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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erh
spricht und sagt, sie sey eine Dauer ohne End, der
rührt uns wenig, weil wir nichts dabey denken;
wenn aber Haller singt:

Die schnellen Schwingen der Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind
Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind,
Ermüden über dir und finden keine Schranken.

so bekommen wir doch einigermaaßen einen Begriff
dieser unbegreiflichen Größe, indem wir sehen, daß
sie das Höchste, so wir denken können, weit über-
steigt. Wenn wir in einer Schlacht einen unbe-
kannten Menschen aus den Gliedern heraustreten
sähen, der allein das feindliche Heer schlagen wollte,
so würden wir ihn für einen unsinnigen Prahler
halten; wenn aber dieser Mann ein Achilles ist,
wenn wir aus seinem Charakter, aus seiner Fassung,
aus seinem Ton einigermaaßen begreifen, daß er
dem Unternehmen gewachsen seyn möge, alsdann
erstaunen wir über seinen Muth. So müssen wir
für jedes Erhabene ein Maaß haben, nach welchem
wir seine Größe, wiewol vergeblich, zu messen be-
müht sind. Wo dieses fehlt, da verschwindet die
Größe, oder sie wird blos zur Schwulst. Jndem
wir aber vermittelst des Maaßes, das wir haben,
die Größe des Erhabenen zu begreifen bemüht sind,
erhebt sich der Geist oder das Herz; die Seele
nihmt einen hohen Schwung um sich zu jener Größe
zu erheben. Daher kommt in einigen Fällen die
Würkung, die Longinus dem Erhabenen zuschreibt,
wenn er sagt: "Natürlicher Weise wird die Seele
durch das wahre Erhabene gleichsam erhöhet, und
indem sie selbst einen hohen Schwung bekommt, mit
Vergnügen und großen Gesinnungen erfüllt, als wenn
(*) Longi-
nus vom
Erhabenen
im VII.
Absch.
sie das, was sie hört, selbst erfunden hätte." (*)
Dieses aber gilt nur von dem Erhabenen, das eine
antreibende Kraft hat; (*) denn die von der zu-
(*) S.
Kraft
rükstoßenden Art ist, erwekt Furcht und Schreken.

Um die Gattungen des Erhabenen näher zu be-
trachten merken wir an, daß die Gegenstände der
Bewundrung entweder auf die Vorstellungskräfte
oder auf die Begehrungskräfte der Seele würken.
Denn wir bewundern die Dinge, zu deren klarer
Vorstellung unsre Begriffe nicht hinreichen, und auch
die, welche das Gefühl unsrer Begehrungskräfte
übersteigen.

Alle Gattungen der Vorstellungen, die welche
durch die Sinnen kommen, die von der Phantasie
gebildet, und die vom Verstand erzeuget werden,
[Spaltenumbruch]

Erh
können zur Bewundrung führen. Man kann die
Majestät der Natur in den Alpen nicht ohne Be-
wundrung sehen; und wer solche Gegenstände wür-
dig mahlen oder beschreiben kann, der erreicht das
blos sinnlich Erhabene, wie Haller

Der sich die Pfeiler des Himmels, die Alpen die er besungen
Zu Ehrensäulen gemacht (*).
(*) Kleist
im Früh-
ling.

Noch weiter erstrekt sich das Erhabene der Phantasie,
die uns eine zweyte sinnliche Welt erschaft. Durch
diese Größe sind die Gemählde des Himmels und
der Hölle, bey Milton und Klopstok, erhaben:
welch erstaunlicher Reichthum der Phantasie in ihren
Beschreibungen! Auch der Verstand hat erhabene
Gegenstände; so geben uns die neuern Philosophen
erhabene Begriffe von dem Weltgebäude, und von
der Größe des göttlichen Verstandes; auch nennen
wir die Wahrheiten und Betrachtungen erhaben,
da durch wenig Begriffe eine weite Gegend in dem
Reich der Wahrheit helle wird.

Wir bewundern die Gegenstände der Vorstellungs-
kräfte wegen der Menge und des Reichthums der
Dinge, die uns auf einmal vorschweben und die
wir zu fassen nicht vermögend sind, die sehr viel wei-
ter gehen, als wir folgen können; oder wir bewun-
dern sie aus Ueberraschung, weil sie unsrer Erwar-
tung entgegen laufen, weil wir etwas widerspre-
chend scheinendes für wahr erkennen; wenn das
Große klein, das Kleine groß wird; wenn aus Un-
ordnung und Verwirrung Ordnung entsteht. So
ist es ein erhabener Gedanken für die, welche die
Richtigkeit desselben einigermaaßen einsehen, daß
aus aller scheinenden Unordnung in der physischen
und sittlichen Welt, die schönste Ordnung im Gan-
zen bewürkt wird. Und wenn Pope von Gott sagt:
er sehe mit gleichem Blik eine Wasserblase und
Welten in Staub verfliegen,
oder Haller von sei-
ner Ewigkeit singt:

Der Sternen stille Majestät
Die uns zum Ziel befestigt steht,
Eilt vor dir weg wie Gras an schwühlen Commertagen:
Wie Rosen, die am Mittag zung
Und welk sind von der Dämmerung,
Eilt vor dir weg der Angelstern und Wagen.

so kommt das Erhabene dieser Gedanken aus der
wunderbaren Vergleichung dessen, was wir als das
Größte der körperlichen Welt kennen, mit dem Klei-
nesten; wodurch wir erst die wunderbare Größe
Gottes einigermaaßen erkennen, gegen den eine

ganze

[Spaltenumbruch]

Erh
ſpricht und ſagt, ſie ſey eine Dauer ohne End, der
ruͤhrt uns wenig, weil wir nichts dabey denken;
wenn aber Haller ſingt:

Die ſchnellen Schwingen der Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind
Und ſelbſt des Lichtes Fluͤgel langſam ſind,
Ermuͤden uͤber dir und finden keine Schranken.

ſo bekommen wir doch einigermaaßen einen Begriff
dieſer unbegreiflichen Groͤße, indem wir ſehen, daß
ſie das Hoͤchſte, ſo wir denken koͤnnen, weit uͤber-
ſteigt. Wenn wir in einer Schlacht einen unbe-
kannten Menſchen aus den Gliedern heraustreten
ſaͤhen, der allein das feindliche Heer ſchlagen wollte,
ſo wuͤrden wir ihn fuͤr einen unſinnigen Prahler
halten; wenn aber dieſer Mann ein Achilles iſt,
wenn wir aus ſeinem Charakter, aus ſeiner Faſſung,
aus ſeinem Ton einigermaaßen begreifen, daß er
dem Unternehmen gewachſen ſeyn moͤge, alsdann
erſtaunen wir uͤber ſeinen Muth. So muͤſſen wir
fuͤr jedes Erhabene ein Maaß haben, nach welchem
wir ſeine Groͤße, wiewol vergeblich, zu meſſen be-
muͤht ſind. Wo dieſes fehlt, da verſchwindet die
Groͤße, oder ſie wird blos zur Schwulſt. Jndem
wir aber vermittelſt des Maaßes, das wir haben,
die Groͤße des Erhabenen zu begreifen bemuͤht ſind,
erhebt ſich der Geiſt oder das Herz; die Seele
nihmt einen hohen Schwung um ſich zu jener Groͤße
zu erheben. Daher kommt in einigen Faͤllen die
Wuͤrkung, die Longinus dem Erhabenen zuſchreibt,
wenn er ſagt: „Natuͤrlicher Weiſe wird die Seele
durch das wahre Erhabene gleichſam erhoͤhet, und
indem ſie ſelbſt einen hohen Schwung bekommt, mit
Vergnuͤgen und großen Geſinnungen erfuͤllt, als wenn
(*) Longi-
nus vom
Erhabenen
im VII.
Abſch.
ſie das, was ſie hoͤrt, ſelbſt erfunden haͤtte.‟ (*)
Dieſes aber gilt nur von dem Erhabenen, das eine
antreibende Kraft hat; (*) denn die von der zu-
(*) S.
Kraft
ruͤkſtoßenden Art iſt, erwekt Furcht und Schreken.

Um die Gattungen des Erhabenen naͤher zu be-
trachten merken wir an, daß die Gegenſtaͤnde der
Bewundrung entweder auf die Vorſtellungskraͤfte
oder auf die Begehrungskraͤfte der Seele wuͤrken.
Denn wir bewundern die Dinge, zu deren klarer
Vorſtellung unſre Begriffe nicht hinreichen, und auch
die, welche das Gefuͤhl unſrer Begehrungskraͤfte
uͤberſteigen.

Alle Gattungen der Vorſtellungen, die welche
durch die Sinnen kommen, die von der Phantaſie
gebildet, und die vom Verſtand erzeuget werden,
[Spaltenumbruch]

Erh
koͤnnen zur Bewundrung fuͤhren. Man kann die
Majeſtaͤt der Natur in den Alpen nicht ohne Be-
wundrung ſehen; und wer ſolche Gegenſtaͤnde wuͤr-
dig mahlen oder beſchreiben kann, der erreicht das
blos ſinnlich Erhabene, wie Haller

Der ſich die Pfeiler des Himmels, die Alpen die er beſungen
Zu Ehrenſaͤulen gemacht (*).
(*) Kleiſt
im Fruͤh-
ling.

Noch weiter erſtrekt ſich das Erhabene der Phantaſie,
die uns eine zweyte ſinnliche Welt erſchaft. Durch
dieſe Groͤße ſind die Gemaͤhlde des Himmels und
der Hoͤlle, bey Milton und Klopſtok, erhaben:
welch erſtaunlicher Reichthum der Phantaſie in ihren
Beſchreibungen! Auch der Verſtand hat erhabene
Gegenſtaͤnde; ſo geben uns die neuern Philoſophen
erhabene Begriffe von dem Weltgebaͤude, und von
der Groͤße des goͤttlichen Verſtandes; auch nennen
wir die Wahrheiten und Betrachtungen erhaben,
da durch wenig Begriffe eine weite Gegend in dem
Reich der Wahrheit helle wird.

Wir bewundern die Gegenſtaͤnde der Vorſtellungs-
kraͤfte wegen der Menge und des Reichthums der
Dinge, die uns auf einmal vorſchweben und die
wir zu faſſen nicht vermoͤgend ſind, die ſehr viel wei-
ter gehen, als wir folgen koͤnnen; oder wir bewun-
dern ſie aus Ueberraſchung, weil ſie unſrer Erwar-
tung entgegen laufen, weil wir etwas widerſpre-
chend ſcheinendes fuͤr wahr erkennen; wenn das
Große klein, das Kleine groß wird; wenn aus Un-
ordnung und Verwirrung Ordnung entſteht. So
iſt es ein erhabener Gedanken fuͤr die, welche die
Richtigkeit deſſelben einigermaaßen einſehen, daß
aus aller ſcheinenden Unordnung in der phyſiſchen
und ſittlichen Welt, die ſchoͤnſte Ordnung im Gan-
zen bewuͤrkt wird. Und wenn Pope von Gott ſagt:
er ſehe mit gleichem Blik eine Waſſerblaſe und
Welten in Staub verfliegen,
oder Haller von ſei-
ner Ewigkeit ſingt:

Der Sternen ſtille Majeſtaͤt
Die uns zum Ziel befeſtigt ſteht,
Eilt vor dir weg wie Gras an ſchwuͤhlen Commertagen:
Wie Roſen, die am Mittag zung
Und welk ſind von der Daͤmmerung,
Eilt vor dir weg der Angelſtern und Wagen.

ſo kommt das Erhabene dieſer Gedanken aus der
wunderbaren Vergleichung deſſen, was wir als das
Groͤßte der koͤrperlichen Welt kennen, mit dem Klei-
neſten; wodurch wir erſt die wunderbare Groͤße
Gottes einigermaaßen erkennen, gegen den eine

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[342/0354] Erh Erh ſpricht und ſagt, ſie ſey eine Dauer ohne End, der ruͤhrt uns wenig, weil wir nichts dabey denken; wenn aber Haller ſingt: Die ſchnellen Schwingen der Gedanken, Wogegen Zeit und Schall und Wind Und ſelbſt des Lichtes Fluͤgel langſam ſind, Ermuͤden uͤber dir und finden keine Schranken. ſo bekommen wir doch einigermaaßen einen Begriff dieſer unbegreiflichen Groͤße, indem wir ſehen, daß ſie das Hoͤchſte, ſo wir denken koͤnnen, weit uͤber- ſteigt. Wenn wir in einer Schlacht einen unbe- kannten Menſchen aus den Gliedern heraustreten ſaͤhen, der allein das feindliche Heer ſchlagen wollte, ſo wuͤrden wir ihn fuͤr einen unſinnigen Prahler halten; wenn aber dieſer Mann ein Achilles iſt, wenn wir aus ſeinem Charakter, aus ſeiner Faſſung, aus ſeinem Ton einigermaaßen begreifen, daß er dem Unternehmen gewachſen ſeyn moͤge, alsdann erſtaunen wir uͤber ſeinen Muth. So muͤſſen wir fuͤr jedes Erhabene ein Maaß haben, nach welchem wir ſeine Groͤße, wiewol vergeblich, zu meſſen be- muͤht ſind. Wo dieſes fehlt, da verſchwindet die Groͤße, oder ſie wird blos zur Schwulſt. Jndem wir aber vermittelſt des Maaßes, das wir haben, die Groͤße des Erhabenen zu begreifen bemuͤht ſind, erhebt ſich der Geiſt oder das Herz; die Seele nihmt einen hohen Schwung um ſich zu jener Groͤße zu erheben. Daher kommt in einigen Faͤllen die Wuͤrkung, die Longinus dem Erhabenen zuſchreibt, wenn er ſagt: „Natuͤrlicher Weiſe wird die Seele durch das wahre Erhabene gleichſam erhoͤhet, und indem ſie ſelbſt einen hohen Schwung bekommt, mit Vergnuͤgen und großen Geſinnungen erfuͤllt, als wenn ſie das, was ſie hoͤrt, ſelbſt erfunden haͤtte.‟ (*) Dieſes aber gilt nur von dem Erhabenen, das eine antreibende Kraft hat; (*) denn die von der zu- ruͤkſtoßenden Art iſt, erwekt Furcht und Schreken. (*) Longi- nus vom Erhabenen im VII. Abſch. (*) S. Kraft Um die Gattungen des Erhabenen naͤher zu be- trachten merken wir an, daß die Gegenſtaͤnde der Bewundrung entweder auf die Vorſtellungskraͤfte oder auf die Begehrungskraͤfte der Seele wuͤrken. Denn wir bewundern die Dinge, zu deren klarer Vorſtellung unſre Begriffe nicht hinreichen, und auch die, welche das Gefuͤhl unſrer Begehrungskraͤfte uͤberſteigen. Alle Gattungen der Vorſtellungen, die welche durch die Sinnen kommen, die von der Phantaſie gebildet, und die vom Verſtand erzeuget werden, koͤnnen zur Bewundrung fuͤhren. Man kann die Majeſtaͤt der Natur in den Alpen nicht ohne Be- wundrung ſehen; und wer ſolche Gegenſtaͤnde wuͤr- dig mahlen oder beſchreiben kann, der erreicht das blos ſinnlich Erhabene, wie Haller Der ſich die Pfeiler des Himmels, die Alpen die er beſungen Zu Ehrenſaͤulen gemacht (*). Noch weiter erſtrekt ſich das Erhabene der Phantaſie, die uns eine zweyte ſinnliche Welt erſchaft. Durch dieſe Groͤße ſind die Gemaͤhlde des Himmels und der Hoͤlle, bey Milton und Klopſtok, erhaben: welch erſtaunlicher Reichthum der Phantaſie in ihren Beſchreibungen! Auch der Verſtand hat erhabene Gegenſtaͤnde; ſo geben uns die neuern Philoſophen erhabene Begriffe von dem Weltgebaͤude, und von der Groͤße des goͤttlichen Verſtandes; auch nennen wir die Wahrheiten und Betrachtungen erhaben, da durch wenig Begriffe eine weite Gegend in dem Reich der Wahrheit helle wird. Wir bewundern die Gegenſtaͤnde der Vorſtellungs- kraͤfte wegen der Menge und des Reichthums der Dinge, die uns auf einmal vorſchweben und die wir zu faſſen nicht vermoͤgend ſind, die ſehr viel wei- ter gehen, als wir folgen koͤnnen; oder wir bewun- dern ſie aus Ueberraſchung, weil ſie unſrer Erwar- tung entgegen laufen, weil wir etwas widerſpre- chend ſcheinendes fuͤr wahr erkennen; wenn das Große klein, das Kleine groß wird; wenn aus Un- ordnung und Verwirrung Ordnung entſteht. So iſt es ein erhabener Gedanken fuͤr die, welche die Richtigkeit deſſelben einigermaaßen einſehen, daß aus aller ſcheinenden Unordnung in der phyſiſchen und ſittlichen Welt, die ſchoͤnſte Ordnung im Gan- zen bewuͤrkt wird. Und wenn Pope von Gott ſagt: er ſehe mit gleichem Blik eine Waſſerblaſe und Welten in Staub verfliegen, oder Haller von ſei- ner Ewigkeit ſingt: Der Sternen ſtille Majeſtaͤt Die uns zum Ziel befeſtigt ſteht, Eilt vor dir weg wie Gras an ſchwuͤhlen Commertagen: Wie Roſen, die am Mittag zung Und welk ſind von der Daͤmmerung, Eilt vor dir weg der Angelſtern und Wagen. ſo kommt das Erhabene dieſer Gedanken aus der wunderbaren Vergleichung deſſen, was wir als das Groͤßte der koͤrperlichen Welt kennen, mit dem Klei- neſten; wodurch wir erſt die wunderbare Groͤße Gottes einigermaaßen erkennen, gegen den eine ganze

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/354>, abgerufen am 22.11.2024.