Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] His gen erweken, die in ihm würksam werden. So wiedie Gemählde der Wollust, von einem in Feuer ge- tunkten Pensel gemahlt, in der animalischen Seele Flammen erweken, so muß das historische Gemählde, das dem Mahler Ehre machen soll, der sittlichen Seele einen vortheilhaften Stoß geben. Dadurch verdie- nen sie zur Unterstützung der Andacht in Tempeln, oder zur Erwekung patriotischer Empfindungen in öf- fentlichen Gebäuden, oder zur Nahrung für die Pri- vattugend in den Zimmern aufgestellt zu werden. Man muß in dem historischen Gemählde verschie- Jhre Absicht ist, uns das Betragen, die Empfin- His fühlt haben, wenn wir in dem Augenblik der Hand-lung, der vorgestellt wird, die Sachen in der Natur gesehen hätten. Es bedärf keiner weitern Ausfüh- rung, um die Wichtigkeit und den Nutzen dieser Gattung zu zeigen. Der Historienmahler ist auf eben die Art nützlich, wie der epische und der dra- matische Dichter, ob er gleich sehr viel einge- schränkter ist. Die erste Sorge des Mahlers geht auf die Wahl Zum zweyten soll der Mahler genau überlegen, geben- Y y y 3
[Spaltenumbruch] Hiſ gen erweken, die in ihm wuͤrkſam werden. So wiedie Gemaͤhlde der Wolluſt, von einem in Feuer ge- tunkten Penſel gemahlt, in der animaliſchen Seele Flammen erweken, ſo muß das hiſtoriſche Gemaͤhlde, das dem Mahler Ehre machen ſoll, der ſittlichen Seele einen vortheilhaften Stoß geben. Dadurch verdie- nen ſie zur Unterſtuͤtzung der Andacht in Tempeln, oder zur Erwekung patriotiſcher Empfindungen in oͤf- fentlichen Gebaͤuden, oder zur Nahrung fuͤr die Pri- vattugend in den Zimmern aufgeſtellt zu werden. Man muß in dem hiſtoriſchen Gemaͤhlde verſchie- Jhre Abſicht iſt, uns das Betragen, die Empfin- Hiſ fuͤhlt haben, wenn wir in dem Augenblik der Hand-lung, der vorgeſtellt wird, die Sachen in der Natur geſehen haͤtten. Es bedaͤrf keiner weitern Ausfuͤh- rung, um die Wichtigkeit und den Nutzen dieſer Gattung zu zeigen. Der Hiſtorienmahler iſt auf eben die Art nuͤtzlich, wie der epiſche und der dra- matiſche Dichter, ob er gleich ſehr viel einge- ſchraͤnkter iſt. Die erſte Sorge des Mahlers geht auf die Wahl Zum zweyten ſoll der Mahler genau uͤberlegen, geben- Y y y 3
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Nichts bedeutende Hand-<lb/> lungen, wenn ihrer nur in der Bibel, oder in den<lb/> Verwandlungen des Ovidius, oder in der griechi-<lb/> ſchen Mythologie gedacht wird, werden gar zu oft,<lb/> auch von guten Kuͤnſtlern, als ein wuͤrdiger Stoff<lb/> gewaͤhlt, wenn gleich kein Menſch zehen Schritte<lb/> thun wuͤrde, die abgebildete Sach in der Natur ſelbſt<lb/> zu ſehen. Der Hiſtorienmahler ſoll nie darum ar-<lb/> beiten, daß er blos ſeine richtige Zeichnung, oder ſei-<lb/> nen guten Penſel ſehen laſſe. Er ſollte vergeſſen, daß<lb/> er ein Mahler iſt, und ſeinen Stoff blos, als ein<lb/> verſtaͤndiger Mann betrachten, um die Wuͤrkung zu<lb/> bemerken, welche die Sachen, nicht auf ſein mah-<lb/> leriſches Aug, ſondern auf ſein Gemuͤth thun. Er<lb/> ſuche die Begebenheit, ehe er ſie bearbeitet, von Fi-<lb/> gur und Farbe zu entbloͤßen; und uͤberlaſſe ſich den<lb/> Empfindungen, die das Unſichtbare der Sach in<lb/> ſeinem Gemuͤth erwekt. Aber wie unverſtaͤndige<lb/> Prediger jedes Wort, das ein Profet oder Apoſtel<lb/> bey einer nichts bedeutenden Gelegenheit, auch wol<lb/> ohne beſtimmte Abſicht geſprochen hat, zum Text<lb/> einer Predigt waͤhlen, ſo machen es auch die Mah-<lb/> ler. Dinge, die man taͤglich ſehen kann, wobey<lb/> man nichts ungewoͤhnliches denkt oder empfindet,<lb/> Handlungen, die das gemeinſte Maaß der Kraͤfte<lb/> erfodern, muͤſſen gar nicht gemahlt werden. Man<lb/> kann ſie ja uͤberall in der Natur ſehen.</p><lb/> <p>Zum zweyten ſoll der Mahler genau uͤberlegen,<lb/> daß er einen ganz andern Beruf hat, als der Ge-<lb/> ſchichtſchreiber. 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Hiſ
Hiſ
gen erweken, die in ihm wuͤrkſam werden. So wie
die Gemaͤhlde der Wolluſt, von einem in Feuer ge-
tunkten Penſel gemahlt, in der animaliſchen Seele
Flammen erweken, ſo muß das hiſtoriſche Gemaͤhlde,
das dem Mahler Ehre machen ſoll, der ſittlichen Seele
einen vortheilhaften Stoß geben. Dadurch verdie-
nen ſie zur Unterſtuͤtzung der Andacht in Tempeln,
oder zur Erwekung patriotiſcher Empfindungen in oͤf-
fentlichen Gebaͤuden, oder zur Nahrung fuͤr die Pri-
vattugend in den Zimmern aufgeſtellt zu werden.
Man muß in dem hiſtoriſchen Gemaͤhlde verſchie-
dene Gattungen wol von einander unterſcheiden,
weil ihr Charakter ſehr verſchieden iſt. Die eigent-
liche Hiſtorie ſtellt eine wuͤrkliche Handlung oder
Begebenheit in einem merkwuͤrdigen Augenblik vor,
und ſucht die ſich dabey aͤußernden Faſſungen der
intreſſirten Perſonen ſichtbar zu machen. Die Mo-
ral oder das ſittliche Gemaͤhlde, ſtellt ein Beyſpiel
handelnder Perſonen vor, aus deſſen Betrachtung
eine beſtimmte Lehre oder Maxime anſchauend er-
kennt werden kann; ſein Charakter wird in einem
beſondern Artikel naͤher beſtimmt (*). Die Alle-
gorie verhaͤlt ſich zur Moral ohngefehr, wie das
Gleichnis zum Beyſpiel. Sie iſt ſchon an einem
andern Orte betrachtet worden. Einer andern Gat-
tung koͤnnte man den Namen der Gebraͤuche geben;
ſie dienen blos, um zur Nachricht, oder zum Ergetzen
Gebraͤuche und Sitten aus dem gemeinen Leben,
haͤusliche Verrichtungen, oder auch oͤffentliche Feyer-
lichkeiten abzudilden. Daͤhin kann man auch die ſo-
genannten Geſellſchaftsgemaͤhlde rechnen. Eine an-
dre Gattung koͤnnte man fuͤglich mir dem Namen
der Bilder belegen. Sie ſtellen blos einzele merk-
wuͤrdige Perſonen, in intreſſanten Situationen, oder
zur Abbildung ihres Charakters vor; ſo wie bey den
Alten die Bilder der Goͤtter und Helden, und bey
den Neuern die Bilder der Heiligen. Jhr Charak-
ter iſt gerade der, der den Statuen zukoͤmmt (*).
Endlich iſt noch eine Gattung, die man Schlachten
oder Bataillen nennt, davon auch ſchon beſonders
geſprochen worden (*). Jede dieſer Gattungen hat
ihren eigenen Geiſt, den der Mahler nicht verfehlen
daͤrf. Hier wird hauptſaͤchlich von der eigentlichen
Hiſtorie geſprochen.
(*) S.
Moral.
(*) S.
Statue.
(*) S.
Bataille.
Jhre Abſicht iſt, uns das Betragen, die Empfin-
dungen und Leidenſchaften der Menſchen bey wichti-
gen Zufaͤllen und Handlungen lebhaft vorzubilden
und uns das fuͤhlen zu laſſen, was wir koͤnnten ge-
fuͤhlt haben, wenn wir in dem Augenblik der Hand-
lung, der vorgeſtellt wird, die Sachen in der Natur
geſehen haͤtten. Es bedaͤrf keiner weitern Ausfuͤh-
rung, um die Wichtigkeit und den Nutzen dieſer
Gattung zu zeigen. Der Hiſtorienmahler iſt auf
eben die Art nuͤtzlich, wie der epiſche und der dra-
matiſche Dichter, ob er gleich ſehr viel einge-
ſchraͤnkter iſt.
Die erſte Sorge des Mahlers geht auf die Wahl
der Materie, wobey es um ſo viel mehr noͤthig iſt,
ihm Nachdenken und Ueberlegung zu empfehlen, da
der große Haufen der Mahler ſo gar unuͤberlegt und
ſo gar ohne Verſtand handelt, daß bald nichts ſelte-
ners iſt, als hiſtoriſche Gemaͤhlde, die ſich durch
ihren Jnhalt empfehlen. Nichts bedeutende Hand-
lungen, wenn ihrer nur in der Bibel, oder in den
Verwandlungen des Ovidius, oder in der griechi-
ſchen Mythologie gedacht wird, werden gar zu oft,
auch von guten Kuͤnſtlern, als ein wuͤrdiger Stoff
gewaͤhlt, wenn gleich kein Menſch zehen Schritte
thun wuͤrde, die abgebildete Sach in der Natur ſelbſt
zu ſehen. Der Hiſtorienmahler ſoll nie darum ar-
beiten, daß er blos ſeine richtige Zeichnung, oder ſei-
nen guten Penſel ſehen laſſe. Er ſollte vergeſſen, daß
er ein Mahler iſt, und ſeinen Stoff blos, als ein
verſtaͤndiger Mann betrachten, um die Wuͤrkung zu
bemerken, welche die Sachen, nicht auf ſein mah-
leriſches Aug, ſondern auf ſein Gemuͤth thun. Er
ſuche die Begebenheit, ehe er ſie bearbeitet, von Fi-
gur und Farbe zu entbloͤßen; und uͤberlaſſe ſich den
Empfindungen, die das Unſichtbare der Sach in
ſeinem Gemuͤth erwekt. Aber wie unverſtaͤndige
Prediger jedes Wort, das ein Profet oder Apoſtel
bey einer nichts bedeutenden Gelegenheit, auch wol
ohne beſtimmte Abſicht geſprochen hat, zum Text
einer Predigt waͤhlen, ſo machen es auch die Mah-
ler. Dinge, die man taͤglich ſehen kann, wobey
man nichts ungewoͤhnliches denkt oder empfindet,
Handlungen, die das gemeinſte Maaß der Kraͤfte
erfodern, muͤſſen gar nicht gemahlt werden. Man
kann ſie ja uͤberall in der Natur ſehen.
Zum zweyten ſoll der Mahler genau uͤberlegen,
daß er einen ganz andern Beruf hat, als der Ge-
ſchichtſchreiber. Sollten auch gleich in den alten
Zeiten die zeichnenden Kuͤnſte wuͤrklich zum Behuf
der Geſchichte angewendet worden ſeyn, ſo waͤr es
doch ungereimt, ſie itzt noch dazu zu brauchen, da
man weit beſſere Mittel hat, das Andenken der Be-
geben-
Y y y 3
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