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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gro
ten Gebrauch davon machen könne. Jn den Kün-
sten ist unstreitig dasjenige das Wichtigste, was uns
die Größe der Seele zu empfinden giebt.

Diese Größe entstehet, wie gesagt, aus der Stärke
der Beurtheilungskraft, auf sittliche Gegenstände
angewendet. Der Mensch denkt und handelt groß,
der die sittlichen Gegenstände in ihren wahren Ver-
hältnissen sieht, in ihrem eigentlichen Wesen kennt,
und deswegen das Wichtige von dem Unbeträchtli-
chen genau unterscheidet. Denn dadurch geschieht,
daß ihn nichts geringes rühret, daß er in Absicht
auf das Gute und Böse, auf Glük und Unglük, auf
Tugend und Laster, weder auf Kleinigkeiten achtet,
noch sich durch den Schein blenden läßt. Jn sei-
nen Urtheilen kömmt er schnell auf den Mittelpunkt
der Dinge, und entfernt alles was nicht zum Wesent-
lichen gehört; in seinen Handlungen aber geht er
gerade und mit Zuversicht zum Zwek. Kleine See-
len werden in ihren Vorstellungen und Empfindun-
gen von den ersten Eindrüken, die die Sachen auf
sie machen, und von dem Scheine derselben geleitet.
Es fehlt ihnen an eigener Würksamkeit, wodurch sie
Meister ihrer Vorstellungen und Entschließungen
werden. Man entdeket in ihrem Denken und Han-
deln gar keine Einförmigkeit, nichts Einfaches und
Gerades; und wenn sie Absichten haben, so wissen
sie die Mittel, die geradezu dieselben befördern, nicht
zu erfinden, sondern lauren darauf, ob sie sich von
selbst anbieten werden; versuchen jedes, das ihnen
vorkömmt, um aus Proben und Erfahrung zu sehen,
ob es ihnen etwa nützlich seyn könne. Jn ihren Em-
pfindungen sind sie eben so schwach; jede Kleinig-
keit bringt sie in Bewegung, sie leben in einer bestän-
digen Abwechslung von Vergnügen und Mißver-
gnügen, von Wunsch und Genuß, ohne jemals die
Dinge zu kennen, von denen sie unaufhörlich, wie
eine Wetterfahne, im Kreis herum getrieben werden.

Wenn gedachte Stärke der Beurtheilungskraft
sich über den ganzen Umfang der sittlichen Gegen-
stände und Angelegenheiten des Menschen erstreket,
und nicht blos, wie es ofte geschieht, auf einzele
Zweyge derselben eingeschränkt ist, so entstehet da-
her der große Charakter des Menschen, die stille
Größe des Gemüthes, die ihn über die gewöhnlichen
Schwachheiten andrer Menschen erhebet. Er hat
aus der Menge der Dinge, die er beobachtet und
beurtheilt hat, wenige Hauptbegriffe herausgezogen,
die sein Urtheil, und wenige Grundmarimen, die
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Gro
seine Handlungen bestimmen. Er wird von nichts
überrascht und von nichts hingerissen; er ist der Weise,
von dem Horaz sagt:

-- Si sractus illabitur Orbis
Impavidum ferient ruinae.

Einzele Beyspiele von hoher Sinnesart treffen wir
bey allen guten epischen und dramatischen Dichtern
an, und es würde überflüßig seyn eine Anzahl der-
selben hier zu sammeln. Wer den Homer, den
Aeschylus und den Sophokles unter den Alten; den
Shakespear, und Corneille von den Neuern gelesen
hat, könnte leicht eine beträchtliche Sammlung da-
von machen. Aber der letztere fällt darin biswei-
len ins Uebertriebene.

Nun haben wir noch den Charakter der Größe
in leidenschaftlichen Gegenständen zu betrachten. So
wol in dem, was Leidenschaft erwekt, als in der Art,
wie diese sich äussert, kann Größe statt haben. Dort
bekömmt man den Begriff einer großen Macht, die
uns unwiderstehlich ergreift, hier von einer großen
Kraft, die der fühlende Mensch anwendet, der an-
greifenden Macht zu widerstehen. Beydes verdienet
eine nähere Erläuterung.

Gegenstände, die Leidenschaften erweken, können
auf mehr als eine Weise groß seyn. Jhre vorzüg-
lichste Größe kömmt von der Wichtigkeit und von
dem weiten Umfange der Würkung her. Sie erwe-
ken allemal den Begriff eines Guts oder eines Ue-
bels; beyde sind klein, oder gering zu achten, wenn
sie vorübergehend sind, wenn sie uns nur auf eine
kurze Zeit vergnügt, oder mißvergnügt machen, oder
wenn sie nur einen geringen Einfluß auf einen Theil
der Glückseeligkeit haben. Groß und wichtig sind sie
hingegen, wenn ihre Würkung sich auf das ganze
Leben und auf das Wesentliche der Glückseeligkeit er-
strekt; am größten, wenn sie ganz entscheidend sind.
Die Liebe ist eine vorübergehende Leidenschaft, die
im Grunde die Befriedigung eines körperlichen Be-
dürfnisses zum Endzwek hat. Jn diesem Gesichts-
punkt kann ihr Gegenstand nicht groß scheinen: aber
durch die Einmischung des Sittlichen, und aus dem
Gesichtspunkte betrachtet, wie ernsthafte, oder enthu-
siastische Seelen sie ansehen, bekömmt er eine Größe,
die uns in Verwundrung setzt. So wie bey Klop-
stok Lazarus den Gegenstand seiner Liebe sieht, ist
er nicht nur groß, sondern völlig erhaben. So
kann der Künstler den Gegenständen der Leidenschaft

eine

[Spaltenumbruch]

Gro
ten Gebrauch davon machen koͤnne. Jn den Kuͤn-
ſten iſt unſtreitig dasjenige das Wichtigſte, was uns
die Groͤße der Seele zu empfinden giebt.

Dieſe Groͤße entſtehet, wie geſagt, aus der Staͤrke
der Beurtheilungskraft, auf ſittliche Gegenſtaͤnde
angewendet. Der Menſch denkt und handelt groß,
der die ſittlichen Gegenſtaͤnde in ihren wahren Ver-
haͤltniſſen ſieht, in ihrem eigentlichen Weſen kennt,
und deswegen das Wichtige von dem Unbetraͤchtli-
chen genau unterſcheidet. Denn dadurch geſchieht,
daß ihn nichts geringes ruͤhret, daß er in Abſicht
auf das Gute und Boͤſe, auf Gluͤk und Ungluͤk, auf
Tugend und Laſter, weder auf Kleinigkeiten achtet,
noch ſich durch den Schein blenden laͤßt. Jn ſei-
nen Urtheilen koͤmmt er ſchnell auf den Mittelpunkt
der Dinge, und entfernt alles was nicht zum Weſent-
lichen gehoͤrt; in ſeinen Handlungen aber geht er
gerade und mit Zuverſicht zum Zwek. Kleine See-
len werden in ihren Vorſtellungen und Empfindun-
gen von den erſten Eindruͤken, die die Sachen auf
ſie machen, und von dem Scheine derſelben geleitet.
Es fehlt ihnen an eigener Wuͤrkſamkeit, wodurch ſie
Meiſter ihrer Vorſtellungen und Entſchließungen
werden. Man entdeket in ihrem Denken und Han-
deln gar keine Einfoͤrmigkeit, nichts Einfaches und
Gerades; und wenn ſie Abſichten haben, ſo wiſſen
ſie die Mittel, die geradezu dieſelben befoͤrdern, nicht
zu erfinden, ſondern lauren darauf, ob ſie ſich von
ſelbſt anbieten werden; verſuchen jedes, das ihnen
vorkoͤmmt, um aus Proben und Erfahrung zu ſehen,
ob es ihnen etwa nuͤtzlich ſeyn koͤnne. Jn ihren Em-
pfindungen ſind ſie eben ſo ſchwach; jede Kleinig-
keit bringt ſie in Bewegung, ſie leben in einer beſtaͤn-
digen Abwechslung von Vergnuͤgen und Mißver-
gnuͤgen, von Wunſch und Genuß, ohne jemals die
Dinge zu kennen, von denen ſie unaufhoͤrlich, wie
eine Wetterfahne, im Kreis herum getrieben werden.

Wenn gedachte Staͤrke der Beurtheilungskraft
ſich uͤber den ganzen Umfang der ſittlichen Gegen-
ſtaͤnde und Angelegenheiten des Menſchen erſtreket,
und nicht blos, wie es ofte geſchieht, auf einzele
Zweyge derſelben eingeſchraͤnkt iſt, ſo entſtehet da-
her der große Charakter des Menſchen, die ſtille
Groͤße des Gemuͤthes, die ihn uͤber die gewoͤhnlichen
Schwachheiten andrer Menſchen erhebet. Er hat
aus der Menge der Dinge, die er beobachtet und
beurtheilt hat, wenige Hauptbegriffe herausgezogen,
die ſein Urtheil, und wenige Grundmarimen, die
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Gro
ſeine Handlungen beſtimmen. Er wird von nichts
uͤberraſcht und von nichts hingeriſſen; er iſt der Weiſe,
von dem Horaz ſagt:

Si ſractus illabitur Orbis
Impavidum ferient ruinæ.

Einzele Beyſpiele von hoher Sinnesart treffen wir
bey allen guten epiſchen und dramatiſchen Dichtern
an, und es wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn eine Anzahl der-
ſelben hier zu ſammeln. Wer den Homer, den
Aeſchylus und den Sophokles unter den Alten; den
Shakeſpear, und Corneille von den Neuern geleſen
hat, koͤnnte leicht eine betraͤchtliche Sammlung da-
von machen. Aber der letztere faͤllt darin biswei-
len ins Uebertriebene.

Nun haben wir noch den Charakter der Groͤße
in leidenſchaftlichen Gegenſtaͤnden zu betrachten. So
wol in dem, was Leidenſchaft erwekt, als in der Art,
wie dieſe ſich aͤuſſert, kann Groͤße ſtatt haben. Dort
bekoͤmmt man den Begriff einer großen Macht, die
uns unwiderſtehlich ergreift, hier von einer großen
Kraft, die der fuͤhlende Menſch anwendet, der an-
greifenden Macht zu widerſtehen. Beydes verdienet
eine naͤhere Erlaͤuterung.

Gegenſtaͤnde, die Leidenſchaften erweken, koͤnnen
auf mehr als eine Weiſe groß ſeyn. Jhre vorzuͤg-
lichſte Groͤße koͤmmt von der Wichtigkeit und von
dem weiten Umfange der Wuͤrkung her. Sie erwe-
ken allemal den Begriff eines Guts oder eines Ue-
bels; beyde ſind klein, oder gering zu achten, wenn
ſie voruͤbergehend ſind, wenn ſie uns nur auf eine
kurze Zeit vergnuͤgt, oder mißvergnuͤgt machen, oder
wenn ſie nur einen geringen Einfluß auf einen Theil
der Gluͤckſeeligkeit haben. Groß und wichtig ſind ſie
hingegen, wenn ihre Wuͤrkung ſich auf das ganze
Leben und auf das Weſentliche der Gluͤckſeeligkeit er-
ſtrekt; am groͤßten, wenn ſie ganz entſcheidend ſind.
Die Liebe iſt eine voruͤbergehende Leidenſchaft, die
im Grunde die Befriedigung eines koͤrperlichen Be-
duͤrfniſſes zum Endzwek hat. Jn dieſem Geſichts-
punkt kann ihr Gegenſtand nicht groß ſcheinen: aber
durch die Einmiſchung des Sittlichen, und aus dem
Geſichtspunkte betrachtet, wie ernſthafte, oder enthu-
ſiaſtiſche Seelen ſie anſehen, bekoͤmmt er eine Groͤße,
die uns in Verwundrung ſetzt. So wie bey Klop-
ſtok Lazarus den Gegenſtand ſeiner Liebe ſieht, iſt
er nicht nur groß, ſondern voͤllig erhaben. So
kann der Kuͤnſtler den Gegenſtaͤnden der Leidenſchaft

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[494/0506] Gro Gro ten Gebrauch davon machen koͤnne. Jn den Kuͤn- ſten iſt unſtreitig dasjenige das Wichtigſte, was uns die Groͤße der Seele zu empfinden giebt. Dieſe Groͤße entſtehet, wie geſagt, aus der Staͤrke der Beurtheilungskraft, auf ſittliche Gegenſtaͤnde angewendet. Der Menſch denkt und handelt groß, der die ſittlichen Gegenſtaͤnde in ihren wahren Ver- haͤltniſſen ſieht, in ihrem eigentlichen Weſen kennt, und deswegen das Wichtige von dem Unbetraͤchtli- chen genau unterſcheidet. Denn dadurch geſchieht, daß ihn nichts geringes ruͤhret, daß er in Abſicht auf das Gute und Boͤſe, auf Gluͤk und Ungluͤk, auf Tugend und Laſter, weder auf Kleinigkeiten achtet, noch ſich durch den Schein blenden laͤßt. Jn ſei- nen Urtheilen koͤmmt er ſchnell auf den Mittelpunkt der Dinge, und entfernt alles was nicht zum Weſent- lichen gehoͤrt; in ſeinen Handlungen aber geht er gerade und mit Zuverſicht zum Zwek. Kleine See- len werden in ihren Vorſtellungen und Empfindun- gen von den erſten Eindruͤken, die die Sachen auf ſie machen, und von dem Scheine derſelben geleitet. Es fehlt ihnen an eigener Wuͤrkſamkeit, wodurch ſie Meiſter ihrer Vorſtellungen und Entſchließungen werden. Man entdeket in ihrem Denken und Han- deln gar keine Einfoͤrmigkeit, nichts Einfaches und Gerades; und wenn ſie Abſichten haben, ſo wiſſen ſie die Mittel, die geradezu dieſelben befoͤrdern, nicht zu erfinden, ſondern lauren darauf, ob ſie ſich von ſelbſt anbieten werden; verſuchen jedes, das ihnen vorkoͤmmt, um aus Proben und Erfahrung zu ſehen, ob es ihnen etwa nuͤtzlich ſeyn koͤnne. Jn ihren Em- pfindungen ſind ſie eben ſo ſchwach; jede Kleinig- keit bringt ſie in Bewegung, ſie leben in einer beſtaͤn- digen Abwechslung von Vergnuͤgen und Mißver- gnuͤgen, von Wunſch und Genuß, ohne jemals die Dinge zu kennen, von denen ſie unaufhoͤrlich, wie eine Wetterfahne, im Kreis herum getrieben werden. Wenn gedachte Staͤrke der Beurtheilungskraft ſich uͤber den ganzen Umfang der ſittlichen Gegen- ſtaͤnde und Angelegenheiten des Menſchen erſtreket, und nicht blos, wie es ofte geſchieht, auf einzele Zweyge derſelben eingeſchraͤnkt iſt, ſo entſtehet da- her der große Charakter des Menſchen, die ſtille Groͤße des Gemuͤthes, die ihn uͤber die gewoͤhnlichen Schwachheiten andrer Menſchen erhebet. Er hat aus der Menge der Dinge, die er beobachtet und beurtheilt hat, wenige Hauptbegriffe herausgezogen, die ſein Urtheil, und wenige Grundmarimen, die ſeine Handlungen beſtimmen. Er wird von nichts uͤberraſcht und von nichts hingeriſſen; er iſt der Weiſe, von dem Horaz ſagt: — Si ſractus illabitur Orbis Impavidum ferient ruinæ. Einzele Beyſpiele von hoher Sinnesart treffen wir bey allen guten epiſchen und dramatiſchen Dichtern an, und es wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn eine Anzahl der- ſelben hier zu ſammeln. Wer den Homer, den Aeſchylus und den Sophokles unter den Alten; den Shakeſpear, und Corneille von den Neuern geleſen hat, koͤnnte leicht eine betraͤchtliche Sammlung da- von machen. Aber der letztere faͤllt darin biswei- len ins Uebertriebene. Nun haben wir noch den Charakter der Groͤße in leidenſchaftlichen Gegenſtaͤnden zu betrachten. So wol in dem, was Leidenſchaft erwekt, als in der Art, wie dieſe ſich aͤuſſert, kann Groͤße ſtatt haben. Dort bekoͤmmt man den Begriff einer großen Macht, die uns unwiderſtehlich ergreift, hier von einer großen Kraft, die der fuͤhlende Menſch anwendet, der an- greifenden Macht zu widerſtehen. Beydes verdienet eine naͤhere Erlaͤuterung. Gegenſtaͤnde, die Leidenſchaften erweken, koͤnnen auf mehr als eine Weiſe groß ſeyn. Jhre vorzuͤg- lichſte Groͤße koͤmmt von der Wichtigkeit und von dem weiten Umfange der Wuͤrkung her. Sie erwe- ken allemal den Begriff eines Guts oder eines Ue- bels; beyde ſind klein, oder gering zu achten, wenn ſie voruͤbergehend ſind, wenn ſie uns nur auf eine kurze Zeit vergnuͤgt, oder mißvergnuͤgt machen, oder wenn ſie nur einen geringen Einfluß auf einen Theil der Gluͤckſeeligkeit haben. Groß und wichtig ſind ſie hingegen, wenn ihre Wuͤrkung ſich auf das ganze Leben und auf das Weſentliche der Gluͤckſeeligkeit er- ſtrekt; am groͤßten, wenn ſie ganz entſcheidend ſind. Die Liebe iſt eine voruͤbergehende Leidenſchaft, die im Grunde die Befriedigung eines koͤrperlichen Be- duͤrfniſſes zum Endzwek hat. Jn dieſem Geſichts- punkt kann ihr Gegenſtand nicht groß ſcheinen: aber durch die Einmiſchung des Sittlichen, und aus dem Geſichtspunkte betrachtet, wie ernſthafte, oder enthu- ſiaſtiſche Seelen ſie anſehen, bekoͤmmt er eine Groͤße, die uns in Verwundrung ſetzt. So wie bey Klop- ſtok Lazarus den Gegenſtand ſeiner Liebe ſieht, iſt er nicht nur groß, ſondern voͤllig erhaben. So kann der Kuͤnſtler den Gegenſtaͤnden der Leidenſchaft eine

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/506>, abgerufen am 15.05.2024.