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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ges
Es ist aus dem vorhergehenden klar, daß der Win-
kel siz nicht wol kann 45 Grade groß seyn; weil
in diesem Falle die nahe an der Grundlinie liegenden
Gegenstände nicht deutlich in das Aug fallen. Es
ist also allemal nothwendig, die Höhe des Gesichts-
punkts geringer zu nehmen, als den Abstand dessel-
ben von der Tafel.

Jndessen kömmt es dabey auch auf die Höhe der
vorzustellenden Gegenstände an. Wenn z. E. ein ho-
her Thurm abzuzeichnen wäre, dessen Spitze sich sehr
hoch über die Linie des Horizonts erhebte, so muß
auch die von der Spitze des Thurmes in den Augen-
punkt gezogene Linie mit der Horizontallinie keinen
Winkel machen, der über 45 Grade groß wäre.
Wenn also sehr hohe Sachen vorzustellen sind, de-
ren oberste Höhe deutlich in die Augen fallen soll,
so muß der Gesichtspunkt eine ihnen dergestalt ange-
messene Höhe haben, daß sie nicht undeutlich wer-
den. Dieses aber ist bey der geringsten Kenntnis
der Geometrie so leicht, daß es nicht nöthig ist, die
Sache hier besonders auszuführen.

Endlich ist die Richtung des Auges zu betrachten,
oder die Richtung der Linie i s. Man übersieht eine
Scene am deutlichsten, wenn man so gerade davor
steht, daß die Richtung des Auges mitten in diesel-
be geht. Eine Schaubühne z. E. und alles, was
darauf vorgeht, fällt am besten ins Gesicht, wenn
man gerade der Mitte der Bühne gegenüber steht.
Daher liegt auch der Augenpunkt in den meisten
Gemählden mitten in der Tafel, welches bey allen
den Gemählden nothwendig ist, auf denen die Haupt-
sachen mitten auf der Tafel gezeichnet sind. Es giebt
aber auch verschiedene Fälle, wo dieser Punkt aus
der Mitte gegen das eine oder andre Ende der Tafel
(*) S.
Augen-
punkt.
herausgerükt wird. (*)

Dieses ist also, was der Zeichner bey der Wahl
oder Festsetzung des Gesichtspunkts zu überle-
gen hat.

Ein Gemählde zeiget sich nur alsdenn in seiner
Vollkommenheit, wenn das Aug dessen, der es be-
trachtet, gerade in dem Gesichtspunkt, auf den sich
seine perspektivische Zeichnung gründet, steht. Da-
her kömmt es, daß Kenner, um ein Gemählde recht
zu beurtheilen, dasselbe, wo es möglich ist, allemal
aus dem wahren Gesichtspunkt betrachten. Jn Gal-
lerien aber, wo die Gemählde aufgehangen sind,
geht es selten an.

[Spaltenumbruch]
Ges
Gesims.
(Baukunst.)

Eine aus mehrern Gliedern bestehende Einfaßung
an dem obersten, bisweilen auch an dem untersten
End einer Mauerwand, oder einer Oefnung. Also
sind die Einfaßungen, die in den Zimmern zu oberst
an der Deke um die Wände herumlaufen, Ge-
simse, die den Wänden von oben ihre Einfaßung
geben. Wenn die Wände auch unten an dem Fuß-
boden solche, aus mehrern Gliedern bestehende, Ein-
faßungen haben, so werden sie Fußgesimse genennt.
Eine solche Einfaßung, die an einem Haus gerade
unter dem Dache herumläuft, wird das Haupt-
gesims
des Hauses genennt. (*) Auch die Oefnun-(*) S.
Gebälk.

gen, als Thüren uud Fenster, wenn sie ihre völlige
Verzierung bekommen, werden oben mit Gesimsen
eingefaßt.

Das Gesims dienet zur Begränzung und Vollen-
dung der Theile, die davon ihre Einfaßung bekom-
men, damit sie als etwas Ganzes erscheinen, wie
anderswo deutlich gezeiget worden (*): mithin ist(*) S.
Ganz.

es eine wesentliche Verzierung ganzer Gebäude, der
Oefnungen, der Wände in Zimmern und freystehen-
der zu bloßer Einschließung eines Platzes dienender
Mauren.

Sie werden auf sehr vielerley Arten gemacht.
Die vollständigsten Gesimse sind die, welche nach
Art der Gebälke gemacht sind, wie die Hauptge-
simse der Häuser, und die Gesimse über große Haus-
thüren, an denen die Oberschwelle die Stelle des
Unterbalkens, der darauf folgende Streiffen den
Fries, und dann die darüber hervorstehenden Glieder
den Kranz vorstellen. Sie können aus vielerley
platten und runden, ausgebogenen oder ausgekehl-
ten Gliedern bestehen, deren Anzahl und Verhält-
nis keinen besondern Regeln unterworfen ist. Sie
müssen allemal nach Maaßgebung der Ordnung
und des in dem Gebäude mehr oder weniger herr-
schenden Reichthums ausgesucht werden. Man
kann aber aus den verschiedenen Gesimsen, die aus-
wendig und inwendig an den Gebäuden angebracht
sind, gar bald den guten oder schlechten Geschmak
eines Baumeisters erkennen. (*)

(*) S.
Glieder.

Einige allgemeine Regeln müssen bey jedem Ge-
sims wol in Acht genommen werden. Seine ganze
Höhe, wenn es nach Art eines Gebälks gemacht
ist, wird nach den Verhältmssen der großen Gebälke

an

[Spaltenumbruch]

Geſ
Es iſt aus dem vorhergehenden klar, daß der Win-
kel siz nicht wol kann 45 Grade groß ſeyn; weil
in dieſem Falle die nahe an der Grundlinie liegenden
Gegenſtaͤnde nicht deutlich in das Aug fallen. Es
iſt alſo allemal nothwendig, die Hoͤhe des Geſichts-
punkts geringer zu nehmen, als den Abſtand deſſel-
ben von der Tafel.

Jndeſſen koͤmmt es dabey auch auf die Hoͤhe der
vorzuſtellenden Gegenſtaͤnde an. Wenn z. E. ein ho-
her Thurm abzuzeichnen waͤre, deſſen Spitze ſich ſehr
hoch uͤber die Linie des Horizonts erhebte, ſo muß
auch die von der Spitze des Thurmes in den Augen-
punkt gezogene Linie mit der Horizontallinie keinen
Winkel machen, der uͤber 45 Grade groß waͤre.
Wenn alſo ſehr hohe Sachen vorzuſtellen ſind, de-
ren oberſte Hoͤhe deutlich in die Augen fallen ſoll,
ſo muß der Geſichtspunkt eine ihnen dergeſtalt ange-
meſſene Hoͤhe haben, daß ſie nicht undeutlich wer-
den. Dieſes aber iſt bey der geringſten Kenntnis
der Geometrie ſo leicht, daß es nicht noͤthig iſt, die
Sache hier beſonders auszufuͤhren.

Endlich iſt die Richtung des Auges zu betrachten,
oder die Richtung der Linie i s. Man uͤberſieht eine
Scene am deutlichſten, wenn man ſo gerade davor
ſteht, daß die Richtung des Auges mitten in dieſel-
be geht. Eine Schaubuͤhne z. E. und alles, was
darauf vorgeht, faͤllt am beſten ins Geſicht, wenn
man gerade der Mitte der Buͤhne gegenuͤber ſteht.
Daher liegt auch der Augenpunkt in den meiſten
Gemaͤhlden mitten in der Tafel, welches bey allen
den Gemaͤhlden nothwendig iſt, auf denen die Haupt-
ſachen mitten auf der Tafel gezeichnet ſind. Es giebt
aber auch verſchiedene Faͤlle, wo dieſer Punkt aus
der Mitte gegen das eine oder andre Ende der Tafel
(*) S.
Augen-
punkt.
herausgeruͤkt wird. (*)

Dieſes iſt alſo, was der Zeichner bey der Wahl
oder Feſtſetzung des Geſichtspunkts zu uͤberle-
gen hat.

Ein Gemaͤhlde zeiget ſich nur alsdenn in ſeiner
Vollkommenheit, wenn das Aug deſſen, der es be-
trachtet, gerade in dem Geſichtspunkt, auf den ſich
ſeine perſpektiviſche Zeichnung gruͤndet, ſteht. Da-
her koͤmmt es, daß Kenner, um ein Gemaͤhlde recht
zu beurtheilen, daſſelbe, wo es moͤglich iſt, allemal
aus dem wahren Geſichtspunkt betrachten. Jn Gal-
lerien aber, wo die Gemaͤhlde aufgehangen ſind,
geht es ſelten an.

[Spaltenumbruch]
Geſ
Geſims.
(Baukunſt.)

Eine aus mehrern Gliedern beſtehende Einfaßung
an dem oberſten, bisweilen auch an dem unterſten
End einer Mauerwand, oder einer Oefnung. Alſo
ſind die Einfaßungen, die in den Zimmern zu oberſt
an der Deke um die Waͤnde herumlaufen, Ge-
ſimſe, die den Waͤnden von oben ihre Einfaßung
geben. Wenn die Waͤnde auch unten an dem Fuß-
boden ſolche, aus mehrern Gliedern beſtehende, Ein-
faßungen haben, ſo werden ſie Fußgeſimſe genennt.
Eine ſolche Einfaßung, die an einem Haus gerade
unter dem Dache herumlaͤuft, wird das Haupt-
geſims
des Hauſes genennt. (*) Auch die Oefnun-(*) S.
Gebaͤlk.

gen, als Thuͤren uud Fenſter, wenn ſie ihre voͤllige
Verzierung bekommen, werden oben mit Geſimſen
eingefaßt.

Das Geſims dienet zur Begraͤnzung und Vollen-
dung der Theile, die davon ihre Einfaßung bekom-
men, damit ſie als etwas Ganzes erſcheinen, wie
anderswo deutlich gezeiget worden (*): mithin iſt(*) S.
Ganz.

es eine weſentliche Verzierung ganzer Gebaͤude, der
Oefnungen, der Waͤnde in Zimmern und freyſtehen-
der zu bloßer Einſchließung eines Platzes dienender
Mauren.

Sie werden auf ſehr vielerley Arten gemacht.
Die vollſtaͤndigſten Geſimſe ſind die, welche nach
Art der Gebaͤlke gemacht ſind, wie die Hauptge-
ſimſe der Haͤuſer, und die Geſimſe uͤber große Haus-
thuͤren, an denen die Oberſchwelle die Stelle des
Unterbalkens, der darauf folgende Streiffen den
Fries, und dann die daruͤber hervorſtehenden Glieder
den Kranz vorſtellen. Sie koͤnnen aus vielerley
platten und runden, ausgebogenen oder ausgekehl-
ten Gliedern beſtehen, deren Anzahl und Verhaͤlt-
nis keinen beſondern Regeln unterworfen iſt. Sie
muͤſſen allemal nach Maaßgebung der Ordnung
und des in dem Gebaͤude mehr oder weniger herr-
ſchenden Reichthums ausgeſucht werden. Man
kann aber aus den verſchiedenen Geſimſen, die aus-
wendig und inwendig an den Gebaͤuden angebracht
ſind, gar bald den guten oder ſchlechten Geſchmak
eines Baumeiſters erkennen. (*)

(*) S.
Glieder.

Einige allgemeine Regeln muͤſſen bey jedem Ge-
ſims wol in Acht genommen werden. Seine ganze
Hoͤhe, wenn es nach Art eines Gebaͤlks gemacht
iſt, wird nach den Verhaͤltmſſen der großen Gebaͤlke

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[472/0484] Geſ Geſ Es iſt aus dem vorhergehenden klar, daß der Win- kel siz nicht wol kann 45 Grade groß ſeyn; weil in dieſem Falle die nahe an der Grundlinie liegenden Gegenſtaͤnde nicht deutlich in das Aug fallen. Es iſt alſo allemal nothwendig, die Hoͤhe des Geſichts- punkts geringer zu nehmen, als den Abſtand deſſel- ben von der Tafel. Jndeſſen koͤmmt es dabey auch auf die Hoͤhe der vorzuſtellenden Gegenſtaͤnde an. Wenn z. E. ein ho- her Thurm abzuzeichnen waͤre, deſſen Spitze ſich ſehr hoch uͤber die Linie des Horizonts erhebte, ſo muß auch die von der Spitze des Thurmes in den Augen- punkt gezogene Linie mit der Horizontallinie keinen Winkel machen, der uͤber 45 Grade groß waͤre. Wenn alſo ſehr hohe Sachen vorzuſtellen ſind, de- ren oberſte Hoͤhe deutlich in die Augen fallen ſoll, ſo muß der Geſichtspunkt eine ihnen dergeſtalt ange- meſſene Hoͤhe haben, daß ſie nicht undeutlich wer- den. Dieſes aber iſt bey der geringſten Kenntnis der Geometrie ſo leicht, daß es nicht noͤthig iſt, die Sache hier beſonders auszufuͤhren. Endlich iſt die Richtung des Auges zu betrachten, oder die Richtung der Linie i s. Man uͤberſieht eine Scene am deutlichſten, wenn man ſo gerade davor ſteht, daß die Richtung des Auges mitten in dieſel- be geht. Eine Schaubuͤhne z. E. und alles, was darauf vorgeht, faͤllt am beſten ins Geſicht, wenn man gerade der Mitte der Buͤhne gegenuͤber ſteht. Daher liegt auch der Augenpunkt in den meiſten Gemaͤhlden mitten in der Tafel, welches bey allen den Gemaͤhlden nothwendig iſt, auf denen die Haupt- ſachen mitten auf der Tafel gezeichnet ſind. Es giebt aber auch verſchiedene Faͤlle, wo dieſer Punkt aus der Mitte gegen das eine oder andre Ende der Tafel herausgeruͤkt wird. (*) (*) S. Augen- punkt. Dieſes iſt alſo, was der Zeichner bey der Wahl oder Feſtſetzung des Geſichtspunkts zu uͤberle- gen hat. Ein Gemaͤhlde zeiget ſich nur alsdenn in ſeiner Vollkommenheit, wenn das Aug deſſen, der es be- trachtet, gerade in dem Geſichtspunkt, auf den ſich ſeine perſpektiviſche Zeichnung gruͤndet, ſteht. Da- her koͤmmt es, daß Kenner, um ein Gemaͤhlde recht zu beurtheilen, daſſelbe, wo es moͤglich iſt, allemal aus dem wahren Geſichtspunkt betrachten. Jn Gal- lerien aber, wo die Gemaͤhlde aufgehangen ſind, geht es ſelten an. Geſims. (Baukunſt.) Eine aus mehrern Gliedern beſtehende Einfaßung an dem oberſten, bisweilen auch an dem unterſten End einer Mauerwand, oder einer Oefnung. Alſo ſind die Einfaßungen, die in den Zimmern zu oberſt an der Deke um die Waͤnde herumlaufen, Ge- ſimſe, die den Waͤnden von oben ihre Einfaßung geben. Wenn die Waͤnde auch unten an dem Fuß- boden ſolche, aus mehrern Gliedern beſtehende, Ein- faßungen haben, ſo werden ſie Fußgeſimſe genennt. Eine ſolche Einfaßung, die an einem Haus gerade unter dem Dache herumlaͤuft, wird das Haupt- geſims des Hauſes genennt. (*) Auch die Oefnun- gen, als Thuͤren uud Fenſter, wenn ſie ihre voͤllige Verzierung bekommen, werden oben mit Geſimſen eingefaßt. (*) S. Gebaͤlk. Das Geſims dienet zur Begraͤnzung und Vollen- dung der Theile, die davon ihre Einfaßung bekom- men, damit ſie als etwas Ganzes erſcheinen, wie anderswo deutlich gezeiget worden (*): mithin iſt es eine weſentliche Verzierung ganzer Gebaͤude, der Oefnungen, der Waͤnde in Zimmern und freyſtehen- der zu bloßer Einſchließung eines Platzes dienender Mauren. (*) S. Ganz. Sie werden auf ſehr vielerley Arten gemacht. Die vollſtaͤndigſten Geſimſe ſind die, welche nach Art der Gebaͤlke gemacht ſind, wie die Hauptge- ſimſe der Haͤuſer, und die Geſimſe uͤber große Haus- thuͤren, an denen die Oberſchwelle die Stelle des Unterbalkens, der darauf folgende Streiffen den Fries, und dann die daruͤber hervorſtehenden Glieder den Kranz vorſtellen. Sie koͤnnen aus vielerley platten und runden, ausgebogenen oder ausgekehl- ten Gliedern beſtehen, deren Anzahl und Verhaͤlt- nis keinen beſondern Regeln unterworfen iſt. Sie muͤſſen allemal nach Maaßgebung der Ordnung und des in dem Gebaͤude mehr oder weniger herr- ſchenden Reichthums ausgeſucht werden. Man kann aber aus den verſchiedenen Geſimſen, die aus- wendig und inwendig an den Gebaͤuden angebracht ſind, gar bald den guten oder ſchlechten Geſchmak eines Baumeiſters erkennen. (*) Einige allgemeine Regeln muͤſſen bey jedem Ge- ſims wol in Acht genommen werden. Seine ganze Hoͤhe, wenn es nach Art eines Gebaͤlks gemacht iſt, wird nach den Verhaͤltmſſen der großen Gebaͤlke an

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/484>, abgerufen am 22.11.2024.