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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aes
der Künstler den Charakter und das Genie der Per-
sonen, für welche er arbeitet, genau zu erwägen:
dieses aber hindert nicht, daß er nicht auch, auf der
andern Seite, die Beschaffenheit des Aesthetischen
überhaupt sich genau müsse bekannt machen. Das
Aesthetische in einem Gegenstand erwekt die Em-
pfindung nicht allemal; aber der Mangel desselben
schließt allemal und ohne Ausnahme den Gegen-
stand von den Werken der Künste aus. Bringt die
Kenntniß des ästhetischen den Künstler nicht allemal
zu seinem Zwek, so verwahrt sie ihn doch vor der
Schuld die Erreichung desselben selbst zu hindern.

Die Gegenstände, die geschikt sind Empfindun-
gen zu veranlassen, können in drey Gattungen ein-
getheilt werden. Sie stellen sich entweder dem Ver-
stande dar, oder der Einbildungskraft, oder sie wür-
ken unmittelbar auf die Begehrungskräfte der See-
le. Aus so viel verschiedenen Gattungen besteht der
ästhetische Stoff. Die nähere Betrachtung jeder
Gattung ist an einem andern Orte vorgenommen
(*) S.
Kraft.
worden. (*)

Wir bemerken hier nur überhaupt, daß man oft
sehr unrecht das Schöne für die einzige Gattung
des ästhetischen Stoffs angiebt. Dahin zielet das
vermeinte Grundgesetz der schönen Künste ab:
Man soll die Natur ins Schöne nachahmen. Das
Häßliche hat einen eben so gegründeten Anspruch
auf die Künste, als das Schöne. Furcht, Abscheu
und andre widrige Empfindungen zu erweken, ge-
hört eben so gewiß zum Endzwek der Künste, als
die Erwekung des Vergnügens. Jene widrigen
Empfindungen aber werden nicht durch das Schöne
hervorgebracht. Es ist also nothwendig, daß der
Begriff des Aesthetischeu auf alle Arten der Empfin-
dungen ausgedehnt werde.

Noch ist dem Künstler das Nachdenken über den
Werth des ästhetischen Stoffs zu empfehlen. Diesen
bekömmt er nicht aus der Stärke der durch ihn ver-
anlaßten Empfindung, sondern aus dem Guten, das
durch selbige bewürkt wird. Man kann Ekel und
Abscheu oder Vergnügen erweken, die auf weiter
nichts abzielen, als daß überhaupt die Thätigkeit
der Seele gereizt werde. Aber eben diese Empfin-
dungen können durch Gegenstände veranlasset wer-
den, an denen der Ekel oder das Vergnügen höchst
wichtig ist. Es dienet zu nichts, einen Menschen
durch ein plötzliches Geschrey, als ob ein großes
Unglück entstanden sey, zu erschreken; aber ihm
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Aes Aez
Schreken über eine begangene Missethat zu erwe-
ken, ist etwas Wichtiges. Auf diesen Werth des
ästhetischen Stoffs muß der Künstler, der auf wah-
ren Ruhm Anspruch macht, seine Aufmerksamkeit
richten, und diesen muß er in der ganzen Natur
und in allen Winkeln der Philosophie und der Moral
aufsuchen.

Blos in der körperlichen und sittlichen Natur
einige angenehme Blumen aufzusuchen, das Ge-
fällige, das Belustigende, das Ergötzende aus allen
Quellen hervor zu bringen, ist eine sehr geringe Ver-
anstaltung zur Herbeyschaffung des äesthetischen
Stoffs. Eine Sammlung von Schmetterlingen
und schön gefärbten Muscheln macht kein Cabinet
aus, aus welchem der Reichthum und die allmäch-
tige Kraft der Natur könnte bewiesen werden.

Aezen. Aezkunst.

Die Kunst, vermittelst eines scharfen Wassers
die Zeichnung auf metallene Tafeln einzugra-
ben, von welchen sie hernach auf Papier ab-
gedrukt werden.
Das Aezen ist eine Art, ohne
Grabstichel zu stechen, und ist zum Gebrauch der
Kupferstecherkunst erfunden worden.

Die Hauptumstände des Aezens sind folgende.
Man nimmt eine wohl geglättete und fein polirte
Tafel, fast allezeit von feinem Kupfer. Diese
überzieht man mit einer dünnen Haut von Firniß,
welche man hernach mit dem Rauch einer Lampe
schwärzt, oder mit einem andern matten Grund
überzieht. Auf diesen Grund wird die Zeichnung
ganz leicht mit Bleystift oder Röthel aufgetragen,
oder auf eine andre Art des Abzeichnens darauf
gebracht.

Nach dieser Zeichnung wird mit einer scharfen
Radiernadel der Firniß bis auf das Kupfer weg-
gerissen, auch wird wol etwas in das Kupfer hin-
eingerizt. Diese Verrichtung wird eigentlich das
Radiren genennt. (*)

(*) Vom
lateinischen
radere.

Alsdenn wird um den Rand der Tafel ein Bord
von Wachs gemacht, und das Aezwasser auf die
Tafel gegossen. Dieses frißt alle aufgerissene
Striche in das Kupfer ein, ohne den Firniß selbst
anzugreifen, und dieses wird eigentlich das Aezen
genennt. Wenn es tief genug eingefressen hat, so
wird das Aezwasser von der Tafel abgespühlt, der
Firniß abgenommen, und damit ist die Tafel
fertig.

Jede

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Aeſ
der Kuͤnſtler den Charakter und das Genie der Per-
ſonen, fuͤr welche er arbeitet, genau zu erwaͤgen:
dieſes aber hindert nicht, daß er nicht auch, auf der
andern Seite, die Beſchaffenheit des Aeſthetiſchen
uͤberhaupt ſich genau muͤſſe bekannt machen. Das
Aeſthetiſche in einem Gegenſtand erwekt die Em-
pfindung nicht allemal; aber der Mangel deſſelben
ſchließt allemal und ohne Ausnahme den Gegen-
ſtand von den Werken der Kuͤnſte aus. Bringt die
Kenntniß des aͤſthetiſchen den Kuͤnſtler nicht allemal
zu ſeinem Zwek, ſo verwahrt ſie ihn doch vor der
Schuld die Erreichung deſſelben ſelbſt zu hindern.

Die Gegenſtaͤnde, die geſchikt ſind Empfindun-
gen zu veranlaſſen, koͤnnen in drey Gattungen ein-
getheilt werden. Sie ſtellen ſich entweder dem Ver-
ſtande dar, oder der Einbildungskraft, oder ſie wuͤr-
ken unmittelbar auf die Begehrungskraͤfte der See-
le. Aus ſo viel verſchiedenen Gattungen beſteht der
aͤſthetiſche Stoff. Die naͤhere Betrachtung jeder
Gattung iſt an einem andern Orte vorgenommen
(*) S.
Kraft.
worden. (*)

Wir bemerken hier nur uͤberhaupt, daß man oft
ſehr unrecht das Schoͤne fuͤr die einzige Gattung
des aͤſthetiſchen Stoffs angiebt. Dahin zielet das
vermeinte Grundgeſetz der ſchoͤnen Kuͤnſte ab:
Man ſoll die Natur ins Schoͤne nachahmen. Das
Haͤßliche hat einen eben ſo gegruͤndeten Anſpruch
auf die Kuͤnſte, als das Schoͤne. Furcht, Abſcheu
und andre widrige Empfindungen zu erweken, ge-
hoͤrt eben ſo gewiß zum Endzwek der Kuͤnſte, als
die Erwekung des Vergnuͤgens. Jene widrigen
Empfindungen aber werden nicht durch das Schoͤne
hervorgebracht. Es iſt alſo nothwendig, daß der
Begriff des Aeſthetiſcheu auf alle Arten der Empfin-
dungen ausgedehnt werde.

Noch iſt dem Kuͤnſtler das Nachdenken uͤber den
Werth des aͤſthetiſchen Stoffs zu empfehlen. Dieſen
bekoͤmmt er nicht aus der Staͤrke der durch ihn ver-
anlaßten Empfindung, ſondern aus dem Guten, das
durch ſelbige bewuͤrkt wird. Man kann Ekel und
Abſcheu oder Vergnuͤgen erweken, die auf weiter
nichts abzielen, als daß uͤberhaupt die Thaͤtigkeit
der Seele gereizt werde. Aber eben dieſe Empfin-
dungen koͤnnen durch Gegenſtaͤnde veranlaſſet wer-
den, an denen der Ekel oder das Vergnuͤgen hoͤchſt
wichtig iſt. Es dienet zu nichts, einen Menſchen
durch ein ploͤtzliches Geſchrey, als ob ein großes
Ungluͤck entſtanden ſey, zu erſchreken; aber ihm
[Spaltenumbruch]

Aeſ Aez
Schreken uͤber eine begangene Miſſethat zu erwe-
ken, iſt etwas Wichtiges. Auf dieſen Werth des
aͤſthetiſchen Stoffs muß der Kuͤnſtler, der auf wah-
ren Ruhm Anſpruch macht, ſeine Aufmerkſamkeit
richten, und dieſen muß er in der ganzen Natur
und in allen Winkeln der Philoſophie und der Moral
aufſuchen.

Blos in der koͤrperlichen und ſittlichen Natur
einige angenehme Blumen aufzuſuchen, das Ge-
faͤllige, das Beluſtigende, das Ergoͤtzende aus allen
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anſtaltung zur Herbeyſchaffung des aͤeſthetiſchen
Stoffs. Eine Sammlung von Schmetterlingen
und ſchoͤn gefaͤrbten Muſcheln macht kein Cabinet
aus, aus welchem der Reichthum und die allmaͤch-
tige Kraft der Natur koͤnnte bewieſen werden.

Aezen. Aezkunſt.

Die Kunſt, vermittelſt eines ſcharfen Waſſers
die Zeichnung auf metallene Tafeln einzugra-
ben, von welchen ſie hernach auf Papier ab-
gedrukt werden.
Das Aezen iſt eine Art, ohne
Grabſtichel zu ſtechen, und iſt zum Gebrauch der
Kupferſtecherkunſt erfunden worden.

Die Hauptumſtaͤnde des Aezens ſind folgende.
Man nimmt eine wohl geglaͤttete und fein polirte
Tafel, faſt allezeit von feinem Kupfer. Dieſe
uͤberzieht man mit einer duͤnnen Haut von Firniß,
welche man hernach mit dem Rauch einer Lampe
ſchwaͤrzt, oder mit einem andern matten Grund
uͤberzieht. Auf dieſen Grund wird die Zeichnung
ganz leicht mit Bleyſtift oder Roͤthel aufgetragen,
oder auf eine andre Art des Abzeichnens darauf
gebracht.

Nach dieſer Zeichnung wird mit einer ſcharfen
Radiernadel der Firniß bis auf das Kupfer weg-
geriſſen, auch wird wol etwas in das Kupfer hin-
eingerizt. Dieſe Verrichtung wird eigentlich das
Radiren genennt. (*)

(*) Vom
lateiniſchen
radere.

Alsdenn wird um den Rand der Tafel ein Bord
von Wachs gemacht, und das Aezwaſſer auf die
Tafel gegoſſen. Dieſes frißt alle aufgeriſſene
Striche in das Kupfer ein, ohne den Firniß ſelbſt
anzugreifen, und dieſes wird eigentlich das Aezen
genennt. Wenn es tief genug eingefreſſen hat, ſo
wird das Aezwaſſer von der Tafel abgeſpuͤhlt, der
Firniß abgenommen, und damit iſt die Tafel
fertig.

Jede
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/35>, abgerufen am 21.11.2024.