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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ges
sonst scharfen Verstand angewendet haben. Auch die
Künste haben ihre Scholastiker, deren Genie und
Geschmak nur auf geschraubten Witz, auf subtile
Phantasien und geistreiche Tändeleyen geht, die den
Lekerbissen gleichen, die zwar die Zunge reizen, aber
dem Körper keine Nahrung geben.

So fürtreffliche Würkungen der große Geschmak
hat, so schädlich ist dieser kleine und blos subtile Ge-
schmak. Das Volk, bey dem er überhand genom-
men hat, ist verlohren; denn es ist blos an artige
Kleinigkeiten gewöhnt, legt den unnützesten Dingen,
wenn sie nur die Phantasie reizen, einen hohen
Werth bey; der schlechteste Mensch, wenn er nur
witzig und in Kleinigkeiten sinnreich ist, wird für
einen großen Mann gehalten; selbst das Laster wird
rühmlich, wenn es nur in einer geistreichen Ge-
stalt erscheinet. Wie die Spartaner ihre jungen
Leüte wegen begangener Diebstähle lobten, wenn sie
nur sie mit solcher Geschiklichkeit verübten, daß man
sie nicht dabey betroffen hatte; so ist bey den raffi-
nirten Wollüstlingen des Geschmaks alles Lobens-
werth, was witzig und fein ist. Dadurch verliert
das Gemüth alle Stärke, und wird von dem Großen
und Erhabenen, das die spitzfündige Phantasie we-
niger rührt, abgezogen. Ein witziges und schalk-
haftes Lied, wird der wichtigsten Rede vorgezogen;
ein Mensch, der wie Sokrates denkt und redet, macht
gegen einen Petronius schlechte Figur, und Ana-
kreon ist eine wichtigere Person, als Xenophon.

Man siehet hieraus hinlänglich, daß die Bildung
des Geschmaks eine große Nationalangelegenheit
sey. Vernunft und Sittlichkeit sind zwar die er-
sten Bedürfnisse des Menschen, der sich aus dem
Staub empor heben und seine Natur erhöhen will;
aber diese Erhebung vollendet der Geschmak, der
beydes Vernunft und Sittlichkeit vervollkomnet,
der Anmuth und Gefälligkeit über die Handlungen
und über das ganze Leben verbreitet, und überhaupt
das Gemüth für das Gute und Böse empfindsamer
macht. Man hat ihm mehr, als den höhern Wis-
senschaften zu danken. Diese haben unmittelbar ei-
nen geringen Einfluß auf die Milderung des Cha-
rakters und der Sitten; von dem Geschmak aber
kann man mit völliger Wahrheit sagen, er lasse dem
Menschen nichts von seiner natürlichen Rohigkeit,
und mache ihn für alles Gute empfindsam. So
wie es ein Vergnügen ist in Führung solcher Ge-
schäfte, wozu Verstand und genaue Beurtheilung
[Spaltenumbruch]

Ges
der Dinge vorzüglich nöthig sind, mit verständigen
Menschen zu thun zu haben, die gleich alles fassen:
so ist es in Dingen, wo es mehr auf ein feines Ge-
fühl ankömmt, angenehm, Menschen von Geschmak
vor sich zu haben, weil sie leicht jedes Gute und
jedes Wolanständige empfinden; da der Mangel des
Geschmaks jeden Eingang, wodurch man sonst in
die Herzen der Menschen dringt, verschließt. Fast
noch schlimmer ist ein falscher oder kleiner Geschmak;
denn wo dieser einmal sich der Gemüther bemächti-
get hat, da richtet man weder mit Beredsamkeit,
noch mit Poesie, noch mit Musik, oder irgend einer
andern der schönen Künste, etwas aus. Man hat
mit Sophisten zu thun, die sich durch keine Gründe
fassen lassen, sondern immer eine Spitzfindigkeit in
Bereitschaft haben, die ihnen heraus hilft. Eben
so üble Folgen hat ein willkührlicher Modegeschmak,
der nichts schön findet, als was nach den blos will-
kührlichen Regeln einer eingebildeten Schönheit ge-
formt ist. Da urtheilet man nicht mehr weder
aus Einsicht, noch aus natürlichem Gefühl, sondern
vergleicht alles, wie den Schnitt der Kleider, mit
der Form, an die man sich gewöhnt hat, und ver-
wirft das Fürtreflichste, blos, weil es nicht nach der
Mode gemacht ist.

Geschnittene Steine.

Die so genannten edlern Steine, die sich durch
Härte, Glanz und Schönheit der Farben von den
gemeinen Steinen unterscheiden, haben schon in den
ältesten Zeiten, als Zierrathen der Natur, die Augen
der Menschen auf sich gezogen. Vermuthlich haben
die Völker im Orient, die an den Ufern der Flüsse,
in den Rizen der Felsen, und bisweilen auf ihren
Feldern dergleichen Steine finden, sie anfänglich
ihres Glanzes halber gesammelt und geschätzt, so
wie andre Völker die schönsten Federn der Vögel,
oder die Schaalen der Schneken gesammelt und zum
Schmuk der Kleider angewendet, oder als Juweelen
umgehängt haben. Nachdem die zeichnenden und
bildenden Künste aufgekommen, gab man diesen
Steinen dadurch noch einen höhern Werth, daß
man Figuren und Bilder entweder vertieft oder er-
haben darauf einschnitte. Es ist kein Zweyg von
zeichnenden und bildenden Künsten, von dem man
frühere Spuhren antrift, als dieser. Man könnte
daher leicht auf die Vermuthung kommen, daß die
Begierde, solche Steine durch eine künstliche Be-

arbei-
Erster Theil. N n n

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Geſ
ſonſt ſcharfen Verſtand angewendet haben. Auch die
Kuͤnſte haben ihre Scholaſtiker, deren Genie und
Geſchmak nur auf geſchraubten Witz, auf ſubtile
Phantaſien und geiſtreiche Taͤndeleyen geht, die den
Lekerbiſſen gleichen, die zwar die Zunge reizen, aber
dem Koͤrper keine Nahrung geben.

So fuͤrtreffliche Wuͤrkungen der große Geſchmak
hat, ſo ſchaͤdlich iſt dieſer kleine und blos ſubtile Ge-
ſchmak. Das Volk, bey dem er uͤberhand genom-
men hat, iſt verlohren; denn es iſt blos an artige
Kleinigkeiten gewoͤhnt, legt den unnuͤtzeſten Dingen,
wenn ſie nur die Phantaſie reizen, einen hohen
Werth bey; der ſchlechteſte Menſch, wenn er nur
witzig und in Kleinigkeiten ſinnreich iſt, wird fuͤr
einen großen Mann gehalten; ſelbſt das Laſter wird
ruͤhmlich, wenn es nur in einer geiſtreichen Ge-
ſtalt erſcheinet. Wie die Spartaner ihre jungen
Leuͤte wegen begangener Diebſtaͤhle lobten, wenn ſie
nur ſie mit ſolcher Geſchiklichkeit veruͤbten, daß man
ſie nicht dabey betroffen hatte; ſo iſt bey den raffi-
nirten Wolluͤſtlingen des Geſchmaks alles Lobens-
werth, was witzig und fein iſt. Dadurch verliert
das Gemuͤth alle Staͤrke, und wird von dem Großen
und Erhabenen, das die ſpitzfuͤndige Phantaſie we-
niger ruͤhrt, abgezogen. Ein witziges und ſchalk-
haftes Lied, wird der wichtigſten Rede vorgezogen;
ein Menſch, der wie Sokrates denkt und redet, macht
gegen einen Petronius ſchlechte Figur, und Ana-
kreon iſt eine wichtigere Perſon, als Xenophon.

Man ſiehet hieraus hinlaͤnglich, daß die Bildung
des Geſchmaks eine große Nationalangelegenheit
ſey. Vernunft und Sittlichkeit ſind zwar die er-
ſten Beduͤrfniſſe des Menſchen, der ſich aus dem
Staub empor heben und ſeine Natur erhoͤhen will;
aber dieſe Erhebung vollendet der Geſchmak, der
beydes Vernunft und Sittlichkeit vervollkomnet,
der Anmuth und Gefaͤlligkeit uͤber die Handlungen
und uͤber das ganze Leben verbreitet, und uͤberhaupt
das Gemuͤth fuͤr das Gute und Boͤſe empfindſamer
macht. Man hat ihm mehr, als den hoͤhern Wiſ-
ſenſchaften zu danken. Dieſe haben unmittelbar ei-
nen geringen Einfluß auf die Milderung des Cha-
rakters und der Sitten; von dem Geſchmak aber
kann man mit voͤlliger Wahrheit ſagen, er laſſe dem
Menſchen nichts von ſeiner natuͤrlichen Rohigkeit,
und mache ihn fuͤr alles Gute empfindſam. So
wie es ein Vergnuͤgen iſt in Fuͤhrung ſolcher Ge-
ſchaͤfte, wozu Verſtand und genaue Beurtheilung
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Geſ
der Dinge vorzuͤglich noͤthig ſind, mit verſtaͤndigen
Menſchen zu thun zu haben, die gleich alles faſſen:
ſo iſt es in Dingen, wo es mehr auf ein feines Ge-
fuͤhl ankoͤmmt, angenehm, Menſchen von Geſchmak
vor ſich zu haben, weil ſie leicht jedes Gute und
jedes Wolanſtaͤndige empfinden; da der Mangel des
Geſchmaks jeden Eingang, wodurch man ſonſt in
die Herzen der Menſchen dringt, verſchließt. Faſt
noch ſchlimmer iſt ein falſcher oder kleiner Geſchmak;
denn wo dieſer einmal ſich der Gemuͤther bemaͤchti-
get hat, da richtet man weder mit Beredſamkeit,
noch mit Poeſie, noch mit Muſik, oder irgend einer
andern der ſchoͤnen Kuͤnſte, etwas aus. Man hat
mit Sophiſten zu thun, die ſich durch keine Gruͤnde
faſſen laſſen, ſondern immer eine Spitzfindigkeit in
Bereitſchaft haben, die ihnen heraus hilft. Eben
ſo uͤble Folgen hat ein willkuͤhrlicher Modegeſchmak,
der nichts ſchoͤn findet, als was nach den blos will-
kuͤhrlichen Regeln einer eingebildeten Schoͤnheit ge-
formt iſt. Da urtheilet man nicht mehr weder
aus Einſicht, noch aus natuͤrlichem Gefuͤhl, ſondern
vergleicht alles, wie den Schnitt der Kleider, mit
der Form, an die man ſich gewoͤhnt hat, und ver-
wirft das Fuͤrtreflichſte, blos, weil es nicht nach der
Mode gemacht iſt.

Geſchnittene Steine.

Die ſo genannten edlern Steine, die ſich durch
Haͤrte, Glanz und Schoͤnheit der Farben von den
gemeinen Steinen unterſcheiden, haben ſchon in den
aͤlteſten Zeiten, als Zierrathen der Natur, die Augen
der Menſchen auf ſich gezogen. Vermuthlich haben
die Voͤlker im Orient, die an den Ufern der Fluͤſſe,
in den Rizen der Felſen, und bisweilen auf ihren
Feldern dergleichen Steine finden, ſie anfaͤnglich
ihres Glanzes halber geſammelt und geſchaͤtzt, ſo
wie andre Voͤlker die ſchoͤnſten Federn der Voͤgel,
oder die Schaalen der Schneken geſammelt und zum
Schmuk der Kleider angewendet, oder als Juweelen
umgehaͤngt haben. Nachdem die zeichnenden und
bildenden Kuͤnſte aufgekommen, gab man dieſen
Steinen dadurch noch einen hoͤhern Werth, daß
man Figuren und Bilder entweder vertieft oder er-
haben darauf einſchnitte. Es iſt kein Zweyg von
zeichnenden und bildenden Kuͤnſten, von dem man
fruͤhere Spuhren antrift, als dieſer. Man koͤnnte
daher leicht auf die Vermuthung kommen, daß die
Begierde, ſolche Steine durch eine kuͤnſtliche Be-

arbei-
Erſter Theil. N n n
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[465/0477] Geſ Geſ ſonſt ſcharfen Verſtand angewendet haben. Auch die Kuͤnſte haben ihre Scholaſtiker, deren Genie und Geſchmak nur auf geſchraubten Witz, auf ſubtile Phantaſien und geiſtreiche Taͤndeleyen geht, die den Lekerbiſſen gleichen, die zwar die Zunge reizen, aber dem Koͤrper keine Nahrung geben. So fuͤrtreffliche Wuͤrkungen der große Geſchmak hat, ſo ſchaͤdlich iſt dieſer kleine und blos ſubtile Ge- ſchmak. Das Volk, bey dem er uͤberhand genom- men hat, iſt verlohren; denn es iſt blos an artige Kleinigkeiten gewoͤhnt, legt den unnuͤtzeſten Dingen, wenn ſie nur die Phantaſie reizen, einen hohen Werth bey; der ſchlechteſte Menſch, wenn er nur witzig und in Kleinigkeiten ſinnreich iſt, wird fuͤr einen großen Mann gehalten; ſelbſt das Laſter wird ruͤhmlich, wenn es nur in einer geiſtreichen Ge- ſtalt erſcheinet. Wie die Spartaner ihre jungen Leuͤte wegen begangener Diebſtaͤhle lobten, wenn ſie nur ſie mit ſolcher Geſchiklichkeit veruͤbten, daß man ſie nicht dabey betroffen hatte; ſo iſt bey den raffi- nirten Wolluͤſtlingen des Geſchmaks alles Lobens- werth, was witzig und fein iſt. Dadurch verliert das Gemuͤth alle Staͤrke, und wird von dem Großen und Erhabenen, das die ſpitzfuͤndige Phantaſie we- niger ruͤhrt, abgezogen. Ein witziges und ſchalk- haftes Lied, wird der wichtigſten Rede vorgezogen; ein Menſch, der wie Sokrates denkt und redet, macht gegen einen Petronius ſchlechte Figur, und Ana- kreon iſt eine wichtigere Perſon, als Xenophon. Man ſiehet hieraus hinlaͤnglich, daß die Bildung des Geſchmaks eine große Nationalangelegenheit ſey. Vernunft und Sittlichkeit ſind zwar die er- ſten Beduͤrfniſſe des Menſchen, der ſich aus dem Staub empor heben und ſeine Natur erhoͤhen will; aber dieſe Erhebung vollendet der Geſchmak, der beydes Vernunft und Sittlichkeit vervollkomnet, der Anmuth und Gefaͤlligkeit uͤber die Handlungen und uͤber das ganze Leben verbreitet, und uͤberhaupt das Gemuͤth fuͤr das Gute und Boͤſe empfindſamer macht. Man hat ihm mehr, als den hoͤhern Wiſ- ſenſchaften zu danken. Dieſe haben unmittelbar ei- nen geringen Einfluß auf die Milderung des Cha- rakters und der Sitten; von dem Geſchmak aber kann man mit voͤlliger Wahrheit ſagen, er laſſe dem Menſchen nichts von ſeiner natuͤrlichen Rohigkeit, und mache ihn fuͤr alles Gute empfindſam. So wie es ein Vergnuͤgen iſt in Fuͤhrung ſolcher Ge- ſchaͤfte, wozu Verſtand und genaue Beurtheilung der Dinge vorzuͤglich noͤthig ſind, mit verſtaͤndigen Menſchen zu thun zu haben, die gleich alles faſſen: ſo iſt es in Dingen, wo es mehr auf ein feines Ge- fuͤhl ankoͤmmt, angenehm, Menſchen von Geſchmak vor ſich zu haben, weil ſie leicht jedes Gute und jedes Wolanſtaͤndige empfinden; da der Mangel des Geſchmaks jeden Eingang, wodurch man ſonſt in die Herzen der Menſchen dringt, verſchließt. Faſt noch ſchlimmer iſt ein falſcher oder kleiner Geſchmak; denn wo dieſer einmal ſich der Gemuͤther bemaͤchti- get hat, da richtet man weder mit Beredſamkeit, noch mit Poeſie, noch mit Muſik, oder irgend einer andern der ſchoͤnen Kuͤnſte, etwas aus. Man hat mit Sophiſten zu thun, die ſich durch keine Gruͤnde faſſen laſſen, ſondern immer eine Spitzfindigkeit in Bereitſchaft haben, die ihnen heraus hilft. Eben ſo uͤble Folgen hat ein willkuͤhrlicher Modegeſchmak, der nichts ſchoͤn findet, als was nach den blos will- kuͤhrlichen Regeln einer eingebildeten Schoͤnheit ge- formt iſt. Da urtheilet man nicht mehr weder aus Einſicht, noch aus natuͤrlichem Gefuͤhl, ſondern vergleicht alles, wie den Schnitt der Kleider, mit der Form, an die man ſich gewoͤhnt hat, und ver- wirft das Fuͤrtreflichſte, blos, weil es nicht nach der Mode gemacht iſt. Geſchnittene Steine. Die ſo genannten edlern Steine, die ſich durch Haͤrte, Glanz und Schoͤnheit der Farben von den gemeinen Steinen unterſcheiden, haben ſchon in den aͤlteſten Zeiten, als Zierrathen der Natur, die Augen der Menſchen auf ſich gezogen. Vermuthlich haben die Voͤlker im Orient, die an den Ufern der Fluͤſſe, in den Rizen der Felſen, und bisweilen auf ihren Feldern dergleichen Steine finden, ſie anfaͤnglich ihres Glanzes halber geſammelt und geſchaͤtzt, ſo wie andre Voͤlker die ſchoͤnſten Federn der Voͤgel, oder die Schaalen der Schneken geſammelt und zum Schmuk der Kleider angewendet, oder als Juweelen umgehaͤngt haben. Nachdem die zeichnenden und bildenden Kuͤnſte aufgekommen, gab man dieſen Steinen dadurch noch einen hoͤhern Werth, daß man Figuren und Bilder entweder vertieft oder er- haben darauf einſchnitte. Es iſt kein Zweyg von zeichnenden und bildenden Kuͤnſten, von dem man fruͤhere Spuhren antrift, als dieſer. Man koͤnnte daher leicht auf die Vermuthung kommen, daß die Begierde, ſolche Steine durch eine kuͤnſtliche Be- arbei- Erſter Theil. N n n

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/477>, abgerufen am 14.05.2024.