zu solcher Arbeit
von gar geringer Hülfe. Wer nicht das ganze sitt-
liche Leben des Menschen mit Leichtigkeit übersieht,
wessen Blike nicht tief in die menschliche Natur hin-
eingedrungen, wer nicht die verborgensten Winkel
des Herzens erforschet hat, wer nicht wahre Weis-
heit, Tugend und Rechtschaffenheit in allen Gestal-
ten und Formen kennt, und nicht alle psycholo-
gischen und moralischen Ursachen des Unverstan-
des, der Unsittlichkeit und jeder Thorheit ergründet
hat, der kann kein vollkommener comischer Dichter
seyn.

Darum wundre man sich nicht über die Selten-
heit der zu dieser Gattung erfoderlichen Talente.
Nur die ersten Köpfe einer Nation haben Stärke
genug, dieses Feld zu bearbeiten. Noch kommt es
hier nicht auf das Genie allein an; denn ohne grosse
Erfahrung ist es unzulänglich, den Foderungen der
comischen Bühne genug zu thun. Die hiezu nöthige
Kenntniß kann durch kein Studium im Cabinet er-
langt werden: man muß, um sie zu bekommen,
nothwendig die Menschen in ihren mannigfaltigen
Verhältnissen und in den mancherley Geschäften des
Lebens gesehen haben, und auch selbst mit in diesel-
ben verwikelt gewesen seyn. Wem dieses mangelt,
der kann seine ganze Lebenszeit alle Regeln der comi-
schen Schaubühne studirt haben, ohne eine wahr-
haftig gute Scene hervorzubringen im Stande zu
seyn. Die Regeln sind nur für den gut, der die
nöthigen Materien zu einer regelmäßigen Bearbei-
tung vorräthig hat.

Es wäre nach dem, was bereits hier und da
in diesem Artikel über die Natur der Comödie ange-
merkt worden, sehr überflüßig, noch besonders von
ihrem Nutzen zu sprechen, da aus dem angeführten
schon hinlänglich erhellet, daß keine andre Dichtungs-
art ihr den Vorzug der Wichtigkeit streitig machen
könne. Daß die comische Bühne nirgend, und in
Deutschland am wenigsten, das ist, was sie seyn
sollte, ist blos der Nachläßigkeit derer zuzuschreiben,
die das Schiksal der Künste in ihren Händen haben,
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Com
und die Wichtigkeit dieser herrlichen Erfindung, die
Menschen zugleich zu belustigen und zu unterrichten,
nicht | einsehen. Dieses benihmt aber der Wichtig-
keit der Sache selbst so wenig, als der schlechte Zu-
stand der öffentlichen Lehrämter, wodurch die Bür-
ger des Staats zur wahren Moralität, und die Ju-
gend zur Zucht, Vernunft und Sitten sollten ange-
führt werden, an dem die unbegreifliche Nachläs-
sigkeit derer, die die Länder regieren, Schuld hat, die-
sen Veranstaltungen ihre Würde benimmt. Man
sieht die Bühne als eine Lustbarkeit an. Da sie es
unstreitig ist, und, ohne von ihrer belustigenden Kraft
das geringste zu verlieren, einen höchst wichtigen
Einfluß zur Ausbreitung der Vernunft und Recht-
schaffenheit, zur Vertilgung der Thorheit und zur
Heilung der Verderbniß haben kann; so ist es eine
eben so grosse Barbarey, sich dieser Vortheile nicht
zu bedienen, als es seyn würde, ein Kriegsheer zu
blossen Lustbarkeiten zu halten, und ihm deswegen
blos hölzerne Waffen zu geben.

Man hat keine zuverläßige Nachrichten von der
Zeit und dem Orte der Erfindung des comischen
Schauspiels. Die Athenienser eigneten sich dieselbe
zu. Jndessen hat Aristoteles schon angemerkt, daß
man den eigentlichen Anfang und Fortgang dessel-
ben nicht so sicher wisse, als den, welchen die Tra-
gödie gehabt hat. Eben dieser Philosoph berichtet,
daß Epicharmus und Phormys, beyde aus Sicilien,
zuerst eine bestimmte Handlung in die Comödie ein-
geführt haben. Jn Athen aber soll Crates, der nur
wenig Jahre vor dem Aristophanes gelebt hat, die
förmliche Comödie, die eine Handlung hat, von
jenen nachgeahmt haben. Vor ihnen mag sie also
irgend eine Lustbarkrit gewesen seyn, wie die heuti-
gen Fastnachts- oder Aschermittwochs-Lustbarkeiten:
wie denn fast alle freye Völker zu allen Zeiten etwas
dergleichen gehabt haben. Aus einer solchen Lust-
barkeit, wobey vielleicht, wie jetzo noch an verschiede-
nen Orten geschieht, von einigen zum Possenreissen auf-
gelegten Personen, öffentlich allerhand die Vorbey-
gehenden antastende Reden geführt worden, kann
die Comödie ihren Anfang genommen haben. Die
älteste Form derselben in Athen scheinet noch nahe
an ein solches Possenspiel zu gränzen. Aristopha-
nes
wirft seinen Vorgängern und selbst seinen Zeit-
verwandten vor, daß sie Gaukeleyen machen, um
Kinder zum Lachen zu bringen, und daß ihre Stüke
meist aus Possen bestehen. Wir werden bald einen

Um-

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Com
ausgedrukt, ſo kann nur der mit Fortgang fuͤr die
comiſche Buͤhne arbeiten, der auſſer den Talenten
des Dichters, auch die Eigenſchaften eines wahren
praktiſchen Philoſophen hat. Hier gilt es vorzuͤg-
lich was Horaz ſagt:

Neque enim concludere verſum
Dixeris eſſe ſatis.

Denn blos poetiſche Talente ſind zu ſolcher Arbeit
von gar geringer Huͤlfe. Wer nicht das ganze ſitt-
liche Leben des Menſchen mit Leichtigkeit uͤberſieht,
weſſen Blike nicht tief in die menſchliche Natur hin-
eingedrungen, wer nicht die verborgenſten Winkel
des Herzens erforſchet hat, wer nicht wahre Weis-
heit, Tugend und Rechtſchaffenheit in allen Geſtal-
ten und Formen kennt, und nicht alle pſycholo-
giſchen und moraliſchen Urſachen des Unverſtan-
des, der Unſittlichkeit und jeder Thorheit ergruͤndet
hat, der kann kein vollkommener comiſcher Dichter
ſeyn.

Darum wundre man ſich nicht uͤber die Selten-
heit der zu dieſer Gattung erfoderlichen Talente.
Nur die erſten Koͤpfe einer Nation haben Staͤrke
genug, dieſes Feld zu bearbeiten. Noch kommt es
hier nicht auf das Genie allein an; denn ohne groſſe
Erfahrung iſt es unzulaͤnglich, den Foderungen der
comiſchen Buͤhne genug zu thun. Die hiezu noͤthige
Kenntniß kann durch kein Studium im Cabinet er-
langt werden: man muß, um ſie zu bekommen,
nothwendig die Menſchen in ihren mannigfaltigen
Verhaͤltniſſen und in den mancherley Geſchaͤften des
Lebens geſehen haben, und auch ſelbſt mit in dieſel-
ben verwikelt geweſen ſeyn. Wem dieſes mangelt,
der kann ſeine ganze Lebenszeit alle Regeln der comi-
ſchen Schaubuͤhne ſtudirt haben, ohne eine wahr-
haftig gute Scene hervorzubringen im Stande zu
ſeyn. Die Regeln ſind nur fuͤr den gut, der die
noͤthigen Materien zu einer regelmaͤßigen Bearbei-
tung vorraͤthig hat.

Es waͤre nach dem, was bereits hier und da
in dieſem Artikel uͤber die Natur der Comoͤdie ange-
merkt worden, ſehr uͤberfluͤßig, noch beſonders von
ihrem Nutzen zu ſprechen, da aus dem angefuͤhrten
ſchon hinlaͤnglich erhellet, daß keine andre Dichtungs-
art ihr den Vorzug der Wichtigkeit ſtreitig machen
koͤnne. Daß die comiſche Buͤhne nirgend, und in
Deutſchland am wenigſten, das iſt, was ſie ſeyn
ſollte, iſt blos der Nachlaͤßigkeit derer zuzuſchreiben,
die das Schikſal der Kuͤnſte in ihren Haͤnden haben,
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und die Wichtigkeit dieſer herrlichen Erfindung, die
Menſchen zugleich zu beluſtigen und zu unterrichten,
nicht | einſehen. Dieſes benihmt aber der Wichtig-
keit der Sache ſelbſt ſo wenig, als der ſchlechte Zu-
ſtand der oͤffentlichen Lehraͤmter, wodurch die Buͤr-
ger des Staats zur wahren Moralitaͤt, und die Ju-
gend zur Zucht, Vernunft und Sitten ſollten ange-
fuͤhrt werden, an dem die unbegreifliche Nachlaͤſ-
ſigkeit derer, die die Laͤnder regieren, Schuld hat, die-
ſen Veranſtaltungen ihre Wuͤrde benimmt. Man
ſieht die Buͤhne als eine Luſtbarkeit an. Da ſie es
unſtreitig iſt, und, ohne von ihrer beluſtigenden Kraft
das geringſte zu verlieren, einen hoͤchſt wichtigen
Einfluß zur Ausbreitung der Vernunft und Recht-
ſchaffenheit, zur Vertilgung der Thorheit und zur
Heilung der Verderbniß haben kann; ſo iſt es eine
eben ſo groſſe Barbarey, ſich dieſer Vortheile nicht
zu bedienen, als es ſeyn wuͤrde, ein Kriegsheer zu
bloſſen Luſtbarkeiten zu halten, und ihm deswegen
blos hoͤlzerne Waffen zu geben.

Man hat keine zuverlaͤßige Nachrichten von der
Zeit und dem Orte der Erfindung des comiſchen
Schauſpiels. Die Athenienſer eigneten ſich dieſelbe
zu. Jndeſſen hat Ariſtoteles ſchon angemerkt, daß
man den eigentlichen Anfang und Fortgang deſſel-
ben nicht ſo ſicher wiſſe, als den, welchen die Tra-
goͤdie gehabt hat. Eben dieſer Philoſoph berichtet,
daß Epicharmus und Phormys, beyde aus Sicilien,
zuerſt eine beſtimmte Handlung in die Comoͤdie ein-
gefuͤhrt haben. Jn Athen aber ſoll Crates, der nur
wenig Jahre vor dem Ariſtophanes gelebt hat, die
foͤrmliche Comoͤdie, die eine Handlung hat, von
jenen nachgeahmt haben. Vor ihnen mag ſie alſo
irgend eine Luſtbarkrit geweſen ſeyn, wie die heuti-
gen Faſtnachts- oder Aſchermittwochs-Luſtbarkeiten:
wie denn faſt alle freye Voͤlker zu allen Zeiten etwas
dergleichen gehabt haben. Aus einer ſolchen Luſt-
barkeit, wobey vielleicht, wie jetzo noch an verſchiede-
nen Orten geſchieht, von einigen zum Poſſenreiſſen auf-
gelegten Perſonen, oͤffentlich allerhand die Vorbey-
gehenden antaſtende Reden gefuͤhrt worden, kann
die Comoͤdie ihren Anfang genommen haben. Die
aͤlteſte Form derſelben in Athen ſcheinet noch nahe
an ein ſolches Poſſenſpiel zu graͤnzen. Ariſtopha-
nes
wirft ſeinen Vorgaͤngern und ſelbſt ſeinen Zeit-
verwandten vor, daß ſie Gaukeleyen machen, um
Kinder zum Lachen zu bringen, und daß ihre Stuͤke
meiſt aus Poſſen beſtehen. Wir werden bald einen

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[220/0232] Com Com ausgedrukt, ſo kann nur der mit Fortgang fuͤr die comiſche Buͤhne arbeiten, der auſſer den Talenten des Dichters, auch die Eigenſchaften eines wahren praktiſchen Philoſophen hat. Hier gilt es vorzuͤg- lich was Horaz ſagt: — Neque enim concludere verſum Dixeris eſſe ſatis. — Denn blos poetiſche Talente ſind zu ſolcher Arbeit von gar geringer Huͤlfe. Wer nicht das ganze ſitt- liche Leben des Menſchen mit Leichtigkeit uͤberſieht, weſſen Blike nicht tief in die menſchliche Natur hin- eingedrungen, wer nicht die verborgenſten Winkel des Herzens erforſchet hat, wer nicht wahre Weis- heit, Tugend und Rechtſchaffenheit in allen Geſtal- ten und Formen kennt, und nicht alle pſycholo- giſchen und moraliſchen Urſachen des Unverſtan- des, der Unſittlichkeit und jeder Thorheit ergruͤndet hat, der kann kein vollkommener comiſcher Dichter ſeyn. Darum wundre man ſich nicht uͤber die Selten- heit der zu dieſer Gattung erfoderlichen Talente. Nur die erſten Koͤpfe einer Nation haben Staͤrke genug, dieſes Feld zu bearbeiten. Noch kommt es hier nicht auf das Genie allein an; denn ohne groſſe Erfahrung iſt es unzulaͤnglich, den Foderungen der comiſchen Buͤhne genug zu thun. Die hiezu noͤthige Kenntniß kann durch kein Studium im Cabinet er- langt werden: man muß, um ſie zu bekommen, nothwendig die Menſchen in ihren mannigfaltigen Verhaͤltniſſen und in den mancherley Geſchaͤften des Lebens geſehen haben, und auch ſelbſt mit in dieſel- ben verwikelt geweſen ſeyn. Wem dieſes mangelt, der kann ſeine ganze Lebenszeit alle Regeln der comi- ſchen Schaubuͤhne ſtudirt haben, ohne eine wahr- haftig gute Scene hervorzubringen im Stande zu ſeyn. Die Regeln ſind nur fuͤr den gut, der die noͤthigen Materien zu einer regelmaͤßigen Bearbei- tung vorraͤthig hat. Es waͤre nach dem, was bereits hier und da in dieſem Artikel uͤber die Natur der Comoͤdie ange- merkt worden, ſehr uͤberfluͤßig, noch beſonders von ihrem Nutzen zu ſprechen, da aus dem angefuͤhrten ſchon hinlaͤnglich erhellet, daß keine andre Dichtungs- art ihr den Vorzug der Wichtigkeit ſtreitig machen koͤnne. Daß die comiſche Buͤhne nirgend, und in Deutſchland am wenigſten, das iſt, was ſie ſeyn ſollte, iſt blos der Nachlaͤßigkeit derer zuzuſchreiben, die das Schikſal der Kuͤnſte in ihren Haͤnden haben, und die Wichtigkeit dieſer herrlichen Erfindung, die Menſchen zugleich zu beluſtigen und zu unterrichten, nicht | einſehen. Dieſes benihmt aber der Wichtig- keit der Sache ſelbſt ſo wenig, als der ſchlechte Zu- ſtand der oͤffentlichen Lehraͤmter, wodurch die Buͤr- ger des Staats zur wahren Moralitaͤt, und die Ju- gend zur Zucht, Vernunft und Sitten ſollten ange- fuͤhrt werden, an dem die unbegreifliche Nachlaͤſ- ſigkeit derer, die die Laͤnder regieren, Schuld hat, die- ſen Veranſtaltungen ihre Wuͤrde benimmt. Man ſieht die Buͤhne als eine Luſtbarkeit an. Da ſie es unſtreitig iſt, und, ohne von ihrer beluſtigenden Kraft das geringſte zu verlieren, einen hoͤchſt wichtigen Einfluß zur Ausbreitung der Vernunft und Recht- ſchaffenheit, zur Vertilgung der Thorheit und zur Heilung der Verderbniß haben kann; ſo iſt es eine eben ſo groſſe Barbarey, ſich dieſer Vortheile nicht zu bedienen, als es ſeyn wuͤrde, ein Kriegsheer zu bloſſen Luſtbarkeiten zu halten, und ihm deswegen blos hoͤlzerne Waffen zu geben. Man hat keine zuverlaͤßige Nachrichten von der Zeit und dem Orte der Erfindung des comiſchen Schauſpiels. Die Athenienſer eigneten ſich dieſelbe zu. Jndeſſen hat Ariſtoteles ſchon angemerkt, daß man den eigentlichen Anfang und Fortgang deſſel- ben nicht ſo ſicher wiſſe, als den, welchen die Tra- goͤdie gehabt hat. Eben dieſer Philoſoph berichtet, daß Epicharmus und Phormys, beyde aus Sicilien, zuerſt eine beſtimmte Handlung in die Comoͤdie ein- gefuͤhrt haben. Jn Athen aber ſoll Crates, der nur wenig Jahre vor dem Ariſtophanes gelebt hat, die foͤrmliche Comoͤdie, die eine Handlung hat, von jenen nachgeahmt haben. Vor ihnen mag ſie alſo irgend eine Luſtbarkrit geweſen ſeyn, wie die heuti- gen Faſtnachts- oder Aſchermittwochs-Luſtbarkeiten: wie denn faſt alle freye Voͤlker zu allen Zeiten etwas dergleichen gehabt haben. Aus einer ſolchen Luſt- barkeit, wobey vielleicht, wie jetzo noch an verſchiede- nen Orten geſchieht, von einigen zum Poſſenreiſſen auf- gelegten Perſonen, oͤffentlich allerhand die Vorbey- gehenden antaſtende Reden gefuͤhrt worden, kann die Comoͤdie ihren Anfang genommen haben. Die aͤlteſte Form derſelben in Athen ſcheinet noch nahe an ein ſolches Poſſenſpiel zu graͤnzen. Ariſtopha- nes wirft ſeinen Vorgaͤngern und ſelbſt ſeinen Zeit- verwandten vor, daß ſie Gaukeleyen machen, um Kinder zum Lachen zu bringen, und daß ihre Stuͤke meiſt aus Poſſen beſtehen. Wir werden bald einen Um-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/232>, abgerufen am 27.11.2024.