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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gem
gezeichnet und bis auf die kleinsten Theile ausge-
führt; die Nebensachen werden flüchtig behandelt,
und viele zugleich nehmen wegen der Entfernung
nur einen kleinen Raum ein. Also macht auch da,
wo keine sichtbaren Gegenstände vorkommen, das
Nahe oder Ausführliche eine Art des Gemähldes.
Die Gegenstände müssen, so wie im Gemählde, grup-
pirt seyn, wie schon an einem andern Ort auch er-
(*) S.
Erzählung.
S. 353.
innert worden (*). Es würde von großem Nutzen
seyn, wenn sich ein verständiger Kunstrichter die
Mühe geben wollte, die Theorie dieser rednerischen
Perspektiv und der besondern Behandlung der, auf
jeden Grund kommenden, Gegenstände besonders
auszuarbeiten.

Gemähld.
(Musik.)

Man nennt in der Musik diejenigen Stellen einer
Melodie, dadurch man Töne und Bewegungen aus
der leblosen Natur genau nachzuahmen sucht, Ge-
mählde, oder Mahlereyen. Der Wind, der Don-
ner, das Brausen des Meeres oder das Lispeln ei-
nes Baches, das Schießen des Blitzes und derglei-
chen Dinge, können einigermaaßen durch Ton und
Bewegung nachgeahmt werden, und man findet,
daß auch verständige und geschikte Tonsetzer es thun.
Aber diese Mahlereyen sind dem wahren Geist der
Musik entgegen, die nicht Begriffe von leblosen
Dingen geben, sondern Empfindungen des Gemüths
ausdruken soll. Man kann diese Gemählde mit
den falschen Gebehrden unwissender Redner verglei-
chen, wodurch sie uns alles vormahlen; die das Hohe
und Tiefe, das Weite und Nahe, das Grade und
Krumme, durch die Bewegung der Arme vorzeich-
nen. Es ist offenbar, daß durch solche kindische
Künsteleyen die Aufmerksamkeit von der Hauptsach
abgezogen und auf Nebensachen gelenkt wird. Ge-
mählde in der Musik sind gerade so hoch zu achten,
als bloße Wortspiele in der Rede. Einem Kenner
von Geschmak wird allemal übel zu Muthe, wenn
er hört, daß solche Dinge, die seinen Geschmak be-
leidigen, von unverständigen Liebhabern, als vor-
zügliche Schönheiten gelobt werden.

Gemein.
(Schöne Künste.)

Dasjenige, was den mittelmäßigen Grad der Voll-
kommenheit, der in den allermeisten Dingen seiner
[Spaltenumbruch]

Gem
Art angetroffen wird, nicht überschreitet: oder was
sich von andern Dingen seiner Art durch keinen
merklichen Grad der Schönheit oder Vollkommen-
heit auszeichnet. Das Gemeine ist demnach in al-
len Dingen das, was in seiner Art am gewöhnlich-
sten vorkommt; mithin reizet es unsre Vorstellungs-
kraft wenig, und ist dem Aesthetischen entgegen. Ge-
meine Gedanken, gemeine Gemählde aus der Na-
tur oder den Sitten, gemeine Begebenheiten, sind
kein guter Stoff zu Werken der Kunst. Die Kunst-
richter rathen deswegen den Künstlern, ihre Materie
nicht aus dem gemeinen Haufen der Dinge zu neh-
men, sondern so viel möglich edle, große, neue Ge-
genstände zu wählen.

Es kann aber eine Sache auf zweyerley Art ge-
mein seyn, entweder in ihrer Natur, oder in ih-
rem äusserlichen Wesen, mithin in Künsten, in der
Art wie sie vorgestellt wird. Ein hoher Gedanke,
kann auf eine gemeine Art ausgedrükt werden, und
ein gemeiner Gedanke kann durch einen edlen Aus-
druk sich über das Gemeine herausheben.

Der gemeine Stoff ist in Künsten nicht schlech-
terdings zu verwerfen. Er ist ofte zur Vollstän-
digkeit des Ganzen nothwendig. Es geht z. E. in
einem historischen Gemählde, in einem Trauerspiel,
in einer Epopee nicht allemal an, jeden einzeln Ge-
genstand aus der Classe des Edlen zu wählen. Nur
muß das Gemeine nicht über die Nothdurft da seyn,
daß nicht das ganze Werk dadurch in das Gemeine
verfalle. Man muß es vermeiden, so viel man kann,
weil es nichts zum Gefallen thut.

Es kann aber ein Werk in Absicht auf die Wahl
der Materie gemein, und in Ansehung der Kunst
groß und fürtreflich seyn, so wie die historischen Ge-
mählde eines Rembrandts, Teiniers, Gerard Dow
und vieler holländischer Meister, welche dennoch
hochgeschätzt werden; und wie der Thersites des
Homers, der ein gar gemeiner und schlechter Mensch
ist, aber unter den Helden gelitten wird, weil ihn der
Dichter mit meisterhafter Kunst geschildert hat.

Jn diesen Fällen aber geht das Gefallen nicht
auf den Gegenstand, sondern auf die Geschiklichkeit
des Künstlers. Weil aber diese dasjenige eigent-
lich nicht ist, warum die Künste vorhanden sind, so
beweißt das Gefallen an solchen Werken nichts ge-
gen die Verwerfflichkeit des Gemeinen. Man be-
dauert billig an solchen Werken, daß der Künstler

seine

[Spaltenumbruch]

Gem
gezeichnet und bis auf die kleinſten Theile ausge-
fuͤhrt; die Nebenſachen werden fluͤchtig behandelt,
und viele zugleich nehmen wegen der Entfernung
nur einen kleinen Raum ein. Alſo macht auch da,
wo keine ſichtbaren Gegenſtaͤnde vorkommen, das
Nahe oder Ausfuͤhrliche eine Art des Gemaͤhldes.
Die Gegenſtaͤnde muͤſſen, ſo wie im Gemaͤhlde, grup-
pirt ſeyn, wie ſchon an einem andern Ort auch er-
(*) S.
Erzaͤhlung.
S. 353.
innert worden (*). Es wuͤrde von großem Nutzen
ſeyn, wenn ſich ein verſtaͤndiger Kunſtrichter die
Muͤhe geben wollte, die Theorie dieſer redneriſchen
Perſpektiv und der beſondern Behandlung der, auf
jeden Grund kommenden, Gegenſtaͤnde beſonders
auszuarbeiten.

Gemaͤhld.
(Muſik.)

Man nennt in der Muſik diejenigen Stellen einer
Melodie, dadurch man Toͤne und Bewegungen aus
der lebloſen Natur genau nachzuahmen ſucht, Ge-
maͤhlde, oder Mahlereyen. Der Wind, der Don-
ner, das Brauſen des Meeres oder das Lispeln ei-
nes Baches, das Schießen des Blitzes und derglei-
chen Dinge, koͤnnen einigermaaßen durch Ton und
Bewegung nachgeahmt werden, und man findet,
daß auch verſtaͤndige und geſchikte Tonſetzer es thun.
Aber dieſe Mahlereyen ſind dem wahren Geiſt der
Muſik entgegen, die nicht Begriffe von lebloſen
Dingen geben, ſondern Empfindungen des Gemuͤths
ausdruken ſoll. Man kann dieſe Gemaͤhlde mit
den falſchen Gebehrden unwiſſender Redner verglei-
chen, wodurch ſie uns alles vormahlen; die das Hohe
und Tiefe, das Weite und Nahe, das Grade und
Krumme, durch die Bewegung der Arme vorzeich-
nen. Es iſt offenbar, daß durch ſolche kindiſche
Kuͤnſteleyen die Aufmerkſamkeit von der Hauptſach
abgezogen und auf Nebenſachen gelenkt wird. Ge-
maͤhlde in der Muſik ſind gerade ſo hoch zu achten,
als bloße Wortſpiele in der Rede. Einem Kenner
von Geſchmak wird allemal uͤbel zu Muthe, wenn
er hoͤrt, daß ſolche Dinge, die ſeinen Geſchmak be-
leidigen, von unverſtaͤndigen Liebhabern, als vor-
zuͤgliche Schoͤnheiten gelobt werden.

Gemein.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Dasjenige, was den mittelmaͤßigen Grad der Voll-
kommenheit, der in den allermeiſten Dingen ſeiner
[Spaltenumbruch]

Gem
Art angetroffen wird, nicht uͤberſchreitet: oder was
ſich von andern Dingen ſeiner Art durch keinen
merklichen Grad der Schoͤnheit oder Vollkommen-
heit auszeichnet. Das Gemeine iſt demnach in al-
len Dingen das, was in ſeiner Art am gewoͤhnlich-
ſten vorkommt; mithin reizet es unſre Vorſtellungs-
kraft wenig, und iſt dem Aeſthetiſchen entgegen. Ge-
meine Gedanken, gemeine Gemaͤhlde aus der Na-
tur oder den Sitten, gemeine Begebenheiten, ſind
kein guter Stoff zu Werken der Kunſt. Die Kunſt-
richter rathen deswegen den Kuͤnſtlern, ihre Materie
nicht aus dem gemeinen Haufen der Dinge zu neh-
men, ſondern ſo viel moͤglich edle, große, neue Ge-
genſtaͤnde zu waͤhlen.

Es kann aber eine Sache auf zweyerley Art ge-
mein ſeyn, entweder in ihrer Natur, oder in ih-
rem aͤuſſerlichen Weſen, mithin in Kuͤnſten, in der
Art wie ſie vorgeſtellt wird. Ein hoher Gedanke,
kann auf eine gemeine Art ausgedruͤkt werden, und
ein gemeiner Gedanke kann durch einen edlen Aus-
druk ſich uͤber das Gemeine herausheben.

Der gemeine Stoff iſt in Kuͤnſten nicht ſchlech-
terdings zu verwerfen. Er iſt ofte zur Vollſtaͤn-
digkeit des Ganzen nothwendig. Es geht z. E. in
einem hiſtoriſchen Gemaͤhlde, in einem Trauerſpiel,
in einer Epopee nicht allemal an, jeden einzeln Ge-
genſtand aus der Claſſe des Edlen zu waͤhlen. Nur
muß das Gemeine nicht uͤber die Nothdurft da ſeyn,
daß nicht das ganze Werk dadurch in das Gemeine
verfalle. Man muß es vermeiden, ſo viel man kann,
weil es nichts zum Gefallen thut.

Es kann aber ein Werk in Abſicht auf die Wahl
der Materie gemein, und in Anſehung der Kunſt
groß und fuͤrtreflich ſeyn, ſo wie die hiſtoriſchen Ge-
maͤhlde eines Rembrandts, Teiniers, Gerard Dow
und vieler hollaͤndiſcher Meiſter, welche dennoch
hochgeſchaͤtzt werden; und wie der Therſites des
Homers, der ein gar gemeiner und ſchlechter Menſch
iſt, aber unter den Helden gelitten wird, weil ihn der
Dichter mit meiſterhafter Kunſt geſchildert hat.

Jn dieſen Faͤllen aber geht das Gefallen nicht
auf den Gegenſtand, ſondern auf die Geſchiklichkeit
des Kuͤnſtlers. Weil aber dieſe dasjenige eigent-
lich nicht iſt, warum die Kuͤnſte vorhanden ſind, ſo
beweißt das Gefallen an ſolchen Werken nichts ge-
gen die Verwerfflichkeit des Gemeinen. Man be-
dauert billig an ſolchen Werken, daß der Kuͤnſtler

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[455/0467] Gem Gem gezeichnet und bis auf die kleinſten Theile ausge- fuͤhrt; die Nebenſachen werden fluͤchtig behandelt, und viele zugleich nehmen wegen der Entfernung nur einen kleinen Raum ein. Alſo macht auch da, wo keine ſichtbaren Gegenſtaͤnde vorkommen, das Nahe oder Ausfuͤhrliche eine Art des Gemaͤhldes. Die Gegenſtaͤnde muͤſſen, ſo wie im Gemaͤhlde, grup- pirt ſeyn, wie ſchon an einem andern Ort auch er- innert worden (*). Es wuͤrde von großem Nutzen ſeyn, wenn ſich ein verſtaͤndiger Kunſtrichter die Muͤhe geben wollte, die Theorie dieſer redneriſchen Perſpektiv und der beſondern Behandlung der, auf jeden Grund kommenden, Gegenſtaͤnde beſonders auszuarbeiten. (*) S. Erzaͤhlung. S. 353. Gemaͤhld. (Muſik.) Man nennt in der Muſik diejenigen Stellen einer Melodie, dadurch man Toͤne und Bewegungen aus der lebloſen Natur genau nachzuahmen ſucht, Ge- maͤhlde, oder Mahlereyen. Der Wind, der Don- ner, das Brauſen des Meeres oder das Lispeln ei- nes Baches, das Schießen des Blitzes und derglei- chen Dinge, koͤnnen einigermaaßen durch Ton und Bewegung nachgeahmt werden, und man findet, daß auch verſtaͤndige und geſchikte Tonſetzer es thun. Aber dieſe Mahlereyen ſind dem wahren Geiſt der Muſik entgegen, die nicht Begriffe von lebloſen Dingen geben, ſondern Empfindungen des Gemuͤths ausdruken ſoll. Man kann dieſe Gemaͤhlde mit den falſchen Gebehrden unwiſſender Redner verglei- chen, wodurch ſie uns alles vormahlen; die das Hohe und Tiefe, das Weite und Nahe, das Grade und Krumme, durch die Bewegung der Arme vorzeich- nen. Es iſt offenbar, daß durch ſolche kindiſche Kuͤnſteleyen die Aufmerkſamkeit von der Hauptſach abgezogen und auf Nebenſachen gelenkt wird. Ge- maͤhlde in der Muſik ſind gerade ſo hoch zu achten, als bloße Wortſpiele in der Rede. Einem Kenner von Geſchmak wird allemal uͤbel zu Muthe, wenn er hoͤrt, daß ſolche Dinge, die ſeinen Geſchmak be- leidigen, von unverſtaͤndigen Liebhabern, als vor- zuͤgliche Schoͤnheiten gelobt werden. Gemein. (Schoͤne Kuͤnſte.) Dasjenige, was den mittelmaͤßigen Grad der Voll- kommenheit, der in den allermeiſten Dingen ſeiner Art angetroffen wird, nicht uͤberſchreitet: oder was ſich von andern Dingen ſeiner Art durch keinen merklichen Grad der Schoͤnheit oder Vollkommen- heit auszeichnet. Das Gemeine iſt demnach in al- len Dingen das, was in ſeiner Art am gewoͤhnlich- ſten vorkommt; mithin reizet es unſre Vorſtellungs- kraft wenig, und iſt dem Aeſthetiſchen entgegen. Ge- meine Gedanken, gemeine Gemaͤhlde aus der Na- tur oder den Sitten, gemeine Begebenheiten, ſind kein guter Stoff zu Werken der Kunſt. Die Kunſt- richter rathen deswegen den Kuͤnſtlern, ihre Materie nicht aus dem gemeinen Haufen der Dinge zu neh- men, ſondern ſo viel moͤglich edle, große, neue Ge- genſtaͤnde zu waͤhlen. Es kann aber eine Sache auf zweyerley Art ge- mein ſeyn, entweder in ihrer Natur, oder in ih- rem aͤuſſerlichen Weſen, mithin in Kuͤnſten, in der Art wie ſie vorgeſtellt wird. Ein hoher Gedanke, kann auf eine gemeine Art ausgedruͤkt werden, und ein gemeiner Gedanke kann durch einen edlen Aus- druk ſich uͤber das Gemeine herausheben. Der gemeine Stoff iſt in Kuͤnſten nicht ſchlech- terdings zu verwerfen. Er iſt ofte zur Vollſtaͤn- digkeit des Ganzen nothwendig. Es geht z. E. in einem hiſtoriſchen Gemaͤhlde, in einem Trauerſpiel, in einer Epopee nicht allemal an, jeden einzeln Ge- genſtand aus der Claſſe des Edlen zu waͤhlen. Nur muß das Gemeine nicht uͤber die Nothdurft da ſeyn, daß nicht das ganze Werk dadurch in das Gemeine verfalle. Man muß es vermeiden, ſo viel man kann, weil es nichts zum Gefallen thut. Es kann aber ein Werk in Abſicht auf die Wahl der Materie gemein, und in Anſehung der Kunſt groß und fuͤrtreflich ſeyn, ſo wie die hiſtoriſchen Ge- maͤhlde eines Rembrandts, Teiniers, Gerard Dow und vieler hollaͤndiſcher Meiſter, welche dennoch hochgeſchaͤtzt werden; und wie der Therſites des Homers, der ein gar gemeiner und ſchlechter Menſch iſt, aber unter den Helden gelitten wird, weil ihn der Dichter mit meiſterhafter Kunſt geſchildert hat. Jn dieſen Faͤllen aber geht das Gefallen nicht auf den Gegenſtand, ſondern auf die Geſchiklichkeit des Kuͤnſtlers. Weil aber dieſe dasjenige eigent- lich nicht iſt, warum die Kuͤnſte vorhanden ſind, ſo beweißt das Gefallen an ſolchen Werken nichts ge- gen die Verwerfflichkeit des Gemeinen. Man be- dauert billig an ſolchen Werken, daß der Kuͤnſtler ſeine

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/467>, abgerufen am 22.11.2024.