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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gen
Händel, außer dem, seiner Kunst eigenen Genie,
ein großes philosophisches Genie besitzen; muß ein
Mann seyn, der, wenn er auch den Geist seiner
Kunst nicht gehabt hätte, noch immer ein Genie ge-
blieben wäre. Dieses allgemeine, philosophische Ge-
nie giebt ihm große Erfindungen, große Gedanken,
die das Kunstgenie nach dem, der Kunst eigenen,
Geiste bearbeitet. Dadurch entstehen die herrlichen
Werke der schönen Künste, die nicht nur der Künst-
ler, sondern jeder Mensch von Gefühl und Verstand
bewundert.

Das Genie eines jeden Künstlers muß also nach
einem doppelten Maaßstab gemessen werden; an dem
einen mißt man seine Kunst, und an dem andern seine
Materie. Anakreon hatte das Genie der Kunst viel-
leicht in so hohem Grad, als Homer, beyde sind
große Dichter; aber an den Maaßstab der allgemei-
nen menschlichen Größe gebracht ist der eine ein
Held, und der andre ein angenehmer Knabe. So
haben Raphael und Callot das Genie der zeichnen-
den Kunst beyde in hohem Grad, aber der eine hatte
dabey eine große Seele, der andre blos eine höchst
lebhafte, aber spielende Phantasie.

Das bloße Kunstgenie kann wieder seine mannig-
faltigen Bestimmungen haben. Das empfindende
Aug wird nicht allemal durch jede Schönheit ge-
reizt; dieser Mensch wird durch die Schönheit der
Formen entzüket, der, blos durch den Glanz der Far-
ben; jener wird ein Phidias, dieser ein Titian. Jn
der Musik wird ein Ohr vorzüglich durch Harmonie
gereizt, ein anders durch Gesang. Und diese Ver-
schiedenheit findet sich auch in dem außer der Kunst
liegenden Genie der Menschen. Es giebt, wie schon
oben angemerkt worden, Seelen, in denen es über-
all hell, und andre, wo das Licht nur auf einzele
Gegenden eingeschränkt ist.

Diese wenigen Betrachtungen über das Genie ge-
ben doch einige Aufklärung über die ungemeine Man-
nigfaltigkeit des Genies, das sich in den schönen
Künsten äussert. Fällt das bloße Kunstgenie in eine
gemeine Seele, die ausser der Kunst ohne Größe ist,
so kann es doch Werke hervorbringen, die von eigent-
lichen Liebhabern der Kunst bewundert werden. Es
giebt Dichter, die nicht viel mehr als Versmaschinen,
Tonkünstler, die Notenmaschinen sind: und so hat
nicht nur jede Kunst, sondern bald jeder ein-
zele Zweyg derselben, Männer gezeuget, die durch
bloßen Jnstinkt einen oder mehrere mechanische
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Gen Ges
Theile mit bewundrungswürdiger Geschiklichkeit aus-
geübt haben. Wie viel Coloristen hat man nicht,
die weder von Zeichnung, noch von Schönheit den
geringsten Begriff haben? Wir wollen die Werke
dieser blos durch den Jnstinkt gebildeten Künstler den
Liebhabern gern als kostbare Kleinodien, womit sie
ihre Cabinetter ausschmüken, überlassen.

Das Genie der Menschen ist auch ausser der Kunst
so mannigfaltig, als die verschiedenen Gegenstände
selbst, an denen man Geschmak findet. Wenn man den
natürlichen Geschmak an ganz abgezogenen und bis
zur größten Deutlichkeit entwikelten Begriffen, und an
Wahrheiten, die durch strenge Vernunftschlüsse bewie-
sen werden, ausnihmt, so kann jede andre Gattung
des Genies sich mit einem besondern Kunstgenie ver-
einigen, und daher entstehet die große Mannigfal-
tigkeit in den Charakteren der Künstler. Ein Mensch
hat vorzüglich an sittlichen Gegenständen ein Wol-
gefallen, einen andern reizen nur leidenschaftliche
Scenen; bey diesem ist blos die Einbildungskraft
reizbar, und der findet vorzüglichen Geschmak an
sinnlich erkannten philosophischen Wahrheiten. Man
verbinde die vielerley Arten des daher entstehenden
Genies, mit den verschiedenen Arten des Kunstge-
nies, so bekömmt man eine große Mannigfaltigkeit
an Künstlern von Genie, deren jeder seinen eigenen
unterscheidenden Charakter hat. Was für eine er-
staunliche Mannigfaltigkeit des Genies haben wir
nicht an Dichtern, vom Homer bis zum Anakreon?
Und an Mahlern, vom Raphael bis zum Bluhmen-
mahler Huysum?

Es würde angenehm seyn, und zu näherer Kennt-
nis des menschlichen Genies ungemein viel beytra-
gen, wenn Kenner aus den berühmtesten Werken
der Kunst das besondere Gepräg des Genies der
Künstler mit psychologischer Genauigkeit zu bestim-
men suchten. Man hat es zwar mit einigen Genien
der ersten Größe versucht, aber was man in dieser
Art hat, ist nur noch als ein schwacher Anfang der
Naturhistorie des menschlichen Geistes anzusehen.

Gesang.

Es ist nichts leichters, als den Unterschied zwischen
Gesang und Rede zu fühlen; gleichwol sehr schweer
ihn zu beschreiben. Beyde sind eine Folge verschie-
dener Töne, die sich so wol durch Höhe und Tiefe,
als durch ihre besondere Bildung von einander un-

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Gen
Haͤndel, außer dem, ſeiner Kunſt eigenen Genie,
ein großes philoſophiſches Genie beſitzen; muß ein
Mann ſeyn, der, wenn er auch den Geiſt ſeiner
Kunſt nicht gehabt haͤtte, noch immer ein Genie ge-
blieben waͤre. Dieſes allgemeine, philoſophiſche Ge-
nie giebt ihm große Erfindungen, große Gedanken,
die das Kunſtgenie nach dem, der Kunſt eigenen,
Geiſte bearbeitet. Dadurch entſtehen die herrlichen
Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte, die nicht nur der Kuͤnſt-
ler, ſondern jeder Menſch von Gefuͤhl und Verſtand
bewundert.

Das Genie eines jeden Kuͤnſtlers muß alſo nach
einem doppelten Maaßſtab gemeſſen werden; an dem
einen mißt man ſeine Kunſt, und an dem andern ſeine
Materie. Anakreon hatte das Genie der Kunſt viel-
leicht in ſo hohem Grad, als Homer, beyde ſind
große Dichter; aber an den Maaßſtab der allgemei-
nen menſchlichen Groͤße gebracht iſt der eine ein
Held, und der andre ein angenehmer Knabe. So
haben Raphael und Callot das Genie der zeichnen-
den Kunſt beyde in hohem Grad, aber der eine hatte
dabey eine große Seele, der andre blos eine hoͤchſt
lebhafte, aber ſpielende Phantaſie.

Das bloße Kunſtgenie kann wieder ſeine mannig-
faltigen Beſtimmungen haben. Das empfindende
Aug wird nicht allemal durch jede Schoͤnheit ge-
reizt; dieſer Menſch wird durch die Schoͤnheit der
Formen entzuͤket, der, blos durch den Glanz der Far-
ben; jener wird ein Phidias, dieſer ein Titian. Jn
der Muſik wird ein Ohr vorzuͤglich durch Harmonie
gereizt, ein anders durch Geſang. Und dieſe Ver-
ſchiedenheit findet ſich auch in dem außer der Kunſt
liegenden Genie der Menſchen. Es giebt, wie ſchon
oben angemerkt worden, Seelen, in denen es uͤber-
all hell, und andre, wo das Licht nur auf einzele
Gegenden eingeſchraͤnkt iſt.

Dieſe wenigen Betrachtungen uͤber das Genie ge-
ben doch einige Aufklaͤrung uͤber die ungemeine Man-
nigfaltigkeit des Genies, das ſich in den ſchoͤnen
Kuͤnſten aͤuſſert. Faͤllt das bloße Kunſtgenie in eine
gemeine Seele, die auſſer der Kunſt ohne Groͤße iſt,
ſo kann es doch Werke hervorbringen, die von eigent-
lichen Liebhabern der Kunſt bewundert werden. Es
giebt Dichter, die nicht viel mehr als Versmaſchinen,
Tonkuͤnſtler, die Notenmaſchinen ſind: und ſo hat
nicht nur jede Kunſt, ſondern bald jeder ein-
zele Zweyg derſelben, Maͤnner gezeuget, die durch
bloßen Jnſtinkt einen oder mehrere mechaniſche
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Theile mit bewundrungswuͤrdiger Geſchiklichkeit aus-
geuͤbt haben. Wie viel Coloriſten hat man nicht,
die weder von Zeichnung, noch von Schoͤnheit den
geringſten Begriff haben? Wir wollen die Werke
dieſer blos durch den Jnſtinkt gebildeten Kuͤnſtler den
Liebhabern gern als koſtbare Kleinodien, womit ſie
ihre Cabinetter ausſchmuͤken, uͤberlaſſen.

Das Genie der Menſchen iſt auch auſſer der Kunſt
ſo mannigfaltig, als die verſchiedenen Gegenſtaͤnde
ſelbſt, an denen man Geſchmak findet. Wenn man den
natuͤrlichen Geſchmak an ganz abgezogenen und bis
zur groͤßten Deutlichkeit entwikelten Begriffen, und an
Wahrheiten, die durch ſtrenge Vernunftſchluͤſſe bewie-
ſen werden, ausnihmt, ſo kann jede andre Gattung
des Genies ſich mit einem beſondern Kunſtgenie ver-
einigen, und daher entſtehet die große Mannigfal-
tigkeit in den Charakteren der Kuͤnſtler. Ein Menſch
hat vorzuͤglich an ſittlichen Gegenſtaͤnden ein Wol-
gefallen, einen andern reizen nur leidenſchaftliche
Scenen; bey dieſem iſt blos die Einbildungskraft
reizbar, und der findet vorzuͤglichen Geſchmak an
ſinnlich erkannten philoſophiſchen Wahrheiten. Man
verbinde die vielerley Arten des daher entſtehenden
Genies, mit den verſchiedenen Arten des Kunſtge-
nies, ſo bekoͤmmt man eine große Mannigfaltigkeit
an Kuͤnſtlern von Genie, deren jeder ſeinen eigenen
unterſcheidenden Charakter hat. Was fuͤr eine er-
ſtaunliche Mannigfaltigkeit des Genies haben wir
nicht an Dichtern, vom Homer bis zum Anakreon?
Und an Mahlern, vom Raphael bis zum Bluhmen-
mahler Huyſum?

Es wuͤrde angenehm ſeyn, und zu naͤherer Kennt-
nis des menſchlichen Genies ungemein viel beytra-
gen, wenn Kenner aus den beruͤhmteſten Werken
der Kunſt das beſondere Gepraͤg des Genies der
Kuͤnſtler mit pſychologiſcher Genauigkeit zu beſtim-
men ſuchten. Man hat es zwar mit einigen Genien
der erſten Groͤße verſucht, aber was man in dieſer
Art hat, iſt nur noch als ein ſchwacher Anfang der
Naturhiſtorie des menſchlichen Geiſtes anzuſehen.

Geſang.

Es iſt nichts leichters, als den Unterſchied zwiſchen
Geſang und Rede zu fuͤhlen; gleichwol ſehr ſchweer
ihn zu beſchreiben. Beyde ſind eine Folge verſchie-
dener Toͤne, die ſich ſo wol durch Hoͤhe und Tiefe,
als durch ihre beſondere Bildung von einander un-

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[459/0471] Gen Gen Geſ Haͤndel, außer dem, ſeiner Kunſt eigenen Genie, ein großes philoſophiſches Genie beſitzen; muß ein Mann ſeyn, der, wenn er auch den Geiſt ſeiner Kunſt nicht gehabt haͤtte, noch immer ein Genie ge- blieben waͤre. Dieſes allgemeine, philoſophiſche Ge- nie giebt ihm große Erfindungen, große Gedanken, die das Kunſtgenie nach dem, der Kunſt eigenen, Geiſte bearbeitet. Dadurch entſtehen die herrlichen Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte, die nicht nur der Kuͤnſt- ler, ſondern jeder Menſch von Gefuͤhl und Verſtand bewundert. Das Genie eines jeden Kuͤnſtlers muß alſo nach einem doppelten Maaßſtab gemeſſen werden; an dem einen mißt man ſeine Kunſt, und an dem andern ſeine Materie. Anakreon hatte das Genie der Kunſt viel- leicht in ſo hohem Grad, als Homer, beyde ſind große Dichter; aber an den Maaßſtab der allgemei- nen menſchlichen Groͤße gebracht iſt der eine ein Held, und der andre ein angenehmer Knabe. So haben Raphael und Callot das Genie der zeichnen- den Kunſt beyde in hohem Grad, aber der eine hatte dabey eine große Seele, der andre blos eine hoͤchſt lebhafte, aber ſpielende Phantaſie. Das bloße Kunſtgenie kann wieder ſeine mannig- faltigen Beſtimmungen haben. Das empfindende Aug wird nicht allemal durch jede Schoͤnheit ge- reizt; dieſer Menſch wird durch die Schoͤnheit der Formen entzuͤket, der, blos durch den Glanz der Far- ben; jener wird ein Phidias, dieſer ein Titian. Jn der Muſik wird ein Ohr vorzuͤglich durch Harmonie gereizt, ein anders durch Geſang. Und dieſe Ver- ſchiedenheit findet ſich auch in dem außer der Kunſt liegenden Genie der Menſchen. Es giebt, wie ſchon oben angemerkt worden, Seelen, in denen es uͤber- all hell, und andre, wo das Licht nur auf einzele Gegenden eingeſchraͤnkt iſt. Dieſe wenigen Betrachtungen uͤber das Genie ge- ben doch einige Aufklaͤrung uͤber die ungemeine Man- nigfaltigkeit des Genies, das ſich in den ſchoͤnen Kuͤnſten aͤuſſert. Faͤllt das bloße Kunſtgenie in eine gemeine Seele, die auſſer der Kunſt ohne Groͤße iſt, ſo kann es doch Werke hervorbringen, die von eigent- lichen Liebhabern der Kunſt bewundert werden. Es giebt Dichter, die nicht viel mehr als Versmaſchinen, Tonkuͤnſtler, die Notenmaſchinen ſind: und ſo hat nicht nur jede Kunſt, ſondern bald jeder ein- zele Zweyg derſelben, Maͤnner gezeuget, die durch bloßen Jnſtinkt einen oder mehrere mechaniſche Theile mit bewundrungswuͤrdiger Geſchiklichkeit aus- geuͤbt haben. Wie viel Coloriſten hat man nicht, die weder von Zeichnung, noch von Schoͤnheit den geringſten Begriff haben? Wir wollen die Werke dieſer blos durch den Jnſtinkt gebildeten Kuͤnſtler den Liebhabern gern als koſtbare Kleinodien, womit ſie ihre Cabinetter ausſchmuͤken, uͤberlaſſen. Das Genie der Menſchen iſt auch auſſer der Kunſt ſo mannigfaltig, als die verſchiedenen Gegenſtaͤnde ſelbſt, an denen man Geſchmak findet. Wenn man den natuͤrlichen Geſchmak an ganz abgezogenen und bis zur groͤßten Deutlichkeit entwikelten Begriffen, und an Wahrheiten, die durch ſtrenge Vernunftſchluͤſſe bewie- ſen werden, ausnihmt, ſo kann jede andre Gattung des Genies ſich mit einem beſondern Kunſtgenie ver- einigen, und daher entſtehet die große Mannigfal- tigkeit in den Charakteren der Kuͤnſtler. Ein Menſch hat vorzuͤglich an ſittlichen Gegenſtaͤnden ein Wol- gefallen, einen andern reizen nur leidenſchaftliche Scenen; bey dieſem iſt blos die Einbildungskraft reizbar, und der findet vorzuͤglichen Geſchmak an ſinnlich erkannten philoſophiſchen Wahrheiten. Man verbinde die vielerley Arten des daher entſtehenden Genies, mit den verſchiedenen Arten des Kunſtge- nies, ſo bekoͤmmt man eine große Mannigfaltigkeit an Kuͤnſtlern von Genie, deren jeder ſeinen eigenen unterſcheidenden Charakter hat. Was fuͤr eine er- ſtaunliche Mannigfaltigkeit des Genies haben wir nicht an Dichtern, vom Homer bis zum Anakreon? Und an Mahlern, vom Raphael bis zum Bluhmen- mahler Huyſum? Es wuͤrde angenehm ſeyn, und zu naͤherer Kennt- nis des menſchlichen Genies ungemein viel beytra- gen, wenn Kenner aus den beruͤhmteſten Werken der Kunſt das beſondere Gepraͤg des Genies der Kuͤnſtler mit pſychologiſcher Genauigkeit zu beſtim- men ſuchten. Man hat es zwar mit einigen Genien der erſten Groͤße verſucht, aber was man in dieſer Art hat, iſt nur noch als ein ſchwacher Anfang der Naturhiſtorie des menſchlichen Geiſtes anzuſehen. Geſang. Es iſt nichts leichters, als den Unterſchied zwiſchen Geſang und Rede zu fuͤhlen; gleichwol ſehr ſchweer ihn zu beſchreiben. Beyde ſind eine Folge verſchie- dener Toͤne, die ſich ſo wol durch Hoͤhe und Tiefe, als durch ihre beſondere Bildung von einander un- ter- M m m 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/471>, abgerufen am 25.11.2024.