Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gro latives, sondern ein handelndes, würksames, Frey-heit und Macht besitzendes Wesen ist; sie wendet ihre Kraft an um den Gegenstand zu genießen, oder sich ihm zu widersetzen: und eben in diesen Um- ständen zeigen sich starke Seelen in ihrer vollen Größe. Es ist dem Menschen überhaupt nichts wichtiger, als die Behauptung seiner innerlichen Freyheit und Macht zu würken; weil er eigentlich seine Eristenz nur alsdenn recht fühlt, wenn er diese Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von sich ab- zuwenden. Darum sucht er den Kreis seiner Würk- samkeit überall zu erweitern; und wenn er Hinter- nisse vor sich findet, schwellen seine Kräfte, wie ein gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und Ungestühm durch, und reissen, was ihnen im Wege steht, nieder. Darum ist der leidenschaftliche Zu- stand des Menschen vorzüglich geschikt, ihn in sei- ner Größe darzustellen. Jederman empfindet diesen Charakter der Größe Jm Grund also ist das Große der Leidenschaften, Gro denschaft, ist blos Jrrthum, blos Fehler in derVorstellung, und verdienet Vergebung; hingegen ist die Gleichgültigkeit für die Behauptung seiner innern freyen Würksamkeit eine völlige Niederträch- tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieses hin- dert aber nicht, daß wir nicht den für noch grösser halten, der so gar seine eigene Würksamkeit und Freyheit einem noch grössern Gut aufopfert. Sich selbst überwinden, ist der größte Sieg, und die größte Kraft der Seele zeiget sich darin, daß sie ih- rer eigenen Würksamkeit, mitten in der stärksten Aeusserung, dennoch Meister wird, um sie anders- wohin zu lenken. Denn wie der, der sein Leben und seine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein Nichtswürdiger ist, so verdienet der unsre größte Hochachtung, der sie freywillig, aus Stärke des Gei- stes, um höhere Absichten zu erreichen, dahingiebt. Dieses sind also die verschiedenen Gattungen des Zur guten Behandlung des Großen gehört ein Ge- Erster Theil. R r r
[Spaltenumbruch] Gro latives, ſondern ein handelndes, wuͤrkſames, Frey-heit und Macht beſitzendes Weſen iſt; ſie wendet ihre Kraft an um den Gegenſtand zu genießen, oder ſich ihm zu widerſetzen: und eben in dieſen Um- ſtaͤnden zeigen ſich ſtarke Seelen in ihrer vollen Groͤße. Es iſt dem Menſchen uͤberhaupt nichts wichtiger, als die Behauptung ſeiner innerlichen Freyheit und Macht zu wuͤrken; weil er eigentlich ſeine Eriſtenz nur alsdenn recht fuͤhlt, wenn er dieſe Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von ſich ab- zuwenden. Darum ſucht er den Kreis ſeiner Wuͤrk- ſamkeit uͤberall zu erweitern; und wenn er Hinter- niſſe vor ſich findet, ſchwellen ſeine Kraͤfte, wie ein gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und Ungeſtuͤhm durch, und reiſſen, was ihnen im Wege ſteht, nieder. Darum iſt der leidenſchaftliche Zu- ſtand des Menſchen vorzuͤglich geſchikt, ihn in ſei- ner Groͤße darzuſtellen. Jederman empfindet dieſen Charakter der Groͤße Jm Grund alſo iſt das Große der Leidenſchaften, Gro denſchaft, iſt blos Jrrthum, blos Fehler in derVorſtellung, und verdienet Vergebung; hingegen iſt die Gleichguͤltigkeit fuͤr die Behauptung ſeiner innern freyen Wuͤrkſamkeit eine voͤllige Niedertraͤch- tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieſes hin- dert aber nicht, daß wir nicht den fuͤr noch groͤſſer halten, der ſo gar ſeine eigene Wuͤrkſamkeit und Freyheit einem noch groͤſſern Gut aufopfert. Sich ſelbſt uͤberwinden, iſt der groͤßte Sieg, und die groͤßte Kraft der Seele zeiget ſich darin, daß ſie ih- rer eigenen Wuͤrkſamkeit, mitten in der ſtaͤrkſten Aeuſſerung, dennoch Meiſter wird, um ſie anders- wohin zu lenken. Denn wie der, der ſein Leben und ſeine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein Nichtswuͤrdiger iſt, ſo verdienet der unſre groͤßte Hochachtung, der ſie freywillig, aus Staͤrke des Gei- ſtes, um hoͤhere Abſichten zu erreichen, dahingiebt. Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des Zur guten Behandlung des Großen gehoͤrt ein Ge- Erſter Theil. R r r
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Denn wie der, der ſein Leben und<lb/> ſeine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein<lb/> Nichtswuͤrdiger iſt, ſo verdienet der unſre groͤßte<lb/> Hochachtung, der ſie freywillig, aus Staͤrke des Gei-<lb/> ſtes, um hoͤhere Abſichten zu erreichen, dahingiebt.</p><lb/> <p>Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des<lb/> Großen, wodurch die Werke der Kunſt intreſſant<lb/> werden koͤnnen.</p><lb/> <p>Zur guten Behandlung des Großen gehoͤrt ein<lb/> großer Geſchmak, den uns <hi rendition="#fr">Mengs</hi> aus ſeinem ei-<lb/> genen Gefuͤhl richtig beſchreibet. „Der große Ge-<lb/> ſchmak, ſagt er (*), beſteht darin, daß man die<note place="right">(*) S.<lb/> Gedanken<lb/> uͤber die<lb/> Schoͤnheit<lb/> und uͤber<lb/> den Ge-<lb/> ſchmak.<lb/> S. 22.</note><lb/> Großen und Haupttheile der ganzen Natur waͤhle,<lb/> und die kleinern und untergeordneten, wo ſie nicht<lb/> hoͤchſt noͤthig ſind, verſteke.‟ Es iſt ſchon oben<lb/> angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Groͤße<lb/> beytraͤgt. Alſo wollen auch große Gegenſtaͤnde ſo<lb/> behandelt ſeyn, daß ſie einfach und ungezwungen da<lb/> ſtehen. Der ſubtile Geſchmak, der jedem einzelen<lb/> Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare<lb/> Feinheit geben will, der umſtaͤndlich iſt, der am<lb/> Einzelen haͤngt, zerſtoͤhrt durch ſeine Bearbeitung<lb/> den Charakter der Groͤße. Wer nicht mit weni-<lb/> gen Veranſtaltungen die volle Wuͤrkung, die er zur<lb/> Abſicht hat, erreicht, der kann keinen großen Ge-<lb/> genſtand in ſeiner Groͤße darſtellen. Es geſchieht<lb/> bisweilen, daß auch gemeine Kuͤnſtler, entweder von<lb/> ungefehr, oder weil ſie des Gefuͤhls fuͤr das Große<lb/> nicht ganz beraubet ſind, auf große Gegenſtaͤnde<lb/> fallen, die ſie durch eine ſchwache und umſtaͤndliche<lb/> Behandlung verderben. 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Gro
Gro
latives, ſondern ein handelndes, wuͤrkſames, Frey-
heit und Macht beſitzendes Weſen iſt; ſie wendet
ihre Kraft an um den Gegenſtand zu genießen, oder
ſich ihm zu widerſetzen: und eben in dieſen Um-
ſtaͤnden zeigen ſich ſtarke Seelen in ihrer vollen
Groͤße. Es iſt dem Menſchen uͤberhaupt nichts
wichtiger, als die Behauptung ſeiner innerlichen
Freyheit und Macht zu wuͤrken; weil er eigentlich
ſeine Eriſtenz nur alsdenn recht fuͤhlt, wenn er dieſe
Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von ſich ab-
zuwenden. Darum ſucht er den Kreis ſeiner Wuͤrk-
ſamkeit uͤberall zu erweitern; und wenn er Hinter-
niſſe vor ſich findet, ſchwellen ſeine Kraͤfte, wie ein
gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und
Ungeſtuͤhm durch, und reiſſen, was ihnen im Wege
ſteht, nieder. Darum iſt der leidenſchaftliche Zu-
ſtand des Menſchen vorzuͤglich geſchikt, ihn in ſei-
ner Groͤße darzuſtellen.
Jederman empfindet dieſen Charakter der Groͤße
in dem Zorn des Achilles, in der Wuth des Philo,
und ſelbſt in der Verzweiflung des Abbadona. Man
muß ſich ſtarke Seelen in großen Leidenſchaften, als
ſtreitende Helden vorſtellen, die allemal groß ſind,
es ſey daß ſie uͤberwinden, oder uͤberwunden wer-
den; denn auch in ſeinem Fall kann der Held groß
ſeyn. Wir bewundern den Eteokles des Aeſchylus
ſelbſt da, wo er ſich uͤberwunden fuͤhlt. (*) Und ſo
zeiget der alte Horaz des P. Corneille ſich in ſeiner
vollen Groͤße in der bekannten Antwort (**) uͤber
die Flucht ſeines Sohnes.
(*) Man
ſehe die im
Artikel Ae-
ſchylus auf
der 19 Seit.
angefuͤhrte
Stelle.
(**) Que
vouliez
vous qu’il
fit contre
trois? Qu’il
mourût.
S. Horace
de P. Cor-
neille Act.
III. Sc. 6.
Jm Grund alſo iſt das Große der Leidenſchaften,
ohne Ruͤkſicht auf den ſittlichen Werth der Sache,
worauf ſie abzielen, nichts anders, als eine ſich
lebhaft aͤuſſernde große Wuͤrkſamkeit der, ſich und
ihre Freyheit fuͤhlenden, Seele. Darum koͤnnen
wir dieſer Groͤße ſelbſt da, wo ſie etwas Unſittli-
ches, ſo gar etwas Gottloſes an ſich hat, unſern
Beyfall nicht ganz verſagen. Niemand getrauet
ſich in den hoͤlliſchen Geiſtern Miltons und Klop-
ſtoks die Groͤße zu verkennen, die ſich in den Aeuſ-
ſerungen ihrer Leidenſchaften zeiget. So hat auch
der beruͤhmte Vers des Lucanus: Victrix cauſa Diis
placuit, ſed victa Catoni, der Gottloſigkeit die wuͤrk-
lich darin liegt ungeachtet, etwas Großes. Denn
wie koͤnnte der Menſch, der im Grunde kein wich-
tigeres Jntreſſe hat, als ein frey handelndes Weſen
zu ſeyn, den tadeln, der das aͤuſſerſte verſucht, dieſe
Freyheit zu behaupten? Das Boͤſe in ſeiner Lei-
denſchaft, iſt blos Jrrthum, blos Fehler in der
Vorſtellung, und verdienet Vergebung; hingegen
iſt die Gleichguͤltigkeit fuͤr die Behauptung ſeiner
innern freyen Wuͤrkſamkeit eine voͤllige Niedertraͤch-
tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieſes hin-
dert aber nicht, daß wir nicht den fuͤr noch groͤſſer
halten, der ſo gar ſeine eigene Wuͤrkſamkeit und
Freyheit einem noch groͤſſern Gut aufopfert. Sich
ſelbſt uͤberwinden, iſt der groͤßte Sieg, und die
groͤßte Kraft der Seele zeiget ſich darin, daß ſie ih-
rer eigenen Wuͤrkſamkeit, mitten in der ſtaͤrkſten
Aeuſſerung, dennoch Meiſter wird, um ſie anders-
wohin zu lenken. Denn wie der, der ſein Leben und
ſeine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein
Nichtswuͤrdiger iſt, ſo verdienet der unſre groͤßte
Hochachtung, der ſie freywillig, aus Staͤrke des Gei-
ſtes, um hoͤhere Abſichten zu erreichen, dahingiebt.
Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des
Großen, wodurch die Werke der Kunſt intreſſant
werden koͤnnen.
Zur guten Behandlung des Großen gehoͤrt ein
großer Geſchmak, den uns Mengs aus ſeinem ei-
genen Gefuͤhl richtig beſchreibet. „Der große Ge-
ſchmak, ſagt er (*), beſteht darin, daß man die
Großen und Haupttheile der ganzen Natur waͤhle,
und die kleinern und untergeordneten, wo ſie nicht
hoͤchſt noͤthig ſind, verſteke.‟ Es iſt ſchon oben
angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Groͤße
beytraͤgt. Alſo wollen auch große Gegenſtaͤnde ſo
behandelt ſeyn, daß ſie einfach und ungezwungen da
ſtehen. Der ſubtile Geſchmak, der jedem einzelen
Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare
Feinheit geben will, der umſtaͤndlich iſt, der am
Einzelen haͤngt, zerſtoͤhrt durch ſeine Bearbeitung
den Charakter der Groͤße. Wer nicht mit weni-
gen Veranſtaltungen die volle Wuͤrkung, die er zur
Abſicht hat, erreicht, der kann keinen großen Ge-
genſtand in ſeiner Groͤße darſtellen. Es geſchieht
bisweilen, daß auch gemeine Kuͤnſtler, entweder von
ungefehr, oder weil ſie des Gefuͤhls fuͤr das Große
nicht ganz beraubet ſind, auf große Gegenſtaͤnde
fallen, die ſie durch eine ſchwache und umſtaͤndliche
Behandlung verderben. Wie man etwa ſchlechte
Schauſpieler ſieht, die das Große in den Reden der
Perſonen, die ſie vorſtellen, durch Nebenſachen,
durch uͤbertriebene Heftigkeit der Gebehrden und
der Stimme, wuͤrklich verderben, eben ſo geſchieht
es auch andern Kuͤnſtlern, denen es an großem
Ge-
(*) S.
Gedanken
uͤber die
Schoͤnheit
und uͤber
den Ge-
ſchmak.
S. 22.
Erſter Theil. R r r
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