Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Due Zwey schöne Melodien, deren jede ihren eigenenrichtigen Ausdruk, ihre eigenen Verzierungen hat, so zu vereinigen, daß keine die andre ver- dunkelt, dies ist der Gipfel der Kunst: wer darin stark ist, wie ein Händel oder Graun, der kann mit Recht auf dem obersten Rang der Tonsetzer seinen Platz nehmen. Da in der heutigen Musik die Duette von zwey Dem erstern Anschein nach hält man es für ganz Der Dichter muß das Duet mit großer Behut- Due gleich ausbrechen; aber immer kurz und ofte nur inein paar Sylben. Also muß das Duet keine zu- sammenhangenden Sätze der Rede, sondern abgebro- chene kurze Reden in unvollständigen Sätzen, und abwechselnd, bald von der einen, bald von der an- dern der handelnden Personen, enthalten. Nicht jede starke Leidenschaft erlaubt diese Behandlung. Die von der zärtlichen Art, die einen klagenden Ton annehmen, schiken sich dazu am besten. Es ist aber nöthig, daß jede der beyden Personen die Leidenschaft auf eine ihr und ihrem Charakter eigene Art empfin- de, damit die beyden Stimmen sich hinlänglich ge- gen einander auszeichnen. Wenn der Dichter das Duet, als ein Mann von Alles, was die Kunst der Fuge, der Nachah- Duode-
[Spaltenumbruch] Due Zwey ſchoͤne Melodien, deren jede ihren eigenenrichtigen Ausdruk, ihre eigenen Verzierungen hat, ſo zu vereinigen, daß keine die andre ver- dunkelt, dies iſt der Gipfel der Kunſt: wer darin ſtark iſt, wie ein Haͤndel oder Graun, der kann mit Recht auf dem oberſten Rang der Tonſetzer ſeinen Platz nehmen. Da in der heutigen Muſik die Duette von zwey Dem erſtern Anſchein nach haͤlt man es fuͤr ganz Der Dichter muß das Duet mit großer Behut- Due gleich ausbrechen; aber immer kurz und ofte nur inein paar Sylben. Alſo muß das Duet keine zu- ſammenhangenden Saͤtze der Rede, ſondern abgebro- chene kurze Reden in unvollſtaͤndigen Saͤtzen, und abwechſelnd, bald von der einen, bald von der an- dern der handelnden Perſonen, enthalten. Nicht jede ſtarke Leidenſchaft erlaubt dieſe Behandlung. Die von der zaͤrtlichen Art, die einen klagenden Ton annehmen, ſchiken ſich dazu am beſten. Es iſt aber noͤthig, daß jede der beyden Perſonen die Leidenſchaft auf eine ihr und ihrem Charakter eigene Art empfin- de, damit die beyden Stimmen ſich hinlaͤnglich ge- gen einander auszeichnen. Wenn der Dichter das Duet, als ein Mann von Alles, was die Kunſt der Fuge, der Nachah- Duode-
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Jn ſolchen Um-<lb/> ſtaͤnden wird es natuͤrlich, daß die Empfindung ſich<lb/> abwechſelnd, bald durch wenig ſchwermeriſche Worte,<lb/> bald blos durch unartikulirte Toͤne, bald nur durch<lb/> die nachdruͤklichſten Gebehrden aͤußere; daß von<lb/> zwey Perſonen, die ein Gegenſtand außer ſich geſetzt<lb/> hat, bald die eine, bald die andre, bald beyde zu-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Due</hi></fw><lb/> gleich ausbrechen; aber immer kurz und ofte nur in<lb/> ein paar Sylben. Alſo muß das Duet keine zu-<lb/> ſammenhangenden Saͤtze der Rede, ſondern abgebro-<lb/> chene kurze Reden in unvollſtaͤndigen Saͤtzen, und<lb/> abwechſelnd, bald von der einen, bald von der an-<lb/> dern der handelnden Perſonen, enthalten. Nicht<lb/> jede ſtarke Leidenſchaft erlaubt dieſe Behandlung.<lb/> Die von der zaͤrtlichen Art, die einen klagenden Ton<lb/> annehmen, ſchiken ſich dazu am beſten. 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Er muß ſich den Gemuͤthszuſtand jeder der<lb/> beyden Perſonen lebhaft vorſtellen, und dann kurze<lb/> melodiſche Saͤtze finden, die ſich fuͤr beyde zugleich<lb/> paſſen, die zu der contrapunktiſchen Umkehrung,<lb/> und zu der fugenmaͤßigen Nachahmung ſchiklich ſind.<lb/> Erſt laͤßt er jede Perſon allein ſingen; die zweyte<lb/> Stimme muß einen andern Geſang haben, als die<lb/> erſte, und dennoch muß dieſes der Einheit des Ge-<lb/> ſanges nicht ſchaden; denn nun befaͤllt die Leiden-<lb/> ſchaft beyde zugleich, und abwechſelnd wird ſie izt<lb/> in der einen, dann in der andern ſtaͤrker.</p><lb/> <p>Alles, was die Kunſt der Fuge, der Nachah-<lb/> mungen, des doppelten Contrapunkts und des Ca-<lb/> nons ſchweeres hat, iſt kaum noch hinreichend, dem<lb/> Tonſetzer aus allen Schwierigkeiten, die er dabey<lb/> vor ſich findet, heraus zu helfen. 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Due
Due
Zwey ſchoͤne Melodien, deren jede ihren eigenen
richtigen Ausdruk, ihre eigenen Verzierungen
hat, ſo zu vereinigen, daß keine die andre ver-
dunkelt, dies iſt der Gipfel der Kunſt: wer darin
ſtark iſt, wie ein Haͤndel oder Graun, der kann mit
Recht auf dem oberſten Rang der Tonſetzer ſeinen
Platz nehmen.
Da in der heutigen Muſik die Duette von zwey
Singeſtimmen, ſo wol in Cantaten, als in dem
Drama die wichtigſten und lieblichſten Tonſtuͤke ſind,
ſo verdienen ſie auch eine vorzuͤgliche Betrachtung
der Critik. Rouſſeau hat mit Einſicht und Ge-
ſchmak davon geſchrieben (*), und verdienet von
Dichtern und Tonſetzern uͤber dieſe Materie nachge-
ſchlagen zu werden.
(*) Di-
ction. de
Muſique
Art. Duo.
Dem erſtern Anſchein nach haͤlt man es fuͤr ganz
unnatuͤrlich, daß zwey Perſonen zugleich eine Zeit-
lang ihre Empfindungen gegen einander aͤußern,
ohne daß die eine auf die andre Achtung giebet.
Am wenigſten ſcheinet dieſes ſich fuͤr handelnde
Perſonen von hohem Rang zuſchiken, wie ſie in der
Oper insgemein ſind. Jndeſſen giebt es doch Faͤlle,
wo die Leidenſchaften, beſonders die von zaͤrtlicher
Art, die Gemuͤther dergeſtalt hinreiſſen, daß eine
ſo uͤberfließende und vom Anſtand ungehemmte
Aeußerung derſelben, wie ſie im Duet vorkommt,
ganz natuͤrlich wird; wenn nur der Dichter dieſe
Faͤlle natuͤrlich genug vorſtellt, und der Tonſetzer die-
ſelben als ein Mann von feinem Geſchmak behan-
delt. Man kann ſich auf die Empfindung aller
Menſchen berufen, die in verſchiedenen berliniſchen
Opern, wo der Dichter nur einigermaaßen natuͤr-
lich geweſen iſt, die reizenden Duette unſers
Grauns gehoͤrt haben, um zu behaupten, daß
nichts ſo rief in das innerſte der Empfindungen
eindringt, als ein gutes Duet.
Der Dichter muß das Duet mit großer Behut-
ſamkeit und nur in ſolchen Umſtaͤnden der Handlung
anbringen, wo natuͤrlicher Weiſe die Empfindungen
zwey handelnder Perſonen auf einen Grad ſteigen,
der an den Wahnwiz graͤnzet. Jn ſolchen Um-
ſtaͤnden wird es natuͤrlich, daß die Empfindung ſich
abwechſelnd, bald durch wenig ſchwermeriſche Worte,
bald blos durch unartikulirte Toͤne, bald nur durch
die nachdruͤklichſten Gebehrden aͤußere; daß von
zwey Perſonen, die ein Gegenſtand außer ſich geſetzt
hat, bald die eine, bald die andre, bald beyde zu-
gleich ausbrechen; aber immer kurz und ofte nur in
ein paar Sylben. Alſo muß das Duet keine zu-
ſammenhangenden Saͤtze der Rede, ſondern abgebro-
chene kurze Reden in unvollſtaͤndigen Saͤtzen, und
abwechſelnd, bald von der einen, bald von der an-
dern der handelnden Perſonen, enthalten. Nicht
jede ſtarke Leidenſchaft erlaubt dieſe Behandlung.
Die von der zaͤrtlichen Art, die einen klagenden Ton
annehmen, ſchiken ſich dazu am beſten. Es iſt aber
noͤthig, daß jede der beyden Perſonen die Leidenſchaft
auf eine ihr und ihrem Charakter eigene Art empfin-
de, damit die beyden Stimmen ſich hinlaͤnglich ge-
gen einander auszeichnen.
Wenn der Dichter das Duet, als ein Mann von
Geſchmak angebracht und vorgetragen hat, ſo wird
dem Tonſetzer zwar ſeine Arbeit erleichtert; aber
dennoch hat ſein Genie die gluͤklichſte Stunde dazu
noͤthig. Er muß ſich den Gemuͤthszuſtand jeder der
beyden Perſonen lebhaft vorſtellen, und dann kurze
melodiſche Saͤtze finden, die ſich fuͤr beyde zugleich
paſſen, die zu der contrapunktiſchen Umkehrung,
und zu der fugenmaͤßigen Nachahmung ſchiklich ſind.
Erſt laͤßt er jede Perſon allein ſingen; die zweyte
Stimme muß einen andern Geſang haben, als die
erſte, und dennoch muß dieſes der Einheit des Ge-
ſanges nicht ſchaden; denn nun befaͤllt die Leiden-
ſchaft beyde zugleich, und abwechſelnd wird ſie izt
in der einen, dann in der andern ſtaͤrker.
Alles, was die Kunſt der Fuge, der Nachah-
mungen, des doppelten Contrapunkts und des Ca-
nons ſchweeres hat, iſt kaum noch hinreichend, dem
Tonſetzer aus allen Schwierigkeiten, die er dabey
vor ſich findet, heraus zu helfen. Wer das hoͤchſte
und gluͤklichſte Genie zur Muſik in allen einzeln da-
zu gehoͤrigen Theilen bewundern will, der ſtudire
nur die Duette unſers Grauns, wodurch er die un-
empfindlichſten Seelen außer ſich geſetzt hat. Es
wuͤrd ein unerſetzlicher Verluſt fuͤr die Kunſt ſeyn,
wenn |dieſe entzuͤkende Duette ſollten verlohren gehen;
und doch iſt die Gefahr dieſes Verluſts vorhanden,
ſo lange ſie nicht durch den Druk vervielfaͤltiget und
ausgebreitet werden. Deutſchland kann damit allein
gegen alle andre Nationen auftreten, um den Vor-
zug in der Muſik zu behaupten: aber eben dieſer Vor-
zug kann ihm durch die Achtloſigkeit fuͤr die Erhal-
tung und Ausbreitung dieſer himmliſchen Geſaͤnge
zur groͤßten Schande gereichen.
Duode-
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