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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Periode die Worte, und in einem Wort die Sylben
so geordnet seyn, daß das Ohr den Anfang und das
End empfinden könne. Jn den Perioden wird die-
ses durch den rednerischen Accent und den Nume-
rus, in den Worten durch den grammatischen Accent
bewürkt. Die Periode, die ein Ganzes machen soll,
muß nothwendig so eingerichtet seyn, daß die Stim-
me des Redenden im Anfang derselben entweder
voll eintreten, eine Weile sich volltönend erhalten,
und dann allmählig wieder sinken, und zulezt einen
merklichen Fall oder Schluß machen könne: oder,
wenn das vorhergehende mit voller Stimme geschlos-
sen worden, daß nun in einer neuen Periode die
Stimme allmählig steigen, und dann auf der andern
Hälfte wieder fallen könne. Eben dieses hat auch
in einzeln Wörtern statt, die ohne die verschiedenen
Accente sich nie von einander ablösen würden. Diese
Ablösung geschieht entweder dadurch, daß der Ac-
cent auf der ersten Sylbe liegt, da die andern ohne
Accente sind; oder auf der vorletzten, wenn die vor-
hergehenden keinen haben. Durch eine kluge Wahl
solcher Worte, die, nachdem es der Zusammenhang
erfodert, den Accent bald im Anfang bald am Ende
haben, erreicht man, daß jedes sich von den übrigen
besonders ablöset, und für sich zu einem kleinen
Ganzen wird, welches wieder geschikt und unzer-
trennlich in die Periode verflochten ist. Es würde
zu mühesam seyn, diese allgemeinen Bemerkungen
durch die dahin gehörigen einzeln Fälle auszuführen.
Wir begnügen uns denen, die dem Wolklang bis
auf die besondersten Ursachen nachspühren, einige
Winke gegeben zu haben, die sie auf die richtige
Spuhr führen können.

Nun sind noch die übrigen Gattungen zu betrach-
ten. Wir wollen bey der Baukunst anfangen, weil
es da am sichtbaresten ist, wie durch Anfang und
End ein Gebäud, als ein für sich bestehendes Gan-
zes erscheint. Man stelle sich diese beyden Figuren
als Aussenseiten eines kleinen Gebäudes vor.

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Gan

Die erste Figur zeiget nichts, woraus man schließen
könnte, daß dieses eine ganze Aussenseite eines Hau-
ses vorstellen soll. Man kann sie eben so gut, als
ein Stük einer Fassade vorstellen, an welche noch
so wol auf den Seiten, als in der Höhe etwas anzu-
bauen ist; sie führt den Begriff eines Ganzen kei-
nesweges mit sich. An der zweyten Figur aber
fällt es so gleich in die Augen, daß sie eine ganze Fas-
sade vorstellt. Sie ist so wol von unten durch die
Plinthe, die den Fuß vorstellt, als von oben durch
ein Hauptgesims geendiget; so daß sich weder von
oben noch von unten etwas hinzusetzen läßt, das
nicht ausserhalb der Gränzen läge und ein unnützer
Theil wäre. Eben so sind auch beyde Seiten durch
die Ausladung der Plinthe und des Hauptgesimses
völlig begränzt, weil man deutlich sieht, daß nichts
kann daran gesetzt werden. Also dienet dieses Bey-
spiel zum Muster, wie jedes Werk der Baukunst
durch Anfang und Ende zu einem vollständigen Gan-
zen könne gemacht werden. Auch jeder einzele Theil,
in so fern er wieder ein kleineres Ganzes macht,
hat diese Vollständigkeit nöthig. Jn der ersten
Zeichnung ist man einigermaaßen ungewiß, ob die
Fenster würklich vollendet, oder nur angefangene
Oefnungen, oder gar in der Mauer gelassene Löcher
seyen, die noch zugemauret oder erweitert werden
sollen. Diese Ungewißheit hat in der zweyten Zeich-
nung nicht mehr statt. Blos die Einfaßungen um
die Fenster zeigen deutlich an, daß diese Oefnungen
nicht zufällige, oder noch nicht fertige Löcher, son-
dern würkliche Fenster seyen, die durch die Einfas-
sung auf allen Seiten ihre Begränzung haben.

Das Gefühl von der Nothwendigkeit, jedem Kör-
per, der nicht als ein abgebrochenes Stük, sondern
als ein Ganzes erscheinen soll, einen Anfang und
ein Ende zu geben, ist so gewiß und so allgemein,
daß wir die Aeusserung davon überall sehen kön-
nen. Ein Mensch aus dem niedrigsten Haufen
der am wenigsten über Schönheit und Geschmak
nachdenket, wird doch seinem, aus einem Zaun ge-
rissenen Stok, oben eine Art von Knopf und unten
eine Spitze zu geben suchen, damit es ein ganzer
Stok und nicht ein Stük eines Stoks sey. Daher
sehen wir so wol in den ältesten, als in den unzier-
lichsten Gebäuden, schon überall, wo Säulen und
Pfeiler sind, Spuhren von Fuß und Knauff, ohne
welche die Säule nicht sowol eine Säule, als ein
Stük einer Säule seyn würde. Um so viel weni-

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Gan
Periode die Worte, und in einem Wort die Sylben
ſo geordnet ſeyn, daß das Ohr den Anfang und das
End empfinden koͤnne. Jn den Perioden wird die-
ſes durch den redneriſchen Accent und den Nume-
rus, in den Worten durch den grammatiſchen Accent
bewuͤrkt. Die Periode, die ein Ganzes machen ſoll,
muß nothwendig ſo eingerichtet ſeyn, daß die Stim-
me des Redenden im Anfang derſelben entweder
voll eintreten, eine Weile ſich volltoͤnend erhalten,
und dann allmaͤhlig wieder ſinken, und zulezt einen
merklichen Fall oder Schluß machen koͤnne: oder,
wenn das vorhergehende mit voller Stimme geſchloſ-
ſen worden, daß nun in einer neuen Periode die
Stimme allmaͤhlig ſteigen, und dann auf der andern
Haͤlfte wieder fallen koͤnne. Eben dieſes hat auch
in einzeln Woͤrtern ſtatt, die ohne die verſchiedenen
Accente ſich nie von einander abloͤſen wuͤrden. Dieſe
Abloͤſung geſchieht entweder dadurch, daß der Ac-
cent auf der erſten Sylbe liegt, da die andern ohne
Accente ſind; oder auf der vorletzten, wenn die vor-
hergehenden keinen haben. Durch eine kluge Wahl
ſolcher Worte, die, nachdem es der Zuſammenhang
erfodert, den Accent bald im Anfang bald am Ende
haben, erreicht man, daß jedes ſich von den uͤbrigen
beſonders abloͤſet, und fuͤr ſich zu einem kleinen
Ganzen wird, welches wieder geſchikt und unzer-
trennlich in die Periode verflochten iſt. Es wuͤrde
zu muͤheſam ſeyn, dieſe allgemeinen Bemerkungen
durch die dahin gehoͤrigen einzeln Faͤlle auszufuͤhren.
Wir begnuͤgen uns denen, die dem Wolklang bis
auf die beſonderſten Urſachen nachſpuͤhren, einige
Winke gegeben zu haben, die ſie auf die richtige
Spuhr fuͤhren koͤnnen.

Nun ſind noch die uͤbrigen Gattungen zu betrach-
ten. Wir wollen bey der Baukunſt anfangen, weil
es da am ſichtbareſten iſt, wie durch Anfang und
End ein Gebaͤud, als ein fuͤr ſich beſtehendes Gan-
zes erſcheint. Man ſtelle ſich dieſe beyden Figuren
als Auſſenſeiten eines kleinen Gebaͤudes vor.

[Abbildung]
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Gan

Die erſte Figur zeiget nichts, woraus man ſchließen
koͤnnte, daß dieſes eine ganze Auſſenſeite eines Hau-
ſes vorſtellen ſoll. Man kann ſie eben ſo gut, als
ein Stuͤk einer Faſſade vorſtellen, an welche noch
ſo wol auf den Seiten, als in der Hoͤhe etwas anzu-
bauen iſt; ſie fuͤhrt den Begriff eines Ganzen kei-
nesweges mit ſich. An der zweyten Figur aber
faͤllt es ſo gleich in die Augen, daß ſie eine ganze Faſ-
ſade vorſtellt. Sie iſt ſo wol von unten durch die
Plinthe, die den Fuß vorſtellt, als von oben durch
ein Hauptgeſims geendiget; ſo daß ſich weder von
oben noch von unten etwas hinzuſetzen laͤßt, das
nicht auſſerhalb der Graͤnzen laͤge und ein unnuͤtzer
Theil waͤre. Eben ſo ſind auch beyde Seiten durch
die Ausladung der Plinthe und des Hauptgeſimſes
voͤllig begraͤnzt, weil man deutlich ſieht, daß nichts
kann daran geſetzt werden. Alſo dienet dieſes Bey-
ſpiel zum Muſter, wie jedes Werk der Baukunſt
durch Anfang und Ende zu einem vollſtaͤndigen Gan-
zen koͤnne gemacht werden. Auch jeder einzele Theil,
in ſo fern er wieder ein kleineres Ganzes macht,
hat dieſe Vollſtaͤndigkeit noͤthig. Jn der erſten
Zeichnung iſt man einigermaaßen ungewiß, ob die
Fenſter wuͤrklich vollendet, oder nur angefangene
Oefnungen, oder gar in der Mauer gelaſſene Loͤcher
ſeyen, die noch zugemauret oder erweitert werden
ſollen. Dieſe Ungewißheit hat in der zweyten Zeich-
nung nicht mehr ſtatt. Blos die Einfaßungen um
die Fenſter zeigen deutlich an, daß dieſe Oefnungen
nicht zufaͤllige, oder noch nicht fertige Loͤcher, ſon-
dern wuͤrkliche Fenſter ſeyen, die durch die Einfaſ-
ſung auf allen Seiten ihre Begraͤnzung haben.

Das Gefuͤhl von der Nothwendigkeit, jedem Koͤr-
per, der nicht als ein abgebrochenes Stuͤk, ſondern
als ein Ganzes erſcheinen ſoll, einen Anfang und
ein Ende zu geben, iſt ſo gewiß und ſo allgemein,
daß wir die Aeuſſerung davon uͤberall ſehen koͤn-
nen. Ein Menſch aus dem niedrigſten Haufen
der am wenigſten uͤber Schoͤnheit und Geſchmak
nachdenket, wird doch ſeinem, aus einem Zaun ge-
riſſenen Stok, oben eine Art von Knopf und unten
eine Spitze zu geben ſuchen, damit es ein ganzer
Stok und nicht ein Stuͤk eines Stoks ſey. Daher
ſehen wir ſo wol in den aͤlteſten, als in den unzier-
lichſten Gebaͤuden, ſchon uͤberall, wo Saͤulen und
Pfeiler ſind, Spuhren von Fuß und Knauff, ohne
welche die Saͤule nicht ſowol eine Saͤule, als ein
Stuͤk einer Saͤule ſeyn wuͤrde. Um ſo viel weni-

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[419/0431] Gan Gan Periode die Worte, und in einem Wort die Sylben ſo geordnet ſeyn, daß das Ohr den Anfang und das End empfinden koͤnne. Jn den Perioden wird die- ſes durch den redneriſchen Accent und den Nume- rus, in den Worten durch den grammatiſchen Accent bewuͤrkt. Die Periode, die ein Ganzes machen ſoll, muß nothwendig ſo eingerichtet ſeyn, daß die Stim- me des Redenden im Anfang derſelben entweder voll eintreten, eine Weile ſich volltoͤnend erhalten, und dann allmaͤhlig wieder ſinken, und zulezt einen merklichen Fall oder Schluß machen koͤnne: oder, wenn das vorhergehende mit voller Stimme geſchloſ- ſen worden, daß nun in einer neuen Periode die Stimme allmaͤhlig ſteigen, und dann auf der andern Haͤlfte wieder fallen koͤnne. Eben dieſes hat auch in einzeln Woͤrtern ſtatt, die ohne die verſchiedenen Accente ſich nie von einander abloͤſen wuͤrden. Dieſe Abloͤſung geſchieht entweder dadurch, daß der Ac- cent auf der erſten Sylbe liegt, da die andern ohne Accente ſind; oder auf der vorletzten, wenn die vor- hergehenden keinen haben. Durch eine kluge Wahl ſolcher Worte, die, nachdem es der Zuſammenhang erfodert, den Accent bald im Anfang bald am Ende haben, erreicht man, daß jedes ſich von den uͤbrigen beſonders abloͤſet, und fuͤr ſich zu einem kleinen Ganzen wird, welches wieder geſchikt und unzer- trennlich in die Periode verflochten iſt. Es wuͤrde zu muͤheſam ſeyn, dieſe allgemeinen Bemerkungen durch die dahin gehoͤrigen einzeln Faͤlle auszufuͤhren. Wir begnuͤgen uns denen, die dem Wolklang bis auf die beſonderſten Urſachen nachſpuͤhren, einige Winke gegeben zu haben, die ſie auf die richtige Spuhr fuͤhren koͤnnen. Nun ſind noch die uͤbrigen Gattungen zu betrach- ten. Wir wollen bey der Baukunſt anfangen, weil es da am ſichtbareſten iſt, wie durch Anfang und End ein Gebaͤud, als ein fuͤr ſich beſtehendes Gan- zes erſcheint. Man ſtelle ſich dieſe beyden Figuren als Auſſenſeiten eines kleinen Gebaͤudes vor. [Abbildung] Die erſte Figur zeiget nichts, woraus man ſchließen koͤnnte, daß dieſes eine ganze Auſſenſeite eines Hau- ſes vorſtellen ſoll. Man kann ſie eben ſo gut, als ein Stuͤk einer Faſſade vorſtellen, an welche noch ſo wol auf den Seiten, als in der Hoͤhe etwas anzu- bauen iſt; ſie fuͤhrt den Begriff eines Ganzen kei- nesweges mit ſich. An der zweyten Figur aber faͤllt es ſo gleich in die Augen, daß ſie eine ganze Faſ- ſade vorſtellt. Sie iſt ſo wol von unten durch die Plinthe, die den Fuß vorſtellt, als von oben durch ein Hauptgeſims geendiget; ſo daß ſich weder von oben noch von unten etwas hinzuſetzen laͤßt, das nicht auſſerhalb der Graͤnzen laͤge und ein unnuͤtzer Theil waͤre. Eben ſo ſind auch beyde Seiten durch die Ausladung der Plinthe und des Hauptgeſimſes voͤllig begraͤnzt, weil man deutlich ſieht, daß nichts kann daran geſetzt werden. Alſo dienet dieſes Bey- ſpiel zum Muſter, wie jedes Werk der Baukunſt durch Anfang und Ende zu einem vollſtaͤndigen Gan- zen koͤnne gemacht werden. Auch jeder einzele Theil, in ſo fern er wieder ein kleineres Ganzes macht, hat dieſe Vollſtaͤndigkeit noͤthig. Jn der erſten Zeichnung iſt man einigermaaßen ungewiß, ob die Fenſter wuͤrklich vollendet, oder nur angefangene Oefnungen, oder gar in der Mauer gelaſſene Loͤcher ſeyen, die noch zugemauret oder erweitert werden ſollen. Dieſe Ungewißheit hat in der zweyten Zeich- nung nicht mehr ſtatt. Blos die Einfaßungen um die Fenſter zeigen deutlich an, daß dieſe Oefnungen nicht zufaͤllige, oder noch nicht fertige Loͤcher, ſon- dern wuͤrkliche Fenſter ſeyen, die durch die Einfaſ- ſung auf allen Seiten ihre Begraͤnzung haben. Das Gefuͤhl von der Nothwendigkeit, jedem Koͤr- per, der nicht als ein abgebrochenes Stuͤk, ſondern als ein Ganzes erſcheinen ſoll, einen Anfang und ein Ende zu geben, iſt ſo gewiß und ſo allgemein, daß wir die Aeuſſerung davon uͤberall ſehen koͤn- nen. Ein Menſch aus dem niedrigſten Haufen der am wenigſten uͤber Schoͤnheit und Geſchmak nachdenket, wird doch ſeinem, aus einem Zaun ge- riſſenen Stok, oben eine Art von Knopf und unten eine Spitze zu geben ſuchen, damit es ein ganzer Stok und nicht ein Stuͤk eines Stoks ſey. Daher ſehen wir ſo wol in den aͤlteſten, als in den unzier- lichſten Gebaͤuden, ſchon uͤberall, wo Saͤulen und Pfeiler ſind, Spuhren von Fuß und Knauff, ohne welche die Saͤule nicht ſowol eine Saͤule, als ein Stuͤk einer Saͤule ſeyn wuͤrde. Um ſo viel weni- ger G g g 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/431>, abgerufen am 22.11.2024.