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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Jm Gan Gar
zen abgelöset, sondern blos in Rüksicht auf das, was
schon vom Ganzen bestimmt ist, beurtheilet, so be-
trachtet man das Werk im Ganzen.

Es ist eine wichtige Anmerkung, daß gewisse Werke
der Kunst die Würkung des Ganzen zur Absicht haben,
so daß die Theile blos des Ganzen halber da sind;
da andre Werke einzele Theile zur Hauptabsicht
haben. So wie es in der Mahlerey Landschaf-
ten giebt, in welchen kein einziger besonderer Ge-
genstand vorkömmt, der eine große Aufmerksamkeit
verdiente, alle zusammen aber eine reizende Aus-
sicht machen, so ist es auch mit andern Werken der
Kunst. Hingegen giebt es auch Werke, worin das
Einzele die Hauptsach ist. Man hat Comödien,
die im Ganzen betrachtet, wenig Aufmerksamkeit ver-
dienen, aber der einzeln Charaktere halber sehr
wichtig sind. Jn jedem Gebäude muß die Aussenseite
im Ganzen betrachtet werden; kein einziger Theil
derselben ist für sich da, sondern blos, um die Würkung
des Ganzen erreichen zu helfen: in dem innern der
Gebäude aber, und so auch in den Gärten, ist bald
jeder Theil seiner selbst wegen da, und wenige zur
Würkung des Ganzen. So muß die Odyssee mehr
im Ganzen, und die Jlias mehr in einzeln Theilen
betrachtet und beurtheilet werden.

Dieser Unterschied erfodert von Seite des Künst-
lers eine doppelte Behandlung, und von Seite des
Kenners eine doppelte Beurtheilung der Werke.
Jn denjenigen, bey denen die Hauptabsicht durch
das Ganze soll erreicht werden, muß jeder besondere
Theil schlechterdings nur in der Form, Größe oder
Kraft erscheinen, die zum Ganzen am schiklichsten
ist; da hingegen in den andern die größte Sorgfalt
auf einzele Theile gerichtet werden muß, das Ganze
aber hinlänglich besorget ist, wenn es Einförmigkeit
(*) S.
Einförmig-
keit.
hat, und ein mechanisches Ganzes ausmacht. (*)

Gartenkunst.

Diese Kunst hat eben so viel Recht als die Baukunst,
ihren Rang unter den schönen Künsten zu nehmen.
Sie stammt unmittelbar von der Natur ab, die
selbst die vollkommenste Gärtnerin ist. So wie
also die zeichnenden Künste die von der Natur gebil-
deten schönen Formen zum Behuf der Kunst nach-
ahmen, so macht es auch die Gartenkunst, die mit
Geschmak und Ueberlegung jede Schönheit der leb-
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Gar
losen Natur nachahmet, und das, was sie einzeln
findet, mit Geschmak in einen Lustgarten vereiniget.
Da die Natur den allgemeinen Wohnplatz der Men-
schen so schön ausgeschmükt, und mit Gegenstän-
den so mancherley Art, die in so angenehmer Ab-
wechslung auf uns würken, bereichert hat; so ist es
sehr vernünftig, daß der Mensch in Anordnung sei-
nes besondern Wohnplatzes ihr darin nachahmet,
und sich die Gegend, wo er die meiste Zeit seines
Lebens zubringen muß, so schön macht, als er kann.
Dazu hilft ihm die Gartenkunst, der es auch nicht
an sittlicher Kraft auf die Gemüther fehlet, wie
schon anderswo ist bemerkt worden (*). Man sieht(*) S
Baukunst.

augenscheinlich, daß die Einwohner schöner Länder
mehr Leben und mehr Anmuthigkeit des Geistes
besitzen, als die, die vom Schiksal in schlechte Ge-
genden versetzt worden sind. Hieraus läßt sich der
Werth der Kunst, von der hier die Rede ist, ab-
nehmen.

Das Wesen dieser Kunst besteht also darin, daß
sie aus einem gegebenen Platz, nach Maaßgebung
seiner Größe und Lage, eine so angenehme und zu-
gleich so natürliche Gegend mache, als es die beson-
dern Umstände erlauben. Sie hat keine andre
Grundsätze, als ein gesundes Urtheil und Geschmak,
auf die Betrachtung dessen angewendet, was in
Gegenden, Landschaften und einzeln Theilen dersel-
ben angenehm ist. Man studiret diese Kunst blos
in der Natur selbst, bey Spaziergängen, bald in
offenen Gegenden, bald in Wäldern, bald in Bü-
schen, oder auf einsamen Fluhren, auf Hügeln und in
Thälern. Jede Schönheit, die die Natur an solchen
Oertern anzubringen gewußt hat, muß einem ver-
ständigen Gärtner fühlbar seyn. So wie der Hi-
storienmahler Phisionomien, Stellungen und Ge-
behrden beobachtet und sammelt, so bereichert
der Gärtner seine Einbildungskraft mit angeneh-
men Gegenden und Scenen, um bey jedem
Garten so viel, als sich jedesmal schiket, davon
anzubringen.

Diesen Reichthum der Phantasie aber muß er
mit Beurtheilung und Geschmak brauchen, damit
er jedem seinen Ort zu geben wisse und nichts zur
Unzeit anbringe. Eine Grotte muß nicht an einem
Parterre, und ein einsamer dunkeler Busch nicht
gerade vor einem Hauptgebäude angelegt werden.
Das Offene und das Verschlossene, das Ordentliche

oder
G g g 3

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Jm Gan Gar
zen abgeloͤſet, ſondern blos in Ruͤkſicht auf das, was
ſchon vom Ganzen beſtimmt iſt, beurtheilet, ſo be-
trachtet man das Werk im Ganzen.

Es iſt eine wichtige Anmerkung, daß gewiſſe Werke
der Kunſt die Wuͤrkung des Ganzen zur Abſicht haben,
ſo daß die Theile blos des Ganzen halber da ſind;
da andre Werke einzele Theile zur Hauptabſicht
haben. So wie es in der Mahlerey Landſchaf-
ten giebt, in welchen kein einziger beſonderer Ge-
genſtand vorkoͤmmt, der eine große Aufmerkſamkeit
verdiente, alle zuſammen aber eine reizende Auſ-
ſicht machen, ſo iſt es auch mit andern Werken der
Kunſt. Hingegen giebt es auch Werke, worin das
Einzele die Hauptſach iſt. Man hat Comoͤdien,
die im Ganzen betrachtet, wenig Aufmerkſamkeit ver-
dienen, aber der einzeln Charaktere halber ſehr
wichtig ſind. Jn jedem Gebaͤude muß die Auſſenſeite
im Ganzen betrachtet werden; kein einziger Theil
derſelben iſt fuͤr ſich da, ſondern blos, um die Wuͤrkung
des Ganzen erreichen zu helfen: in dem innern der
Gebaͤude aber, und ſo auch in den Gaͤrten, iſt bald
jeder Theil ſeiner ſelbſt wegen da, und wenige zur
Wuͤrkung des Ganzen. So muß die Odyſſee mehr
im Ganzen, und die Jlias mehr in einzeln Theilen
betrachtet und beurtheilet werden.

Dieſer Unterſchied erfodert von Seite des Kuͤnſt-
lers eine doppelte Behandlung, und von Seite des
Kenners eine doppelte Beurtheilung der Werke.
Jn denjenigen, bey denen die Hauptabſicht durch
das Ganze ſoll erreicht werden, muß jeder beſondere
Theil ſchlechterdings nur in der Form, Groͤße oder
Kraft erſcheinen, die zum Ganzen am ſchiklichſten
iſt; da hingegen in den andern die groͤßte Sorgfalt
auf einzele Theile gerichtet werden muß, das Ganze
aber hinlaͤnglich beſorget iſt, wenn es Einfoͤrmigkeit
(*) S.
Einfoͤrmig-
keit.
hat, und ein mechaniſches Ganzes ausmacht. (*)

Gartenkunſt.

Dieſe Kunſt hat eben ſo viel Recht als die Baukunſt,
ihren Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu nehmen.
Sie ſtammt unmittelbar von der Natur ab, die
ſelbſt die vollkommenſte Gaͤrtnerin iſt. So wie
alſo die zeichnenden Kuͤnſte die von der Natur gebil-
deten ſchoͤnen Formen zum Behuf der Kunſt nach-
ahmen, ſo macht es auch die Gartenkunſt, die mit
Geſchmak und Ueberlegung jede Schoͤnheit der leb-
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Gar
loſen Natur nachahmet, und das, was ſie einzeln
findet, mit Geſchmak in einen Luſtgarten vereiniget.
Da die Natur den allgemeinen Wohnplatz der Men-
ſchen ſo ſchoͤn ausgeſchmuͤkt, und mit Gegenſtaͤn-
den ſo mancherley Art, die in ſo angenehmer Ab-
wechslung auf uns wuͤrken, bereichert hat; ſo iſt es
ſehr vernuͤnftig, daß der Menſch in Anordnung ſei-
nes beſondern Wohnplatzes ihr darin nachahmet,
und ſich die Gegend, wo er die meiſte Zeit ſeines
Lebens zubringen muß, ſo ſchoͤn macht, als er kann.
Dazu hilft ihm die Gartenkunſt, der es auch nicht
an ſittlicher Kraft auf die Gemuͤther fehlet, wie
ſchon anderswo iſt bemerkt worden (*). Man ſieht(*) S
Baukunſt.

augenſcheinlich, daß die Einwohner ſchoͤner Laͤnder
mehr Leben und mehr Anmuthigkeit des Geiſtes
beſitzen, als die, die vom Schikſal in ſchlechte Ge-
genden verſetzt worden ſind. Hieraus laͤßt ſich der
Werth der Kunſt, von der hier die Rede iſt, ab-
nehmen.

Das Weſen dieſer Kunſt beſteht alſo darin, daß
ſie aus einem gegebenen Platz, nach Maaßgebung
ſeiner Groͤße und Lage, eine ſo angenehme und zu-
gleich ſo natuͤrliche Gegend mache, als es die beſon-
dern Umſtaͤnde erlauben. Sie hat keine andre
Grundſaͤtze, als ein geſundes Urtheil und Geſchmak,
auf die Betrachtung deſſen angewendet, was in
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ben angenehm iſt. Man ſtudiret dieſe Kunſt blos
in der Natur ſelbſt, bey Spaziergaͤngen, bald in
offenen Gegenden, bald in Waͤldern, bald in Buͤ-
ſchen, oder auf einſamen Fluhren, auf Huͤgeln und in
Thaͤlern. Jede Schoͤnheit, die die Natur an ſolchen
Oertern anzubringen gewußt hat, muß einem ver-
ſtaͤndigen Gaͤrtner fuͤhlbar ſeyn. So wie der Hi-
ſtorienmahler Phiſionomien, Stellungen und Ge-
behrden beobachtet und ſammelt, ſo bereichert
der Gaͤrtner ſeine Einbildungskraft mit angeneh-
men Gegenden und Scenen, um bey jedem
Garten ſo viel, als ſich jedesmal ſchiket, davon
anzubringen.

Dieſen Reichthum der Phantaſie aber muß er
mit Beurtheilung und Geſchmak brauchen, damit
er jedem ſeinen Ort zu geben wiſſe und nichts zur
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Parterre, und ein einſamer dunkeler Buſch nicht
gerade vor einem Hauptgebaͤude angelegt werden.
Das Offene und das Verſchloſſene, das Ordentliche

oder
G g g 3
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[421/0433] Jm Gan Gar Gar zen abgeloͤſet, ſondern blos in Ruͤkſicht auf das, was ſchon vom Ganzen beſtimmt iſt, beurtheilet, ſo be- trachtet man das Werk im Ganzen. Es iſt eine wichtige Anmerkung, daß gewiſſe Werke der Kunſt die Wuͤrkung des Ganzen zur Abſicht haben, ſo daß die Theile blos des Ganzen halber da ſind; da andre Werke einzele Theile zur Hauptabſicht haben. So wie es in der Mahlerey Landſchaf- ten giebt, in welchen kein einziger beſonderer Ge- genſtand vorkoͤmmt, der eine große Aufmerkſamkeit verdiente, alle zuſammen aber eine reizende Auſ- ſicht machen, ſo iſt es auch mit andern Werken der Kunſt. Hingegen giebt es auch Werke, worin das Einzele die Hauptſach iſt. Man hat Comoͤdien, die im Ganzen betrachtet, wenig Aufmerkſamkeit ver- dienen, aber der einzeln Charaktere halber ſehr wichtig ſind. Jn jedem Gebaͤude muß die Auſſenſeite im Ganzen betrachtet werden; kein einziger Theil derſelben iſt fuͤr ſich da, ſondern blos, um die Wuͤrkung des Ganzen erreichen zu helfen: in dem innern der Gebaͤude aber, und ſo auch in den Gaͤrten, iſt bald jeder Theil ſeiner ſelbſt wegen da, und wenige zur Wuͤrkung des Ganzen. So muß die Odyſſee mehr im Ganzen, und die Jlias mehr in einzeln Theilen betrachtet und beurtheilet werden. Dieſer Unterſchied erfodert von Seite des Kuͤnſt- lers eine doppelte Behandlung, und von Seite des Kenners eine doppelte Beurtheilung der Werke. Jn denjenigen, bey denen die Hauptabſicht durch das Ganze ſoll erreicht werden, muß jeder beſondere Theil ſchlechterdings nur in der Form, Groͤße oder Kraft erſcheinen, die zum Ganzen am ſchiklichſten iſt; da hingegen in den andern die groͤßte Sorgfalt auf einzele Theile gerichtet werden muß, das Ganze aber hinlaͤnglich beſorget iſt, wenn es Einfoͤrmigkeit hat, und ein mechaniſches Ganzes ausmacht. (*) (*) S. Einfoͤrmig- keit. Gartenkunſt. Dieſe Kunſt hat eben ſo viel Recht als die Baukunſt, ihren Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu nehmen. Sie ſtammt unmittelbar von der Natur ab, die ſelbſt die vollkommenſte Gaͤrtnerin iſt. So wie alſo die zeichnenden Kuͤnſte die von der Natur gebil- deten ſchoͤnen Formen zum Behuf der Kunſt nach- ahmen, ſo macht es auch die Gartenkunſt, die mit Geſchmak und Ueberlegung jede Schoͤnheit der leb- loſen Natur nachahmet, und das, was ſie einzeln findet, mit Geſchmak in einen Luſtgarten vereiniget. Da die Natur den allgemeinen Wohnplatz der Men- ſchen ſo ſchoͤn ausgeſchmuͤkt, und mit Gegenſtaͤn- den ſo mancherley Art, die in ſo angenehmer Ab- wechslung auf uns wuͤrken, bereichert hat; ſo iſt es ſehr vernuͤnftig, daß der Menſch in Anordnung ſei- nes beſondern Wohnplatzes ihr darin nachahmet, und ſich die Gegend, wo er die meiſte Zeit ſeines Lebens zubringen muß, ſo ſchoͤn macht, als er kann. Dazu hilft ihm die Gartenkunſt, der es auch nicht an ſittlicher Kraft auf die Gemuͤther fehlet, wie ſchon anderswo iſt bemerkt worden (*). Man ſieht augenſcheinlich, daß die Einwohner ſchoͤner Laͤnder mehr Leben und mehr Anmuthigkeit des Geiſtes beſitzen, als die, die vom Schikſal in ſchlechte Ge- genden verſetzt worden ſind. Hieraus laͤßt ſich der Werth der Kunſt, von der hier die Rede iſt, ab- nehmen. (*) S Baukunſt. Das Weſen dieſer Kunſt beſteht alſo darin, daß ſie aus einem gegebenen Platz, nach Maaßgebung ſeiner Groͤße und Lage, eine ſo angenehme und zu- gleich ſo natuͤrliche Gegend mache, als es die beſon- dern Umſtaͤnde erlauben. Sie hat keine andre Grundſaͤtze, als ein geſundes Urtheil und Geſchmak, auf die Betrachtung deſſen angewendet, was in Gegenden, Landſchaften und einzeln Theilen derſel- ben angenehm iſt. Man ſtudiret dieſe Kunſt blos in der Natur ſelbſt, bey Spaziergaͤngen, bald in offenen Gegenden, bald in Waͤldern, bald in Buͤ- ſchen, oder auf einſamen Fluhren, auf Huͤgeln und in Thaͤlern. Jede Schoͤnheit, die die Natur an ſolchen Oertern anzubringen gewußt hat, muß einem ver- ſtaͤndigen Gaͤrtner fuͤhlbar ſeyn. So wie der Hi- ſtorienmahler Phiſionomien, Stellungen und Ge- behrden beobachtet und ſammelt, ſo bereichert der Gaͤrtner ſeine Einbildungskraft mit angeneh- men Gegenden und Scenen, um bey jedem Garten ſo viel, als ſich jedesmal ſchiket, davon anzubringen. Dieſen Reichthum der Phantaſie aber muß er mit Beurtheilung und Geſchmak brauchen, damit er jedem ſeinen Ort zu geben wiſſe und nichts zur Unzeit anbringe. Eine Grotte muß nicht an einem Parterre, und ein einſamer dunkeler Buſch nicht gerade vor einem Hauptgebaͤude angelegt werden. Das Offene und das Verſchloſſene, das Ordentliche oder G g g 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/433>, abgerufen am 22.11.2024.