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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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den können. Man setzet sie so weit aus einander,
daß zwischen zweyen, wo sie am dikkesten sind, we-
nigstens so viel leeres sey, als die Dike des Halses
einer Dokke beträgt.

Diese Geländer versteken das Dach eines Ge-
bäudes, und geben ihm daher auch ein besseres An-
sehen. Man findet sie an keinen antiken Gebäu-
den, und Vitruvius gedenkt ihrer nicht. Die fla-
chen Dächer der Alten machten sie auch nicht so
nothwendig, als sie uns sind. Vermuthlich haben
die Alten zur Verwahrung gegen das Herunterfallen
von Dächern maßive Brustwehren gemacht.

Von den eisernen Laubgeländern haben wir hier
nichts zu sagen, weil sie mehr unter ganz willkühr-
liche Zierrathen gehören, und ein Werk des Schlös-
sers sind. Eine Menge Zeichnungen solcher Gelän-
der kann man bey Daviller finden.

Gelenke.
(Zeichnende Künste)

Die Stellen, da ein bewegliches Glied an ein an-
ders Glied anschließt. Das Wort wird zwar auch
in metaphorischem Sinn genommen; denn man
sagt auch von einer steifen Schreibart, sie sey ohne
Gelenke. Jn so fern bedeutet dieses Wort eine
leichte Verbindung verschiedener zu einem Ganzen
gehöriger Glieder. Was zu diesem Begriff gehört,
kömmt weiter unten in dem Artikel Glied, vor: also
wird das Wort hier nur in dem eigentlichen Sinn,
da von Gliedern des menschlichen und thierischen
Körpers die Rede ist, genommen. Wie die Natur
an den Gelenken eine große Kunst bewiesen hat, so
ist auch die richtige Zeichnung derselben ein schwee-
rer Theil der Kunst, der zwar kein Genie, aber desto
mehr Studium, Fleiß und Uebung erfodert.

Der Zeichner, der nicht eine sehr richtige Kennt-
nis dieses Theils der Anatomie hat, der die Osteo-
logie genennt wird, kann hier nicht fortkommen.
Also sollte jeder Zeichner fleißig bloße Skellette ab-
zeichnen, um sich diesen Theil der Kunst völlig ge-
läufig zu machen. Dazu muß aber auch ein lang
anhaltendes Zeichnen, nach lebendigen Modeln von
verschiedenem Alter und von verschiedener Leibesbe-
schaffenheit kommen. Denn die äussere Form der
Gelenke ist nach Beschaffenheit des Alters, und der
magern oder fetten Leibesbeschaffenheit gar sehr ver-
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Gel
schieden. Eine Figur, darin, nach der Stellung
und übrigen Beschaffenheit der Sache, die Gelenke
mit völliger Richtigkeit ausgedrukt sind, bekömmt
dadurch ein ungemeines Leben. Wo hingegen in
diesem Stüke gefehlt wird, da ist alles übrige der
Kunst verlohren. Der erste Eindruk, den eine ge-
zeichnete Figur machen muß, ist das Gefühl der
vollkommen natürlichen Form, ohne welches der
Begriff der Schönheit nie statt haben kann. Das
Mangelhafte der natürlichen Form aber empfindet
man so gleich, wenn in der Zeichnung der Gelenke
etwas versehen ist. Deswegen muß jeder Zeichner
diesen Theil mit der größten Sorgfalt studiren.

Geltung.
(Musik.)

Jst in der Musik die verhältnismäßige Dauer einer
Note, oder vielmehr des Tones, den sie bezeichnet.
Schon in der Rede beruhet der Wolklang größten-
theils auf der verhältnismäßigen Länge und Kürze
der Sylben; aber in der Musik, wo der Gang auf
das genaueste muß abgemessen seyn, kömmt die Rich-
tigkeit der Bewegung und des Takts fast lediglich
auf die genaueste Abmessung der Dauer eines jeden
Tones an. Daher müssen die Noten jede Abmes-
sung der Zeit genau ausdrüken.

Jn den alten Zeiten wurden die Töne blos durch
Punkten, oder andre Zeichen (Noten) angedeutet,
aus denen man die Höhe der Töne erkennen konnte;
die Dauer derselben wurde durch die prosodische
Länge der Sylben bestimmt. Damals hatte die
Musik weder Takt noch Bewegung, und der Gesang
glich einem langsam fortfließenden Strohm, in dessen
Lauf man weder Schritte noch Abschnitte wahr-
nihmt. So bald man aber Takt und Rhythmus in
den Gesang einführte, mußten die Noten auch von
verschiedener Geltung seyn. Man weiß nicht recht,
zu welcher Zeit diese, an Geltung verschiedene, Noten
erfunden und eingeführt worden sind. Jnsgemein
schreibet man diese Erfindung dem Johann von Mu-
ris
zu, und setzet sie um das Jahr 1330. Roußeau
hält sie, und wie es scheinet aus guten Gründen, für
viel älter (*).

(*) Diction.
de Mus.
Art. Va-
leur.

Anfänglich, als man, wie es scheinet, nur noch
die Choralgesänge in Noten setzte, waren diese von
fünferley Geltung; ihre Figuren wie sie gegenwär-

tig

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Gel
den koͤnnen. Man ſetzet ſie ſo weit aus einander,
daß zwiſchen zweyen, wo ſie am dikkeſten ſind, we-
nigſtens ſo viel leeres ſey, als die Dike des Halſes
einer Dokke betraͤgt.

Dieſe Gelaͤnder verſteken das Dach eines Ge-
baͤudes, und geben ihm daher auch ein beſſeres An-
ſehen. Man findet ſie an keinen antiken Gebaͤu-
den, und Vitruvius gedenkt ihrer nicht. Die fla-
chen Daͤcher der Alten machten ſie auch nicht ſo
nothwendig, als ſie uns ſind. Vermuthlich haben
die Alten zur Verwahrung gegen das Herunterfallen
von Daͤchern maßive Bruſtwehren gemacht.

Von den eiſernen Laubgelaͤndern haben wir hier
nichts zu ſagen, weil ſie mehr unter ganz willkuͤhr-
liche Zierrathen gehoͤren, und ein Werk des Schloͤſ-
ſers ſind. Eine Menge Zeichnungen ſolcher Gelaͤn-
der kann man bey Daviller finden.

Gelenke.
(Zeichnende Kuͤnſte)

Die Stellen, da ein bewegliches Glied an ein an-
ders Glied anſchließt. Das Wort wird zwar auch
in metaphoriſchem Sinn genommen; denn man
ſagt auch von einer ſteifen Schreibart, ſie ſey ohne
Gelenke. Jn ſo fern bedeutet dieſes Wort eine
leichte Verbindung verſchiedener zu einem Ganzen
gehoͤriger Glieder. Was zu dieſem Begriff gehoͤrt,
koͤmmt weiter unten in dem Artikel Glied, vor: alſo
wird das Wort hier nur in dem eigentlichen Sinn,
da von Gliedern des menſchlichen und thieriſchen
Koͤrpers die Rede iſt, genommen. Wie die Natur
an den Gelenken eine große Kunſt bewieſen hat, ſo
iſt auch die richtige Zeichnung derſelben ein ſchwee-
rer Theil der Kunſt, der zwar kein Genie, aber deſto
mehr Studium, Fleiß und Uebung erfodert.

Der Zeichner, der nicht eine ſehr richtige Kennt-
nis dieſes Theils der Anatomie hat, der die Oſteo-
logie genennt wird, kann hier nicht fortkommen.
Alſo ſollte jeder Zeichner fleißig bloße Skellette ab-
zeichnen, um ſich dieſen Theil der Kunſt voͤllig ge-
laͤufig zu machen. Dazu muß aber auch ein lang
anhaltendes Zeichnen, nach lebendigen Modeln von
verſchiedenem Alter und von verſchiedener Leibesbe-
ſchaffenheit kommen. Denn die aͤuſſere Form der
Gelenke iſt nach Beſchaffenheit des Alters, und der
magern oder fetten Leibesbeſchaffenheit gar ſehr ver-
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Gel
ſchieden. Eine Figur, darin, nach der Stellung
und uͤbrigen Beſchaffenheit der Sache, die Gelenke
mit voͤlliger Richtigkeit ausgedrukt ſind, bekoͤmmt
dadurch ein ungemeines Leben. Wo hingegen in
dieſem Stuͤke gefehlt wird, da iſt alles uͤbrige der
Kunſt verlohren. Der erſte Eindruk, den eine ge-
zeichnete Figur machen muß, iſt das Gefuͤhl der
vollkommen natuͤrlichen Form, ohne welches der
Begriff der Schoͤnheit nie ſtatt haben kann. Das
Mangelhafte der natuͤrlichen Form aber empfindet
man ſo gleich, wenn in der Zeichnung der Gelenke
etwas verſehen iſt. Deswegen muß jeder Zeichner
dieſen Theil mit der groͤßten Sorgfalt ſtudiren.

Geltung.
(Muſik.)

Jſt in der Muſik die verhaͤltnismaͤßige Dauer einer
Note, oder vielmehr des Tones, den ſie bezeichnet.
Schon in der Rede beruhet der Wolklang groͤßten-
theils auf der verhaͤltnismaͤßigen Laͤnge und Kuͤrze
der Sylben; aber in der Muſik, wo der Gang auf
das genaueſte muß abgemeſſen ſeyn, koͤmmt die Rich-
tigkeit der Bewegung und des Takts faſt lediglich
auf die genaueſte Abmeſſung der Dauer eines jeden
Tones an. Daher muͤſſen die Noten jede Abmeſ-
ſung der Zeit genau ausdruͤken.

Jn den alten Zeiten wurden die Toͤne blos durch
Punkten, oder andre Zeichen (Noten) angedeutet,
aus denen man die Hoͤhe der Toͤne erkennen konnte;
die Dauer derſelben wurde durch die proſodiſche
Laͤnge der Sylben beſtimmt. Damals hatte die
Muſik weder Takt noch Bewegung, und der Geſang
glich einem langſam fortfließenden Strohm, in deſſen
Lauf man weder Schritte noch Abſchnitte wahr-
nihmt. So bald man aber Takt und Rhythmus in
den Geſang einfuͤhrte, mußten die Noten auch von
verſchiedener Geltung ſeyn. Man weiß nicht recht,
zu welcher Zeit dieſe, an Geltung verſchiedene, Noten
erfunden und eingefuͤhrt worden ſind. Jnsgemein
ſchreibet man dieſe Erfindung dem Johann von Mu-
ris
zu, und ſetzet ſie um das Jahr 1330. Roußeau
haͤlt ſie, und wie es ſcheinet aus guten Gruͤnden, fuͤr
viel aͤlter (*).

(*) Diction.
de Muſ.
Art. Va-
leur.

Anfaͤnglich, als man, wie es ſcheinet, nur noch
die Choralgeſaͤnge in Noten ſetzte, waren dieſe von
fuͤnferley Geltung; ihre Figuren wie ſie gegenwaͤr-

tig
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[447/0459] Gel Gel den koͤnnen. Man ſetzet ſie ſo weit aus einander, daß zwiſchen zweyen, wo ſie am dikkeſten ſind, we- nigſtens ſo viel leeres ſey, als die Dike des Halſes einer Dokke betraͤgt. Dieſe Gelaͤnder verſteken das Dach eines Ge- baͤudes, und geben ihm daher auch ein beſſeres An- ſehen. Man findet ſie an keinen antiken Gebaͤu- den, und Vitruvius gedenkt ihrer nicht. Die fla- chen Daͤcher der Alten machten ſie auch nicht ſo nothwendig, als ſie uns ſind. Vermuthlich haben die Alten zur Verwahrung gegen das Herunterfallen von Daͤchern maßive Bruſtwehren gemacht. Von den eiſernen Laubgelaͤndern haben wir hier nichts zu ſagen, weil ſie mehr unter ganz willkuͤhr- liche Zierrathen gehoͤren, und ein Werk des Schloͤſ- ſers ſind. Eine Menge Zeichnungen ſolcher Gelaͤn- der kann man bey Daviller finden. Gelenke. (Zeichnende Kuͤnſte) Die Stellen, da ein bewegliches Glied an ein an- ders Glied anſchließt. Das Wort wird zwar auch in metaphoriſchem Sinn genommen; denn man ſagt auch von einer ſteifen Schreibart, ſie ſey ohne Gelenke. Jn ſo fern bedeutet dieſes Wort eine leichte Verbindung verſchiedener zu einem Ganzen gehoͤriger Glieder. Was zu dieſem Begriff gehoͤrt, koͤmmt weiter unten in dem Artikel Glied, vor: alſo wird das Wort hier nur in dem eigentlichen Sinn, da von Gliedern des menſchlichen und thieriſchen Koͤrpers die Rede iſt, genommen. Wie die Natur an den Gelenken eine große Kunſt bewieſen hat, ſo iſt auch die richtige Zeichnung derſelben ein ſchwee- rer Theil der Kunſt, der zwar kein Genie, aber deſto mehr Studium, Fleiß und Uebung erfodert. Der Zeichner, der nicht eine ſehr richtige Kennt- nis dieſes Theils der Anatomie hat, der die Oſteo- logie genennt wird, kann hier nicht fortkommen. Alſo ſollte jeder Zeichner fleißig bloße Skellette ab- zeichnen, um ſich dieſen Theil der Kunſt voͤllig ge- laͤufig zu machen. Dazu muß aber auch ein lang anhaltendes Zeichnen, nach lebendigen Modeln von verſchiedenem Alter und von verſchiedener Leibesbe- ſchaffenheit kommen. Denn die aͤuſſere Form der Gelenke iſt nach Beſchaffenheit des Alters, und der magern oder fetten Leibesbeſchaffenheit gar ſehr ver- ſchieden. Eine Figur, darin, nach der Stellung und uͤbrigen Beſchaffenheit der Sache, die Gelenke mit voͤlliger Richtigkeit ausgedrukt ſind, bekoͤmmt dadurch ein ungemeines Leben. Wo hingegen in dieſem Stuͤke gefehlt wird, da iſt alles uͤbrige der Kunſt verlohren. Der erſte Eindruk, den eine ge- zeichnete Figur machen muß, iſt das Gefuͤhl der vollkommen natuͤrlichen Form, ohne welches der Begriff der Schoͤnheit nie ſtatt haben kann. Das Mangelhafte der natuͤrlichen Form aber empfindet man ſo gleich, wenn in der Zeichnung der Gelenke etwas verſehen iſt. Deswegen muß jeder Zeichner dieſen Theil mit der groͤßten Sorgfalt ſtudiren. Geltung. (Muſik.) Jſt in der Muſik die verhaͤltnismaͤßige Dauer einer Note, oder vielmehr des Tones, den ſie bezeichnet. Schon in der Rede beruhet der Wolklang groͤßten- theils auf der verhaͤltnismaͤßigen Laͤnge und Kuͤrze der Sylben; aber in der Muſik, wo der Gang auf das genaueſte muß abgemeſſen ſeyn, koͤmmt die Rich- tigkeit der Bewegung und des Takts faſt lediglich auf die genaueſte Abmeſſung der Dauer eines jeden Tones an. Daher muͤſſen die Noten jede Abmeſ- ſung der Zeit genau ausdruͤken. Jn den alten Zeiten wurden die Toͤne blos durch Punkten, oder andre Zeichen (Noten) angedeutet, aus denen man die Hoͤhe der Toͤne erkennen konnte; die Dauer derſelben wurde durch die proſodiſche Laͤnge der Sylben beſtimmt. Damals hatte die Muſik weder Takt noch Bewegung, und der Geſang glich einem langſam fortfließenden Strohm, in deſſen Lauf man weder Schritte noch Abſchnitte wahr- nihmt. So bald man aber Takt und Rhythmus in den Geſang einfuͤhrte, mußten die Noten auch von verſchiedener Geltung ſeyn. Man weiß nicht recht, zu welcher Zeit dieſe, an Geltung verſchiedene, Noten erfunden und eingefuͤhrt worden ſind. Jnsgemein ſchreibet man dieſe Erfindung dem Johann von Mu- ris zu, und ſetzet ſie um das Jahr 1330. Roußeau haͤlt ſie, und wie es ſcheinet aus guten Gruͤnden, fuͤr viel aͤlter (*). Anfaͤnglich, als man, wie es ſcheinet, nur noch die Choralgeſaͤnge in Noten ſetzte, waren dieſe von fuͤnferley Geltung; ihre Figuren wie ſie gegenwaͤr- tig

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/459>, abgerufen am 22.11.2024.