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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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ter aber ist es, daß der Zwischenraum, in welchem
man von der Handlung nichts sieht, mit ganz frem-
den Gegenständen, dergleichen die Ballette sind, an-
gefüllt werden. Dieses ist eine Barbarey, die unwi-
dersprechlich beweiset, daß es uns bey dem Schau-
spiel mehr um Lustbarkeit und Zeitvertreib, als um
den Nutzen zu thun ist, den man daraus ziehen kann,
daß man ein Zeuge merkwürdiger Handlungen ist.

Die Regel also, welche befiehlt die Handlung so
einzurichten, daß man ohne etwas unnatürliches zu
empfinden, sie in ein paar Stunden als ein Augen-
zeug ansehen könne, ist nicht eine blos willkührliche
Einschränkung der dramatischen Kunst, sondern in
der Natur der Sache gegründet, und ist das, was
die Kunstrichter die Einheit der Zeit nennen.

Soll die Handlung natürlich vorgestellt werden,
so muß sie so beschaffen seyn, daß auch in dem
Orte, wo wir die handelnden Personen sehen, nichts
widersprechendes sey. Was seiner Natur nach auf
einem öffentlichen Platz geschehen muß, soll nicht in
einem Zimmer, und was in geheim geschehen soll,
nicht auf öffentlichem Platz vorgestellt werden. Man
muß eine sehr genaue Uebereinkunft der Dinge, die
geschehen, und der Oerter da sie geschehen, beobach-
ten. Darin waren die Alten sehr streng, und man
wird schweerlich etwas unschikiches in dieser Art
bey ihnen antreffen. Die Neuern beobachten hierin,
wegen der insgemein sehr schlechten Einrichtung des
Theaters, weniger Genauigkeit. Man sieht bis-
weilen, daß eine offene Gallerie, oder der Flur eines
Hauses, wo jederman durchgeht, die Stelle eines
geheimen Conferenzcabinets, und im Gegentheil
ein Cabinet die Stelle eines Durchganges, oder ei-
ner Gallerie vertritt, wo jederman unangemeldet hin-
kommen darf. Dergleichen Unrichtigkeiten können
so anstößig werden, daß sie die Aufmerksamkeit auf
die Hauptsachen merklich schwächen.

Die Alten beobachteten in ihren dramatischen
Vorstellungen in Ansehung des Orts diese Regel un-
verbrüchlich, daß die Schaubühne einen Ort vorstellte,
an welchem alles, was vor den Augen des Zuschau-
ers geschah, natürlicher Weise geschehen müßte;
diesen einzigen Ort behielten sie unverändert die
ganze Vorstellung hindurch, und was als geschehen
erkennt werden mußte, das doch an diesem Orte
nicht geschehen konnte, kam in Erzählung vor.
Dieses nennen die Kunstrichter die Einheit des Orts.
Die Neuern binden sich weniger an diese Regel; sie
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stellen ofte dem Auge des Zuschauers die Hand-
lung so vor, daß es unmöglich wird denselbeu Ort
durch die ganze Handlung beyzubehalten. Man
sieht bisweilen einen Theil derselben auf einem öffent-
lichen Platz, und einen andern in einem geheimen
Zimmer, deswegen wird die Scene währender Hand-
lung ofte verändert. Man kann sich endlich über
das, was hierin unnatürlich ist, wegsetzen; aber bey
der Einheit des Orts ist doch der ganze Faden der
Vorstellung ununterbrochen; die Reyhe unsrer Vor-
stellungen hat nicht so viel zweifelhaftes, das man
mit Gewalt wegräumen muß, und die Aufmerksam-
keit wird beständig auf die Hauptsache geheftet. Und
dann scheinet es doch einigen Mangel an Dich-
tungskraft anzuzeigen, daß man nöthig hat den
Zuschauer bald an diesen, bald an einen andern Ort
zu führen. Der ist unstreitig geschikter, der die Zu-
schauer auf einer Stelle mit einem wichtigen Schau-
spiel unterhalten kann, als der, welcher nöthig hat,
sie in einem ganzen Haus, oder gar in einer Stadt
herum zu führen.

Die genaue Beobachtung der Einheit des Orts
wurd den Alten viel leichter, als den Neuern; weil
jene insgemein einfachere Handlungen vorstellten,
als die sind, die von den Neuern gewählt werden.
Aeschylus, Sophokles und Aristophanes sahen,
daß eine sehr einfache Handlung, wo alles auf
einer Stelle geschieht, durch die Personen, und die
sich dabey äussernden Gedanken und Empfindungen
höchst intressant seyn könne, und sie wußten in
der That den Mangel des mannigfaltigen, in An-
sehung des Aeusserlichen der Handlung, durch desto
grössere Mannigfaltigkeit und durch die Wichtigkeit
dessen, was innerlich in den Gemüthern vorgeht,
reichlich zu ersetzen. Drey oder vier Personen konn-
ten fast ohne von der Stelle zu rüken, den Zu-
schauern ein wichtiges Schauspiel vor Augen stellen.
Die Neuern scheinen aus Mißtrauen in ihr Genie,
oder auch aus würklichem Unvermögen, in die
Rothwendigkeit gesetzt zu seyn, einen weitläuftigen
Stoff zu wählen. Sie haben mehr Personen, mehr
Vorfälle, und so gar Nebenhandlungen oder so ge-
nannte Episoden nöthig, um ihre Zuschauer in einer
ununterbrochenen Aufmerksamkeit zu unterhalten.
Sie getrauen sich selten eine oder zwey Hauptper-
sonen so groß zu bilden, daß man sich mit ihrer
Art bey einem einzigen Vorfall zu denken und zu
handeln, hinlänglich beschäftigen könnte; sie haben

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ter aber iſt es, daß der Zwiſchenraum, in welchem
man von der Handlung nichts ſieht, mit ganz frem-
den Gegenſtaͤnden, dergleichen die Ballette ſind, an-
gefuͤllt werden. Dieſes iſt eine Barbarey, die unwi-
derſprechlich beweiſet, daß es uns bey dem Schau-
ſpiel mehr um Luſtbarkeit und Zeitvertreib, als um
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Die Regel alſo, welche befiehlt die Handlung ſo
einzurichten, daß man ohne etwas unnatuͤrliches zu
empfinden, ſie in ein paar Stunden als ein Augen-
zeug anſehen koͤnne, iſt nicht eine blos willkuͤhrliche
Einſchraͤnkung der dramatiſchen Kunſt, ſondern in
der Natur der Sache gegruͤndet, und iſt das, was
die Kunſtrichter die Einheit der Zeit nennen.

Soll die Handlung natuͤrlich vorgeſtellt werden,
ſo muß ſie ſo beſchaffen ſeyn, daß auch in dem
Orte, wo wir die handelnden Perſonen ſehen, nichts
widerſprechendes ſey. Was ſeiner Natur nach auf
einem oͤffentlichen Platz geſchehen muß, ſoll nicht in
einem Zimmer, und was in geheim geſchehen ſoll,
nicht auf oͤffentlichem Platz vorgeſtellt werden. Man
muß eine ſehr genaue Uebereinkunft der Dinge, die
geſchehen, und der Oerter da ſie geſchehen, beobach-
ten. Darin waren die Alten ſehr ſtreng, und man
wird ſchweerlich etwas unſchikiches in dieſer Art
bey ihnen antreffen. Die Neuern beobachten hierin,
wegen der insgemein ſehr ſchlechten Einrichtung des
Theaters, weniger Genauigkeit. Man ſieht bis-
weilen, daß eine offene Gallerie, oder der Flur eines
Hauſes, wo jederman durchgeht, die Stelle eines
geheimen Conferenzcabinets, und im Gegentheil
ein Cabinet die Stelle eines Durchganges, oder ei-
ner Gallerie vertritt, wo jederman unangemeldet hin-
kommen darf. Dergleichen Unrichtigkeiten koͤnnen
ſo anſtoͤßig werden, daß ſie die Aufmerkſamkeit auf
die Hauptſachen merklich ſchwaͤchen.

Die Alten beobachteten in ihren dramatiſchen
Vorſtellungen in Anſehung des Orts dieſe Regel un-
verbruͤchlich, daß die Schaubuͤhne einen Ort vorſtellte,
an welchem alles, was vor den Augen des Zuſchau-
ers geſchah, natuͤrlicher Weiſe geſchehen muͤßte;
dieſen einzigen Ort behielten ſie unveraͤndert die
ganze Vorſtellung hindurch, und was als geſchehen
erkennt werden mußte, das doch an dieſem Orte
nicht geſchehen konnte, kam in Erzaͤhlung vor.
Dieſes nennen die Kunſtrichter die Einheit des Orts.
Die Neuern binden ſich weniger an dieſe Regel; ſie
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ſtellen ofte dem Auge des Zuſchauers die Hand-
lung ſo vor, daß es unmoͤglich wird denſelbeu Ort
durch die ganze Handlung beyzubehalten. Man
ſieht bisweilen einen Theil derſelben auf einem oͤffent-
lichen Platz, und einen andern in einem geheimen
Zimmer, deswegen wird die Scene waͤhrender Hand-
lung ofte veraͤndert. Man kann ſich endlich uͤber
das, was hierin unnatuͤrlich iſt, wegſetzen; aber bey
der Einheit des Orts iſt doch der ganze Faden der
Vorſtellung ununterbrochen; die Reyhe unſrer Vor-
ſtellungen hat nicht ſo viel zweifelhaftes, das man
mit Gewalt wegraͤumen muß, und die Aufmerkſam-
keit wird beſtaͤndig auf die Hauptſache geheftet. Und
dann ſcheinet es doch einigen Mangel an Dich-
tungskraft anzuzeigen, daß man noͤthig hat den
Zuſchauer bald an dieſen, bald an einen andern Ort
zu fuͤhren. Der iſt unſtreitig geſchikter, der die Zu-
ſchauer auf einer Stelle mit einem wichtigen Schau-
ſpiel unterhalten kann, als der, welcher noͤthig hat,
ſie in einem ganzen Haus, oder gar in einer Stadt
herum zu fuͤhren.

Die genaue Beobachtung der Einheit des Orts
wurd den Alten viel leichter, als den Neuern; weil
jene insgemein einfachere Handlungen vorſtellten,
als die ſind, die von den Neuern gewaͤhlt werden.
Aeſchylus, Sophokles und Ariſtophanes ſahen,
daß eine ſehr einfache Handlung, wo alles auf
einer Stelle geſchieht, durch die Perſonen, und die
ſich dabey aͤuſſernden Gedanken und Empfindungen
hoͤchſt intreſſant ſeyn koͤnne, und ſie wußten in
der That den Mangel des mannigfaltigen, in An-
ſehung des Aeuſſerlichen der Handlung, durch deſto
groͤſſere Mannigfaltigkeit und durch die Wichtigkeit
deſſen, was innerlich in den Gemuͤthern vorgeht,
reichlich zu erſetzen. Drey oder vier Perſonen konn-
ten faſt ohne von der Stelle zu ruͤken, den Zu-
ſchauern ein wichtiges Schauſpiel vor Augen ſtellen.
Die Neuern ſcheinen aus Mißtrauen in ihr Genie,
oder auch aus wuͤrklichem Unvermoͤgen, in die
Rothwendigkeit geſetzt zu ſeyn, einen weitlaͤuftigen
Stoff zu waͤhlen. Sie haben mehr Perſonen, mehr
Vorfaͤlle, und ſo gar Nebenhandlungen oder ſo ge-
nannte Epiſoden noͤthig, um ihre Zuſchauer in einer
ununterbrochenen Aufmerkſamkeit zu unterhalten.
Sie getrauen ſich ſelten eine oder zwey Hauptper-
ſonen ſo groß zu bilden, daß man ſich mit ihrer
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[275/0287] Dra Dra ter aber iſt es, daß der Zwiſchenraum, in welchem man von der Handlung nichts ſieht, mit ganz frem- den Gegenſtaͤnden, dergleichen die Ballette ſind, an- gefuͤllt werden. Dieſes iſt eine Barbarey, die unwi- derſprechlich beweiſet, daß es uns bey dem Schau- ſpiel mehr um Luſtbarkeit und Zeitvertreib, als um den Nutzen zu thun iſt, den man daraus ziehen kann, daß man ein Zeuge merkwuͤrdiger Handlungen iſt. Die Regel alſo, welche befiehlt die Handlung ſo einzurichten, daß man ohne etwas unnatuͤrliches zu empfinden, ſie in ein paar Stunden als ein Augen- zeug anſehen koͤnne, iſt nicht eine blos willkuͤhrliche Einſchraͤnkung der dramatiſchen Kunſt, ſondern in der Natur der Sache gegruͤndet, und iſt das, was die Kunſtrichter die Einheit der Zeit nennen. Soll die Handlung natuͤrlich vorgeſtellt werden, ſo muß ſie ſo beſchaffen ſeyn, daß auch in dem Orte, wo wir die handelnden Perſonen ſehen, nichts widerſprechendes ſey. Was ſeiner Natur nach auf einem oͤffentlichen Platz geſchehen muß, ſoll nicht in einem Zimmer, und was in geheim geſchehen ſoll, nicht auf oͤffentlichem Platz vorgeſtellt werden. Man muß eine ſehr genaue Uebereinkunft der Dinge, die geſchehen, und der Oerter da ſie geſchehen, beobach- ten. Darin waren die Alten ſehr ſtreng, und man wird ſchweerlich etwas unſchikiches in dieſer Art bey ihnen antreffen. Die Neuern beobachten hierin, wegen der insgemein ſehr ſchlechten Einrichtung des Theaters, weniger Genauigkeit. Man ſieht bis- weilen, daß eine offene Gallerie, oder der Flur eines Hauſes, wo jederman durchgeht, die Stelle eines geheimen Conferenzcabinets, und im Gegentheil ein Cabinet die Stelle eines Durchganges, oder ei- ner Gallerie vertritt, wo jederman unangemeldet hin- kommen darf. Dergleichen Unrichtigkeiten koͤnnen ſo anſtoͤßig werden, daß ſie die Aufmerkſamkeit auf die Hauptſachen merklich ſchwaͤchen. Die Alten beobachteten in ihren dramatiſchen Vorſtellungen in Anſehung des Orts dieſe Regel un- verbruͤchlich, daß die Schaubuͤhne einen Ort vorſtellte, an welchem alles, was vor den Augen des Zuſchau- ers geſchah, natuͤrlicher Weiſe geſchehen muͤßte; dieſen einzigen Ort behielten ſie unveraͤndert die ganze Vorſtellung hindurch, und was als geſchehen erkennt werden mußte, das doch an dieſem Orte nicht geſchehen konnte, kam in Erzaͤhlung vor. Dieſes nennen die Kunſtrichter die Einheit des Orts. Die Neuern binden ſich weniger an dieſe Regel; ſie ſtellen ofte dem Auge des Zuſchauers die Hand- lung ſo vor, daß es unmoͤglich wird denſelbeu Ort durch die ganze Handlung beyzubehalten. Man ſieht bisweilen einen Theil derſelben auf einem oͤffent- lichen Platz, und einen andern in einem geheimen Zimmer, deswegen wird die Scene waͤhrender Hand- lung ofte veraͤndert. Man kann ſich endlich uͤber das, was hierin unnatuͤrlich iſt, wegſetzen; aber bey der Einheit des Orts iſt doch der ganze Faden der Vorſtellung ununterbrochen; die Reyhe unſrer Vor- ſtellungen hat nicht ſo viel zweifelhaftes, das man mit Gewalt wegraͤumen muß, und die Aufmerkſam- keit wird beſtaͤndig auf die Hauptſache geheftet. Und dann ſcheinet es doch einigen Mangel an Dich- tungskraft anzuzeigen, daß man noͤthig hat den Zuſchauer bald an dieſen, bald an einen andern Ort zu fuͤhren. Der iſt unſtreitig geſchikter, der die Zu- ſchauer auf einer Stelle mit einem wichtigen Schau- ſpiel unterhalten kann, als der, welcher noͤthig hat, ſie in einem ganzen Haus, oder gar in einer Stadt herum zu fuͤhren. Die genaue Beobachtung der Einheit des Orts wurd den Alten viel leichter, als den Neuern; weil jene insgemein einfachere Handlungen vorſtellten, als die ſind, die von den Neuern gewaͤhlt werden. Aeſchylus, Sophokles und Ariſtophanes ſahen, daß eine ſehr einfache Handlung, wo alles auf einer Stelle geſchieht, durch die Perſonen, und die ſich dabey aͤuſſernden Gedanken und Empfindungen hoͤchſt intreſſant ſeyn koͤnne, und ſie wußten in der That den Mangel des mannigfaltigen, in An- ſehung des Aeuſſerlichen der Handlung, durch deſto groͤſſere Mannigfaltigkeit und durch die Wichtigkeit deſſen, was innerlich in den Gemuͤthern vorgeht, reichlich zu erſetzen. Drey oder vier Perſonen konn- ten faſt ohne von der Stelle zu ruͤken, den Zu- ſchauern ein wichtiges Schauſpiel vor Augen ſtellen. Die Neuern ſcheinen aus Mißtrauen in ihr Genie, oder auch aus wuͤrklichem Unvermoͤgen, in die Rothwendigkeit geſetzt zu ſeyn, einen weitlaͤuftigen Stoff zu waͤhlen. Sie haben mehr Perſonen, mehr Vorfaͤlle, und ſo gar Nebenhandlungen oder ſo ge- nannte Epiſoden noͤthig, um ihre Zuſchauer in einer ununterbrochenen Aufmerkſamkeit zu unterhalten. Sie getrauen ſich ſelten eine oder zwey Hauptper- ſonen ſo groß zu bilden, daß man ſich mit ihrer Art bey einem einzigen Vorfall zu denken und zu handeln, hinlaͤnglich beſchaͤftigen koͤnnte; ſie haben noch M m 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/287>, abgerufen am 24.11.2024.