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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Ges
theils gleichbedeutend sind. Aber der Gesang der
menschlichen Stimme ist freylich der ursprüngliche und
vollkommenste, weil er jedem Ton auf das genaueste
die besondere Bildung, die der Affekt erfodert, geben
kann; da einige Jnstrumente, wie das Clavier,
ihn gar nicht modificiren können, andre aber es
doch weit unvollkommener thun, als die Kehle des
Sängers.

Die wesentliche Kraft der Musik liegt eigentlich
nur im Gesang; denn die begleitende Harmonie hat,
wie Roußeau sehr richtig anmerkt, wenig Kraft zum
Ausdruk: sie dienet blos den Ton anzugeben und
zu unterstützen, die Modulation merklicher zu ma-
chen, und dem Ausdruk mehr Nachdruk und An-
nehmlichkeit zu geben. Aber in der Melodie al-
lein liegen die mit unwiderstehlicher Kraft belebten
Töne, die man für Aeusserungen einer empfinden-
den Seele erkennt. Der Mensch hat drey Mittel
seinen Gemüthszustand an den Tag zu legen; die
Rede, die Mine nebst den Gebehrden, und die lei-
denschaftlichen Töne. Das letzte übertrift die an-
dern an Kraft sehr weit, und dringet schnell in das
innerste der Seele.

Fortius irritant animos demissa per aurem
Quam quae sunt oculis subjecta.
[Spaltenumbruch] (+)

Daher hat der Gesang über alle Werke der Kunst
den Vorzug, um Leidenschaft zu erweken. Die
Zeichnung giebt uns Kenntnis der Formen, und
der Gesang erwekt unmittelbar das Gefühl der Lei-
denschaft. Hiervon ist aber an einem andern Ort
(*) S.
Musik.
ausführlicher gesprochen worden. (*) Hier wird die-
ses nur darum angeführt, um den Tonsetzer, der
dieses ließt, zu überzeugen, daß er sein größtes Ver-
dienst durch den Gesang erwerben müsse. Er muß
ein reiner Harmoniste seyn, aber blos um seinem
Gesang die völlige Reinigkeit zu geben. Da aber
diese ohne den Ausdruk zu nichts dienet, so muß
sein größtes Studium auf den leidenschaftlichen Ge-
sang gerichtet seyn. Melodie, Bewegung und
Rhythmus sind die wahren Mittel das Gemüth in
Empfindung zu setzen: wo diese fehlen, da ist die
[Spaltenumbruch]

Ges
höchste Reinigkeit der Harmonie eine ganz unwürk-
same Sache.

Wir rathen deswegen den jungen Tonsetzern, nicht
alle ihre Zeit auf das Studium der Harmonie zu
wenden, sondern den Gesang, als die Hauptsach
ihrer Kunst anzusehen. Melodische Schönheiten
muß das Genie ihnen eingeben; aber um eine völ-
lige Kenntnis von Bewegung und Rhythmus zu er-
langen und beyde in seine Gewalt zu bekommen, dazu
wird Arbeit und Studium erfodert. Die Tanzme-
lodien verschiedener Nationen enthalten beynahe alle
Arten der Bewegung und des Rhythmus, und nur
der, welcher sich hinlänglich darin geübt hat, kann
ein Meister im Gesang werden.

Von dem Vortrag des Gesanges, wird in einem
besondern Artikel gesprochen. (*)

(*) S.
Singen.
Geschmak.
(Schöne Künste.)

Der Geschmak ist im Grunde nichts anders, als
das Vermögen das Schöne zu empfinden, so wie
die Vernunft das Vermögen ist, das Wahre, Voll-
kommene und Richtige zu erkennen; das sittliche
Gefühl, die Fähigkeit das Gute zu fühlen. Biswei-
len aber nihmt man das Wort in einem engern
Sinn, nach welchem man nur den Menschen Ge-
schmak zueignet, bey denen dieses Vermögen sich
schon zu einer gewissen Fertigkeit entwikelt hat.

Man nennet dasjenige Schön, was sich, ohne
Rüksicht auf irgend eine andre Beschaffenheit, un-
srer Vorstellungskraft auf eine angenehme Weise dar-
stellt; was gefällt, wenn man gleich nicht weiß,
was es ist, noch wozu es dienen soll. (*) Also(*) S.
Schön.

vergnügt das Schöne nicht deswegen, weil der Ver-
stand es vollkommen, oder das sittliche Gefühl es
gut findet, sondern weil es der Einbildungskraft
schmeichelt, weil es sich in einer gefälligen, ange-
nehmen Gestalt zeiget. Der innere Sinn, wodurch
wir diese Annehmlichkeit genießen, ist der Ge-
schmak. Wenn die Schönheit, wie an seinem Orte
bewiesen wird (*), etwas Würkliches ist, und nicht(*) S.
Schön.

blos
(+) Horaz sagt segnius, aber er redet von der gemeinen
Sprache. Des Dichters Anmerkung wird sehr zur Un-
zeit angeführt, um die Kraft der Mahlerey über die Musik
damit zu beweisen. Horaz sagt in dieser Stelle, die Sa-
chen, die man sehe, machen stärkern Eindruk, als die, wel-
che man nur aus Erzählungen oder Beschreibungen ver-
[Spaltenumbruch] nehme, und dieses ist völlig richtig: wir sagen, daß über-
haupt die Seele durch das Gehör stärker, als durch das
Gesicht gerührt werde, und auch dieses ist wahr. Die ge-
brochenen Töne, die der Schmerz einem leidenden Men-
schen auspreßt, dringen stärker in uns, als die Leidenan-
kündigenden Gesichtszüge.
M m m 3

[Spaltenumbruch]

Geſ
theils gleichbedeutend ſind. Aber der Geſang der
menſchlichen Stimme iſt freylich der urſpruͤngliche und
vollkommenſte, weil er jedem Ton auf das genaueſte
die beſondere Bildung, die der Affekt erfodert, geben
kann; da einige Jnſtrumente, wie das Clavier,
ihn gar nicht modificiren koͤnnen, andre aber es
doch weit unvollkommener thun, als die Kehle des
Saͤngers.

Die weſentliche Kraft der Muſik liegt eigentlich
nur im Geſang; denn die begleitende Harmonie hat,
wie Roußeau ſehr richtig anmerkt, wenig Kraft zum
Ausdruk: ſie dienet blos den Ton anzugeben und
zu unterſtuͤtzen, die Modulation merklicher zu ma-
chen, und dem Ausdruk mehr Nachdruk und An-
nehmlichkeit zu geben. Aber in der Melodie al-
lein liegen die mit unwiderſtehlicher Kraft belebten
Toͤne, die man fuͤr Aeuſſerungen einer empfinden-
den Seele erkennt. Der Menſch hat drey Mittel
ſeinen Gemuͤthszuſtand an den Tag zu legen; die
Rede, die Mine nebſt den Gebehrden, und die lei-
denſchaftlichen Toͤne. Das letzte uͤbertrift die an-
dern an Kraft ſehr weit, und dringet ſchnell in das
innerſte der Seele.

Fortius irritant animos demiſſa per aurem
Quam quæ ſunt oculis ſubjecta.
[Spaltenumbruch] (†)

Daher hat der Geſang uͤber alle Werke der Kunſt
den Vorzug, um Leidenſchaft zu erweken. Die
Zeichnung giebt uns Kenntnis der Formen, und
der Geſang erwekt unmittelbar das Gefuͤhl der Lei-
denſchaft. Hiervon iſt aber an einem andern Ort
(*) S.
Muſik.
ausfuͤhrlicher geſprochen worden. (*) Hier wird die-
ſes nur darum angefuͤhrt, um den Tonſetzer, der
dieſes ließt, zu uͤberzeugen, daß er ſein groͤßtes Ver-
dienſt durch den Geſang erwerben muͤſſe. Er muß
ein reiner Harmoniſte ſeyn, aber blos um ſeinem
Geſang die voͤllige Reinigkeit zu geben. Da aber
dieſe ohne den Ausdruk zu nichts dienet, ſo muß
ſein groͤßtes Studium auf den leidenſchaftlichen Ge-
ſang gerichtet ſeyn. Melodie, Bewegung und
Rhythmus ſind die wahren Mittel das Gemuͤth in
Empfindung zu ſetzen: wo dieſe fehlen, da iſt die
[Spaltenumbruch]

Geſ
hoͤchſte Reinigkeit der Harmonie eine ganz unwuͤrk-
ſame Sache.

Wir rathen deswegen den jungen Tonſetzern, nicht
alle ihre Zeit auf das Studium der Harmonie zu
wenden, ſondern den Geſang, als die Hauptſach
ihrer Kunſt anzuſehen. Melodiſche Schoͤnheiten
muß das Genie ihnen eingeben; aber um eine voͤl-
lige Kenntnis von Bewegung und Rhythmus zu er-
langen und beyde in ſeine Gewalt zu bekommen, dazu
wird Arbeit und Studium erfodert. Die Tanzme-
lodien verſchiedener Nationen enthalten beynahe alle
Arten der Bewegung und des Rhythmus, und nur
der, welcher ſich hinlaͤnglich darin geuͤbt hat, kann
ein Meiſter im Geſang werden.

Von dem Vortrag des Geſanges, wird in einem
beſondern Artikel geſprochen. (*)

(*) S.
Singen.
Geſchmak.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Der Geſchmak iſt im Grunde nichts anders, als
das Vermoͤgen das Schoͤne zu empfinden, ſo wie
die Vernunft das Vermoͤgen iſt, das Wahre, Voll-
kommene und Richtige zu erkennen; das ſittliche
Gefuͤhl, die Faͤhigkeit das Gute zu fuͤhlen. Biswei-
len aber nihmt man das Wort in einem engern
Sinn, nach welchem man nur den Menſchen Ge-
ſchmak zueignet, bey denen dieſes Vermoͤgen ſich
ſchon zu einer gewiſſen Fertigkeit entwikelt hat.

Man nennet dasjenige Schoͤn, was ſich, ohne
Ruͤkſicht auf irgend eine andre Beſchaffenheit, un-
ſrer Vorſtellungskraft auf eine angenehme Weiſe dar-
ſtellt; was gefaͤllt, wenn man gleich nicht weiß,
was es iſt, noch wozu es dienen ſoll. (*) Alſo(*) S.
Schoͤn.

vergnuͤgt das Schoͤne nicht deswegen, weil der Ver-
ſtand es vollkommen, oder das ſittliche Gefuͤhl es
gut findet, ſondern weil es der Einbildungskraft
ſchmeichelt, weil es ſich in einer gefaͤlligen, ange-
nehmen Geſtalt zeiget. Der innere Sinn, wodurch
wir dieſe Annehmlichkeit genießen, iſt der Ge-
ſchmak. Wenn die Schoͤnheit, wie an ſeinem Orte
bewieſen wird (*), etwas Wuͤrkliches iſt, und nicht(*) S.
Schoͤn.

blos
(†) Horaz ſagt ſegnius, aber er redet von der gemeinen
Sprache. Des Dichters Anmerkung wird ſehr zur Un-
zeit angefuͤhrt, um die Kraft der Mahlerey uͤber die Muſik
damit zu beweiſen. Horaz ſagt in dieſer Stelle, die Sa-
chen, die man ſehe, machen ſtaͤrkern Eindruk, als die, wel-
che man nur aus Erzaͤhlungen oder Beſchreibungen ver-
[Spaltenumbruch] nehme, und dieſes iſt voͤllig richtig: wir ſagen, daß uͤber-
haupt die Seele durch das Gehoͤr ſtaͤrker, als durch das
Geſicht geruͤhrt werde, und auch dieſes iſt wahr. Die ge-
brochenen Toͤne, die der Schmerz einem leidenden Men-
ſchen auspreßt, dringen ſtaͤrker in uns, als die Leidenan-
kuͤndigenden Geſichtszuͤge.
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[461/0473] Geſ Geſ theils gleichbedeutend ſind. Aber der Geſang der menſchlichen Stimme iſt freylich der urſpruͤngliche und vollkommenſte, weil er jedem Ton auf das genaueſte die beſondere Bildung, die der Affekt erfodert, geben kann; da einige Jnſtrumente, wie das Clavier, ihn gar nicht modificiren koͤnnen, andre aber es doch weit unvollkommener thun, als die Kehle des Saͤngers. Die weſentliche Kraft der Muſik liegt eigentlich nur im Geſang; denn die begleitende Harmonie hat, wie Roußeau ſehr richtig anmerkt, wenig Kraft zum Ausdruk: ſie dienet blos den Ton anzugeben und zu unterſtuͤtzen, die Modulation merklicher zu ma- chen, und dem Ausdruk mehr Nachdruk und An- nehmlichkeit zu geben. Aber in der Melodie al- lein liegen die mit unwiderſtehlicher Kraft belebten Toͤne, die man fuͤr Aeuſſerungen einer empfinden- den Seele erkennt. Der Menſch hat drey Mittel ſeinen Gemuͤthszuſtand an den Tag zu legen; die Rede, die Mine nebſt den Gebehrden, und die lei- denſchaftlichen Toͤne. Das letzte uͤbertrift die an- dern an Kraft ſehr weit, und dringet ſchnell in das innerſte der Seele. Fortius irritant animos demiſſa per aurem Quam quæ ſunt oculis ſubjecta. (†) Daher hat der Geſang uͤber alle Werke der Kunſt den Vorzug, um Leidenſchaft zu erweken. Die Zeichnung giebt uns Kenntnis der Formen, und der Geſang erwekt unmittelbar das Gefuͤhl der Lei- denſchaft. Hiervon iſt aber an einem andern Ort ausfuͤhrlicher geſprochen worden. (*) Hier wird die- ſes nur darum angefuͤhrt, um den Tonſetzer, der dieſes ließt, zu uͤberzeugen, daß er ſein groͤßtes Ver- dienſt durch den Geſang erwerben muͤſſe. Er muß ein reiner Harmoniſte ſeyn, aber blos um ſeinem Geſang die voͤllige Reinigkeit zu geben. Da aber dieſe ohne den Ausdruk zu nichts dienet, ſo muß ſein groͤßtes Studium auf den leidenſchaftlichen Ge- ſang gerichtet ſeyn. Melodie, Bewegung und Rhythmus ſind die wahren Mittel das Gemuͤth in Empfindung zu ſetzen: wo dieſe fehlen, da iſt die hoͤchſte Reinigkeit der Harmonie eine ganz unwuͤrk- ſame Sache. (*) S. Muſik. Wir rathen deswegen den jungen Tonſetzern, nicht alle ihre Zeit auf das Studium der Harmonie zu wenden, ſondern den Geſang, als die Hauptſach ihrer Kunſt anzuſehen. Melodiſche Schoͤnheiten muß das Genie ihnen eingeben; aber um eine voͤl- lige Kenntnis von Bewegung und Rhythmus zu er- langen und beyde in ſeine Gewalt zu bekommen, dazu wird Arbeit und Studium erfodert. Die Tanzme- lodien verſchiedener Nationen enthalten beynahe alle Arten der Bewegung und des Rhythmus, und nur der, welcher ſich hinlaͤnglich darin geuͤbt hat, kann ein Meiſter im Geſang werden. Von dem Vortrag des Geſanges, wird in einem beſondern Artikel geſprochen. (*) Geſchmak. (Schoͤne Kuͤnſte.) Der Geſchmak iſt im Grunde nichts anders, als das Vermoͤgen das Schoͤne zu empfinden, ſo wie die Vernunft das Vermoͤgen iſt, das Wahre, Voll- kommene und Richtige zu erkennen; das ſittliche Gefuͤhl, die Faͤhigkeit das Gute zu fuͤhlen. Biswei- len aber nihmt man das Wort in einem engern Sinn, nach welchem man nur den Menſchen Ge- ſchmak zueignet, bey denen dieſes Vermoͤgen ſich ſchon zu einer gewiſſen Fertigkeit entwikelt hat. Man nennet dasjenige Schoͤn, was ſich, ohne Ruͤkſicht auf irgend eine andre Beſchaffenheit, un- ſrer Vorſtellungskraft auf eine angenehme Weiſe dar- ſtellt; was gefaͤllt, wenn man gleich nicht weiß, was es iſt, noch wozu es dienen ſoll. (*) Alſo vergnuͤgt das Schoͤne nicht deswegen, weil der Ver- ſtand es vollkommen, oder das ſittliche Gefuͤhl es gut findet, ſondern weil es der Einbildungskraft ſchmeichelt, weil es ſich in einer gefaͤlligen, ange- nehmen Geſtalt zeiget. Der innere Sinn, wodurch wir dieſe Annehmlichkeit genießen, iſt der Ge- ſchmak. Wenn die Schoͤnheit, wie an ſeinem Orte bewieſen wird (*), etwas Wuͤrkliches iſt, und nicht blos (*) S. Schoͤn. (*) S. Schoͤn. (†) Horaz ſagt ſegnius, aber er redet von der gemeinen Sprache. Des Dichters Anmerkung wird ſehr zur Un- zeit angefuͤhrt, um die Kraft der Mahlerey uͤber die Muſik damit zu beweiſen. Horaz ſagt in dieſer Stelle, die Sa- chen, die man ſehe, machen ſtaͤrkern Eindruk, als die, wel- che man nur aus Erzaͤhlungen oder Beſchreibungen ver- nehme, und dieſes iſt voͤllig richtig: wir ſagen, daß uͤber- haupt die Seele durch das Gehoͤr ſtaͤrker, als durch das Geſicht geruͤhrt werde, und auch dieſes iſt wahr. Die ge- brochenen Toͤne, die der Schmerz einem leidenden Men- ſchen auspreßt, dringen ſtaͤrker in uns, als die Leidenan- kuͤndigenden Geſichtszuͤge. M m m 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/473>, abgerufen am 22.11.2024.