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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gro
latives, sondern ein handelndes, würksames, Frey-
heit und Macht besitzendes Wesen ist; sie wendet
ihre Kraft an um den Gegenstand zu genießen, oder
sich ihm zu widersetzen: und eben in diesen Um-
ständen zeigen sich starke Seelen in ihrer vollen
Größe. Es ist dem Menschen überhaupt nichts
wichtiger, als die Behauptung seiner innerlichen
Freyheit und Macht zu würken; weil er eigentlich
seine Eristenz nur alsdenn recht fühlt, wenn er diese
Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von sich ab-
zuwenden. Darum sucht er den Kreis seiner Würk-
samkeit überall zu erweitern; und wenn er Hinter-
nisse vor sich findet, schwellen seine Kräfte, wie ein
gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und
Ungestühm durch, und reissen, was ihnen im Wege
steht, nieder. Darum ist der leidenschaftliche Zu-
stand des Menschen vorzüglich geschikt, ihn in sei-
ner Größe darzustellen.

Jederman empfindet diesen Charakter der Größe
in dem Zorn des Achilles, in der Wuth des Philo,
und selbst in der Verzweiflung des Abbadona. Man
muß sich starke Seelen in großen Leidenschaften, als
streitende Helden vorstellen, die allemal groß sind,
es sey daß sie überwinden, oder überwunden wer-
den; denn auch in seinem Fall kann der Held groß
(*) Man
sehe die im
Artikel Ae-
schylus auf
der 19 Seit.
angeführte
Stelle.
seyn. Wir bewundern den Eteokles des Aeschylus
selbst da, wo er sich überwunden fühlt. (*) Und so
zeiget der alte Horaz des P. Corneille sich in seiner
vollen Größe in der bekannten Antwort (**) über
(**) Que
vouliez
vous qu'il
fit contre
trois? Qu'il
mouraut.

S. Horace
de P. Cor-
neille Act.
III. Sc.
6.
die Flucht seines Sohnes.

Jm Grund also ist das Große der Leidenschaften,
ohne Rüksicht auf den sittlichen Werth der Sache,
worauf sie abzielen, nichts anders, als eine sich
lebhaft äussernde große Würksamkeit der, sich und
ihre Freyheit fühlenden, Seele. Darum können
wir dieser Größe selbst da, wo sie etwas Unsittli-
ches, so gar etwas Gottloses an sich hat, unsern
Beyfall nicht ganz versagen. Niemand getrauet
sich in den höllischen Geistern Miltons und Klop-
stoks die Größe zu verkennen, die sich in den Aeus-
serungen ihrer Leidenschaften zeiget. So hat auch
der berühmte Vers des Lucanus: Victrix causa Diis
placuit, sed victa Catoni,
der Gottlosigkeit die würk-
lich darin liegt ungeachtet, etwas Großes. Denn
wie könnte der Mensch, der im Grunde kein wich-
tigeres Jntresse hat, als ein frey handelndes Wesen
zu seyn, den tadeln, der das äusserste versucht, diese
Freyheit zu behaupten? Das Böse in seiner Lei-
[Spaltenumbruch]

Gro
denschaft, ist blos Jrrthum, blos Fehler in der
Vorstellung, und verdienet Vergebung; hingegen
ist die Gleichgültigkeit für die Behauptung seiner
innern freyen Würksamkeit eine völlige Niederträch-
tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieses hin-
dert aber nicht, daß wir nicht den für noch grösser
halten, der so gar seine eigene Würksamkeit und
Freyheit einem noch grössern Gut aufopfert. Sich
selbst überwinden, ist der größte Sieg, und die
größte Kraft der Seele zeiget sich darin, daß sie ih-
rer eigenen Würksamkeit, mitten in der stärksten
Aeusserung, dennoch Meister wird, um sie anders-
wohin zu lenken. Denn wie der, der sein Leben und
seine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein
Nichtswürdiger ist, so verdienet der unsre größte
Hochachtung, der sie freywillig, aus Stärke des Gei-
stes, um höhere Absichten zu erreichen, dahingiebt.

Dieses sind also die verschiedenen Gattungen des
Großen, wodurch die Werke der Kunst intressant
werden können.

Zur guten Behandlung des Großen gehört ein
großer Geschmak, den uns Mengs aus seinem ei-
genen Gefühl richtig beschreibet. "Der große Ge-
schmak, sagt er (*), besteht darin, daß man die(*) S.
Gedanken
über die
Schönheit
und über
den Ge-
schmak.
S. 22.

Großen und Haupttheile der ganzen Natur wähle,
und die kleinern und untergeordneten, wo sie nicht
höchst nöthig sind, versteke." Es ist schon oben
angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Größe
beyträgt. Also wollen auch große Gegenstände so
behandelt seyn, daß sie einfach und ungezwungen da
stehen. Der subtile Geschmak, der jedem einzelen
Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare
Feinheit geben will, der umständlich ist, der am
Einzelen hängt, zerstöhrt durch seine Bearbeitung
den Charakter der Größe. Wer nicht mit weni-
gen Veranstaltungen die volle Würkung, die er zur
Absicht hat, erreicht, der kann keinen großen Ge-
genstand in seiner Größe darstellen. Es geschieht
bisweilen, daß auch gemeine Künstler, entweder von
ungefehr, oder weil sie des Gefühls für das Große
nicht ganz beraubet sind, auf große Gegenstände
fallen, die sie durch eine schwache und umständliche
Behandlung verderben. Wie man etwa schlechte
Schauspieler sieht, die das Große in den Reden der
Personen, die sie vorstellen, durch Nebensachen,
durch übertriebene Heftigkeit der Gebehrden und
der Stimme, würklich verderben, eben so geschieht
es auch andern Künstlern, denen es an großem

Ge-
Erster Theil. R r r

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Gro
latives, ſondern ein handelndes, wuͤrkſames, Frey-
heit und Macht beſitzendes Weſen iſt; ſie wendet
ihre Kraft an um den Gegenſtand zu genießen, oder
ſich ihm zu widerſetzen: und eben in dieſen Um-
ſtaͤnden zeigen ſich ſtarke Seelen in ihrer vollen
Groͤße. Es iſt dem Menſchen uͤberhaupt nichts
wichtiger, als die Behauptung ſeiner innerlichen
Freyheit und Macht zu wuͤrken; weil er eigentlich
ſeine Eriſtenz nur alsdenn recht fuͤhlt, wenn er dieſe
Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von ſich ab-
zuwenden. Darum ſucht er den Kreis ſeiner Wuͤrk-
ſamkeit uͤberall zu erweitern; und wenn er Hinter-
niſſe vor ſich findet, ſchwellen ſeine Kraͤfte, wie ein
gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und
Ungeſtuͤhm durch, und reiſſen, was ihnen im Wege
ſteht, nieder. Darum iſt der leidenſchaftliche Zu-
ſtand des Menſchen vorzuͤglich geſchikt, ihn in ſei-
ner Groͤße darzuſtellen.

Jederman empfindet dieſen Charakter der Groͤße
in dem Zorn des Achilles, in der Wuth des Philo,
und ſelbſt in der Verzweiflung des Abbadona. Man
muß ſich ſtarke Seelen in großen Leidenſchaften, als
ſtreitende Helden vorſtellen, die allemal groß ſind,
es ſey daß ſie uͤberwinden, oder uͤberwunden wer-
den; denn auch in ſeinem Fall kann der Held groß
(*) Man
ſehe die im
Artikel Ae-
ſchylus auf
der 19 Seit.
angefuͤhrte
Stelle.
ſeyn. Wir bewundern den Eteokles des Aeſchylus
ſelbſt da, wo er ſich uͤberwunden fuͤhlt. (*) Und ſo
zeiget der alte Horaz des P. Corneille ſich in ſeiner
vollen Groͤße in der bekannten Antwort (**) uͤber
(**) Que
vouliez
vous qu’il
fit contre
trois? Qu’il
mourût.

S. Horace
de P. Cor-
neille Act.
III. Sc.
6.
die Flucht ſeines Sohnes.

Jm Grund alſo iſt das Große der Leidenſchaften,
ohne Ruͤkſicht auf den ſittlichen Werth der Sache,
worauf ſie abzielen, nichts anders, als eine ſich
lebhaft aͤuſſernde große Wuͤrkſamkeit der, ſich und
ihre Freyheit fuͤhlenden, Seele. Darum koͤnnen
wir dieſer Groͤße ſelbſt da, wo ſie etwas Unſittli-
ches, ſo gar etwas Gottloſes an ſich hat, unſern
Beyfall nicht ganz verſagen. Niemand getrauet
ſich in den hoͤlliſchen Geiſtern Miltons und Klop-
ſtoks die Groͤße zu verkennen, die ſich in den Aeuſ-
ſerungen ihrer Leidenſchaften zeiget. So hat auch
der beruͤhmte Vers des Lucanus: Victrix cauſa Diis
placuit, ſed victa Catoni,
der Gottloſigkeit die wuͤrk-
lich darin liegt ungeachtet, etwas Großes. Denn
wie koͤnnte der Menſch, der im Grunde kein wich-
tigeres Jntreſſe hat, als ein frey handelndes Weſen
zu ſeyn, den tadeln, der das aͤuſſerſte verſucht, dieſe
Freyheit zu behaupten? Das Boͤſe in ſeiner Lei-
[Spaltenumbruch]

Gro
denſchaft, iſt blos Jrrthum, blos Fehler in der
Vorſtellung, und verdienet Vergebung; hingegen
iſt die Gleichguͤltigkeit fuͤr die Behauptung ſeiner
innern freyen Wuͤrkſamkeit eine voͤllige Niedertraͤch-
tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieſes hin-
dert aber nicht, daß wir nicht den fuͤr noch groͤſſer
halten, der ſo gar ſeine eigene Wuͤrkſamkeit und
Freyheit einem noch groͤſſern Gut aufopfert. Sich
ſelbſt uͤberwinden, iſt der groͤßte Sieg, und die
groͤßte Kraft der Seele zeiget ſich darin, daß ſie ih-
rer eigenen Wuͤrkſamkeit, mitten in der ſtaͤrkſten
Aeuſſerung, dennoch Meiſter wird, um ſie anders-
wohin zu lenken. Denn wie der, der ſein Leben und
ſeine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein
Nichtswuͤrdiger iſt, ſo verdienet der unſre groͤßte
Hochachtung, der ſie freywillig, aus Staͤrke des Gei-
ſtes, um hoͤhere Abſichten zu erreichen, dahingiebt.

Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des
Großen, wodurch die Werke der Kunſt intreſſant
werden koͤnnen.

Zur guten Behandlung des Großen gehoͤrt ein
großer Geſchmak, den uns Mengs aus ſeinem ei-
genen Gefuͤhl richtig beſchreibet. „Der große Ge-
ſchmak, ſagt er (*), beſteht darin, daß man die(*) S.
Gedanken
uͤber die
Schoͤnheit
und uͤber
den Ge-
ſchmak.
S. 22.

Großen und Haupttheile der ganzen Natur waͤhle,
und die kleinern und untergeordneten, wo ſie nicht
hoͤchſt noͤthig ſind, verſteke.‟ Es iſt ſchon oben
angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Groͤße
beytraͤgt. Alſo wollen auch große Gegenſtaͤnde ſo
behandelt ſeyn, daß ſie einfach und ungezwungen da
ſtehen. Der ſubtile Geſchmak, der jedem einzelen
Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare
Feinheit geben will, der umſtaͤndlich iſt, der am
Einzelen haͤngt, zerſtoͤhrt durch ſeine Bearbeitung
den Charakter der Groͤße. Wer nicht mit weni-
gen Veranſtaltungen die volle Wuͤrkung, die er zur
Abſicht hat, erreicht, der kann keinen großen Ge-
genſtand in ſeiner Groͤße darſtellen. Es geſchieht
bisweilen, daß auch gemeine Kuͤnſtler, entweder von
ungefehr, oder weil ſie des Gefuͤhls fuͤr das Große
nicht ganz beraubet ſind, auf große Gegenſtaͤnde
fallen, die ſie durch eine ſchwache und umſtaͤndliche
Behandlung verderben. Wie man etwa ſchlechte
Schauſpieler ſieht, die das Große in den Reden der
Perſonen, die ſie vorſtellen, durch Nebenſachen,
durch uͤbertriebene Heftigkeit der Gebehrden und
der Stimme, wuͤrklich verderben, eben ſo geſchieht
es auch andern Kuͤnſtlern, denen es an großem

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[497/0509] Gro Gro latives, ſondern ein handelndes, wuͤrkſames, Frey- heit und Macht beſitzendes Weſen iſt; ſie wendet ihre Kraft an um den Gegenſtand zu genießen, oder ſich ihm zu widerſetzen: und eben in dieſen Um- ſtaͤnden zeigen ſich ſtarke Seelen in ihrer vollen Groͤße. Es iſt dem Menſchen uͤberhaupt nichts wichtiger, als die Behauptung ſeiner innerlichen Freyheit und Macht zu wuͤrken; weil er eigentlich ſeine Eriſtenz nur alsdenn recht fuͤhlt, wenn er dieſe Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von ſich ab- zuwenden. Darum ſucht er den Kreis ſeiner Wuͤrk- ſamkeit uͤberall zu erweitern; und wenn er Hinter- niſſe vor ſich findet, ſchwellen ſeine Kraͤfte, wie ein gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und Ungeſtuͤhm durch, und reiſſen, was ihnen im Wege ſteht, nieder. Darum iſt der leidenſchaftliche Zu- ſtand des Menſchen vorzuͤglich geſchikt, ihn in ſei- ner Groͤße darzuſtellen. Jederman empfindet dieſen Charakter der Groͤße in dem Zorn des Achilles, in der Wuth des Philo, und ſelbſt in der Verzweiflung des Abbadona. Man muß ſich ſtarke Seelen in großen Leidenſchaften, als ſtreitende Helden vorſtellen, die allemal groß ſind, es ſey daß ſie uͤberwinden, oder uͤberwunden wer- den; denn auch in ſeinem Fall kann der Held groß ſeyn. Wir bewundern den Eteokles des Aeſchylus ſelbſt da, wo er ſich uͤberwunden fuͤhlt. (*) Und ſo zeiget der alte Horaz des P. Corneille ſich in ſeiner vollen Groͤße in der bekannten Antwort (**) uͤber die Flucht ſeines Sohnes. (*) Man ſehe die im Artikel Ae- ſchylus auf der 19 Seit. angefuͤhrte Stelle. (**) Que vouliez vous qu’il fit contre trois? Qu’il mourût. S. Horace de P. Cor- neille Act. III. Sc. 6. Jm Grund alſo iſt das Große der Leidenſchaften, ohne Ruͤkſicht auf den ſittlichen Werth der Sache, worauf ſie abzielen, nichts anders, als eine ſich lebhaft aͤuſſernde große Wuͤrkſamkeit der, ſich und ihre Freyheit fuͤhlenden, Seele. Darum koͤnnen wir dieſer Groͤße ſelbſt da, wo ſie etwas Unſittli- ches, ſo gar etwas Gottloſes an ſich hat, unſern Beyfall nicht ganz verſagen. Niemand getrauet ſich in den hoͤlliſchen Geiſtern Miltons und Klop- ſtoks die Groͤße zu verkennen, die ſich in den Aeuſ- ſerungen ihrer Leidenſchaften zeiget. So hat auch der beruͤhmte Vers des Lucanus: Victrix cauſa Diis placuit, ſed victa Catoni, der Gottloſigkeit die wuͤrk- lich darin liegt ungeachtet, etwas Großes. Denn wie koͤnnte der Menſch, der im Grunde kein wich- tigeres Jntreſſe hat, als ein frey handelndes Weſen zu ſeyn, den tadeln, der das aͤuſſerſte verſucht, dieſe Freyheit zu behaupten? Das Boͤſe in ſeiner Lei- denſchaft, iſt blos Jrrthum, blos Fehler in der Vorſtellung, und verdienet Vergebung; hingegen iſt die Gleichguͤltigkeit fuͤr die Behauptung ſeiner innern freyen Wuͤrkſamkeit eine voͤllige Niedertraͤch- tigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieſes hin- dert aber nicht, daß wir nicht den fuͤr noch groͤſſer halten, der ſo gar ſeine eigene Wuͤrkſamkeit und Freyheit einem noch groͤſſern Gut aufopfert. Sich ſelbſt uͤberwinden, iſt der groͤßte Sieg, und die groͤßte Kraft der Seele zeiget ſich darin, daß ſie ih- rer eigenen Wuͤrkſamkeit, mitten in der ſtaͤrkſten Aeuſſerung, dennoch Meiſter wird, um ſie anders- wohin zu lenken. Denn wie der, der ſein Leben und ſeine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein Nichtswuͤrdiger iſt, ſo verdienet der unſre groͤßte Hochachtung, der ſie freywillig, aus Staͤrke des Gei- ſtes, um hoͤhere Abſichten zu erreichen, dahingiebt. Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des Großen, wodurch die Werke der Kunſt intreſſant werden koͤnnen. Zur guten Behandlung des Großen gehoͤrt ein großer Geſchmak, den uns Mengs aus ſeinem ei- genen Gefuͤhl richtig beſchreibet. „Der große Ge- ſchmak, ſagt er (*), beſteht darin, daß man die Großen und Haupttheile der ganzen Natur waͤhle, und die kleinern und untergeordneten, wo ſie nicht hoͤchſt noͤthig ſind, verſteke.‟ Es iſt ſchon oben angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Groͤße beytraͤgt. Alſo wollen auch große Gegenſtaͤnde ſo behandelt ſeyn, daß ſie einfach und ungezwungen da ſtehen. Der ſubtile Geſchmak, der jedem einzelen Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare Feinheit geben will, der umſtaͤndlich iſt, der am Einzelen haͤngt, zerſtoͤhrt durch ſeine Bearbeitung den Charakter der Groͤße. Wer nicht mit weni- gen Veranſtaltungen die volle Wuͤrkung, die er zur Abſicht hat, erreicht, der kann keinen großen Ge- genſtand in ſeiner Groͤße darſtellen. Es geſchieht bisweilen, daß auch gemeine Kuͤnſtler, entweder von ungefehr, oder weil ſie des Gefuͤhls fuͤr das Große nicht ganz beraubet ſind, auf große Gegenſtaͤnde fallen, die ſie durch eine ſchwache und umſtaͤndliche Behandlung verderben. Wie man etwa ſchlechte Schauſpieler ſieht, die das Große in den Reden der Perſonen, die ſie vorſtellen, durch Nebenſachen, durch uͤbertriebene Heftigkeit der Gebehrden und der Stimme, wuͤrklich verderben, eben ſo geſchieht es auch andern Kuͤnſtlern, denen es an großem Ge- (*) S. Gedanken uͤber die Schoͤnheit und uͤber den Ge- ſchmak. S. 22. Erſter Theil. R r r

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/509>, abgerufen am 22.11.2024.