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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Anf
mit einem Blike zu übersehen ist. Jst der Anfang
vom Ende sehr entfernt, so wird das Werk zu
weit ausgedehnt, oder es entstehen in der Hand-
lung große Lüken, welche der Lebhaftigkeit der Vor-
stellung viel Schaden thun.

Die dramatische Handlung erfodert nothwen-
dig, daß der Anfang nahe am Ende genommen
werde. Wenn der Dichter dieses versäumt, so ist
er genöthiget, entweder die ganze Handlung so ein-
zuschränken, daß er uns gleichsam nur einen Aus-
zug davon sehen läßt, oder er muß einen großen
Theil hinter der Bühne geschehen lassen. Jn bey-
den Fällen ist es unmöglich, daß sich die Charaktere
der Personen hinlänglich entwikeln. Die Alten ha-
ben dieses fast allemal sehr genau beobachtet, und
eben deswegen sehen wir überall so gut entwikelte
Charaktere in ihren dramatischen Stüken. Wir
können sie auch darin den Neuern empfehlen, daß
sie in Bestimmung des Anfangs meistens sehr sorg-
fältig gewesen. Sie legen uns gemeiniglich bey dem
ersten Auftritt den Anfang der Handlung so deut-
lich vor Augen, daß wir gleich von dem Jnhalte
derselben und von dem Charakter der Hauptpersonen
hinlänglich unterrichtet werden. Dieses wird in
viel neuen Stüken so sehr versäumt, daß wir ofte
eine lange Zeit nicht wissen, worauf es bey der
Handlung ankommt. Man wird dieses insonder-
heit lebhaft fühlen, wenn man den Anfang des
Oedipus in dem Trauerspiele des Sophokles mit
dem Anfange vergleicht, den Voltaire seinem Oedip
gegeben.

Jn der Musik muß jedes Tonstük so anfangen,
daß das Gehör auf nichts vorhergehendes geführt
werde. Die Harmonie muß ganz und vollständig
seyn, der Gang oder die Figur nicht abgebrochen.
So viel immer möglich, muß gleich die erste Perio-
de den Charakter des ganzen Stüks enthalten. Jn-
dessen giebt es doch Gelegenheiten, besonders wenn
Arien auf Recitative folgen, und dieselbe Empfin-
dung in der Arie nur fortgesetzt wird, daß der be-
stimmte Anfang unnöthig wird. Jn dem Tanze
muß ebenfalls ein bestimmter Anfang gesetzt wer-
den, damit man nicht glaube, man sehe nur ein
Stück desselben. Dieses geschieht bisweilen in den
Balleten, da die Tänzer mit einem Sprung aus
den Culissen hervor kommen, und uns glauben
machen, daß der Tanz, den wir sehen, nur eine
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Anf Ang
Fortsetzung der Handlung sey, die außer unserm
Gesichte ihren Anfang genommen hat.

Es ist überhaupt in allen Werken des Geschmaks
nöthig, den Anfang so zu machen, daß man na-
türlicher Weise nicht auf den Gedanken kommen
könne, was dieser Sache, die wir itzt sehen oder
hören, könnte vorher gegangen seyn. Denn diese
Frage würde offenbar anzeigen, daß man uns nicht
ein Ganzes, sondern nur ein Stük vorstelle. Her-
mogenes erinnert, daß es sehr unschiklich und bäu-
risch sey, wenn man in einer Abhandlung gleich in
die Sache hineinspringt. (*) Jn einer förmlichen(*) Her-
mog. de In-
vent. L. II.
c.
1.

Rede, darin etwas abgehandelt wird, ist nicht der
Eingang, sondern der Vortrag der Sache, der ei-
gentliche Anfang.

Jn den Werken der Kunst, die sich auf einmal
darstellen, wie alle Werke der zeichnenden und bil-
denden Künste sind, scheinet zwar weder Anfang
noch Ende zu seyn. Dennoch ist unumgänglich
nothwendig, daß sie mit einer Art von Anfang und
Ende, als ganz beschränkte und für sich bestehende
Dinge, in die Augen fallen. S. Ganz.

Angemessen.
(Schöne Künste.)

Das Zufällige in einer Sache, das mit dem We-
sentlichen sehr genau überein kommt, und ihm da-
durch eigen wird. Ein angemessener Ausdruk ist
der, darin alle Worte so gewählt werden, wie sie
sich zum Wesen am genauesten schiken. Ein lang-
samer Ausdruk ist der langsamen Vorstellung an-
gemessen; ein schneller der lebhaften. Niedrige
Wörter sind niedrigen, und hohe erhabenen Vorstel-
lungen angemessen. Ein Beyspiel eines sehr an-
gemessenen Ausdruks giebt uns folgende Stelle des
Sophokles in der Elektra. Diese Prinzeßinn sagt
zu ihrer Schwester: (*)

(*) Electi.
vs.
363.

-- -- #
#
#
#

Dir werde eine kostbare Tafel gedekt, und Ueber-
fluß herrsche in deiner Lebensart; mein Brod
aber sey blos zur Nothdurft.
Der fürstlichen Le-
bensart der Chrysothemis sind die Worte, kostbare
Tafel,
angemessen; der niedrige Ausdruk, des täg-
lichen Brodes,
(#, Futters) der unter-
drükten Elektra.

Es

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Anf
mit einem Blike zu uͤberſehen iſt. Jſt der Anfang
vom Ende ſehr entfernt, ſo wird das Werk zu
weit ausgedehnt, oder es entſtehen in der Hand-
lung große Luͤken, welche der Lebhaftigkeit der Vor-
ſtellung viel Schaden thun.

Die dramatiſche Handlung erfodert nothwen-
dig, daß der Anfang nahe am Ende genommen
werde. Wenn der Dichter dieſes verſaͤumt, ſo iſt
er genoͤthiget, entweder die ganze Handlung ſo ein-
zuſchraͤnken, daß er uns gleichſam nur einen Aus-
zug davon ſehen laͤßt, oder er muß einen großen
Theil hinter der Buͤhne geſchehen laſſen. Jn bey-
den Faͤllen iſt es unmoͤglich, daß ſich die Charaktere
der Perſonen hinlaͤnglich entwikeln. Die Alten ha-
ben dieſes faſt allemal ſehr genau beobachtet, und
eben deswegen ſehen wir uͤberall ſo gut entwikelte
Charaktere in ihren dramatiſchen Stuͤken. Wir
koͤnnen ſie auch darin den Neuern empfehlen, daß
ſie in Beſtimmung des Anfangs meiſtens ſehr ſorg-
faͤltig geweſen. Sie legen uns gemeiniglich bey dem
erſten Auftritt den Anfang der Handlung ſo deut-
lich vor Augen, daß wir gleich von dem Jnhalte
derſelben und von dem Charakter der Hauptperſonen
hinlaͤnglich unterrichtet werden. Dieſes wird in
viel neuen Stuͤken ſo ſehr verſaͤumt, daß wir ofte
eine lange Zeit nicht wiſſen, worauf es bey der
Handlung ankommt. Man wird dieſes inſonder-
heit lebhaft fuͤhlen, wenn man den Anfang des
Oedipus in dem Trauerſpiele des Sophokles mit
dem Anfange vergleicht, den Voltaire ſeinem Oedip
gegeben.

Jn der Muſik muß jedes Tonſtuͤk ſo anfangen,
daß das Gehoͤr auf nichts vorhergehendes gefuͤhrt
werde. Die Harmonie muß ganz und vollſtaͤndig
ſeyn, der Gang oder die Figur nicht abgebrochen.
So viel immer moͤglich, muß gleich die erſte Perio-
de den Charakter des ganzen Stuͤks enthalten. Jn-
deſſen giebt es doch Gelegenheiten, beſonders wenn
Arien auf Recitative folgen, und dieſelbe Empfin-
dung in der Arie nur fortgeſetzt wird, daß der be-
ſtimmte Anfang unnoͤthig wird. Jn dem Tanze
muß ebenfalls ein beſtimmter Anfang geſetzt wer-
den, damit man nicht glaube, man ſehe nur ein
Stuͤck deſſelben. Dieſes geſchieht bisweilen in den
Balleten, da die Taͤnzer mit einem Sprung aus
den Culiſſen hervor kommen, und uns glauben
machen, daß der Tanz, den wir ſehen, nur eine
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Anf Ang
Fortſetzung der Handlung ſey, die außer unſerm
Geſichte ihren Anfang genommen hat.

Es iſt uͤberhaupt in allen Werken des Geſchmaks
noͤthig, den Anfang ſo zu machen, daß man na-
tuͤrlicher Weiſe nicht auf den Gedanken kommen
koͤnne, was dieſer Sache, die wir itzt ſehen oder
hoͤren, koͤnnte vorher gegangen ſeyn. Denn dieſe
Frage wuͤrde offenbar anzeigen, daß man uns nicht
ein Ganzes, ſondern nur ein Stuͤk vorſtelle. Her-
mogenes erinnert, daß es ſehr unſchiklich und baͤu-
riſch ſey, wenn man in einer Abhandlung gleich in
die Sache hineinſpringt. (*) Jn einer foͤrmlichen(*) Her-
mog. de In-
vent. L. II.
c.
1.

Rede, darin etwas abgehandelt wird, iſt nicht der
Eingang, ſondern der Vortrag der Sache, der ei-
gentliche Anfang.

Jn den Werken der Kunſt, die ſich auf einmal
darſtellen, wie alle Werke der zeichnenden und bil-
denden Kuͤnſte ſind, ſcheinet zwar weder Anfang
noch Ende zu ſeyn. Dennoch iſt unumgaͤnglich
nothwendig, daß ſie mit einer Art von Anfang und
Ende, als ganz beſchraͤnkte und fuͤr ſich beſtehende
Dinge, in die Augen fallen. S. Ganz.

Angemeſſen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Das Zufaͤllige in einer Sache, das mit dem We-
ſentlichen ſehr genau uͤberein kommt, und ihm da-
durch eigen wird. Ein angemeſſener Ausdruk iſt
der, darin alle Worte ſo gewaͤhlt werden, wie ſie
ſich zum Weſen am genaueſten ſchiken. Ein lang-
ſamer Ausdruk iſt der langſamen Vorſtellung an-
gemeſſen; ein ſchneller der lebhaften. Niedrige
Woͤrter ſind niedrigen, und hohe erhabenen Vorſtel-
lungen angemeſſen. Ein Beyſpiel eines ſehr an-
gemeſſenen Ausdruks giebt uns folgende Stelle des
Sophokles in der Elektra. Dieſe Prinzeßinn ſagt
zu ihrer Schweſter: (*)

(*) Electi.
vſ.
363.

— — #
#
#
#

Dir werde eine koſtbare Tafel gedekt, und Ueber-
fluß herrſche in deiner Lebensart; mein Brod
aber ſey blos zur Nothdurft.
Der fuͤrſtlichen Le-
bensart der Chryſothemis ſind die Worte, koſtbare
Tafel,
angemeſſen; der niedrige Ausdruk, des taͤg-
lichen Brodes,
(#, Futters) der unter-
druͤkten Elektra.

Es
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[52/0064] Anf Anf Ang mit einem Blike zu uͤberſehen iſt. Jſt der Anfang vom Ende ſehr entfernt, ſo wird das Werk zu weit ausgedehnt, oder es entſtehen in der Hand- lung große Luͤken, welche der Lebhaftigkeit der Vor- ſtellung viel Schaden thun. Die dramatiſche Handlung erfodert nothwen- dig, daß der Anfang nahe am Ende genommen werde. Wenn der Dichter dieſes verſaͤumt, ſo iſt er genoͤthiget, entweder die ganze Handlung ſo ein- zuſchraͤnken, daß er uns gleichſam nur einen Aus- zug davon ſehen laͤßt, oder er muß einen großen Theil hinter der Buͤhne geſchehen laſſen. Jn bey- den Faͤllen iſt es unmoͤglich, daß ſich die Charaktere der Perſonen hinlaͤnglich entwikeln. Die Alten ha- ben dieſes faſt allemal ſehr genau beobachtet, und eben deswegen ſehen wir uͤberall ſo gut entwikelte Charaktere in ihren dramatiſchen Stuͤken. Wir koͤnnen ſie auch darin den Neuern empfehlen, daß ſie in Beſtimmung des Anfangs meiſtens ſehr ſorg- faͤltig geweſen. Sie legen uns gemeiniglich bey dem erſten Auftritt den Anfang der Handlung ſo deut- lich vor Augen, daß wir gleich von dem Jnhalte derſelben und von dem Charakter der Hauptperſonen hinlaͤnglich unterrichtet werden. Dieſes wird in viel neuen Stuͤken ſo ſehr verſaͤumt, daß wir ofte eine lange Zeit nicht wiſſen, worauf es bey der Handlung ankommt. Man wird dieſes inſonder- heit lebhaft fuͤhlen, wenn man den Anfang des Oedipus in dem Trauerſpiele des Sophokles mit dem Anfange vergleicht, den Voltaire ſeinem Oedip gegeben. Jn der Muſik muß jedes Tonſtuͤk ſo anfangen, daß das Gehoͤr auf nichts vorhergehendes gefuͤhrt werde. Die Harmonie muß ganz und vollſtaͤndig ſeyn, der Gang oder die Figur nicht abgebrochen. So viel immer moͤglich, muß gleich die erſte Perio- de den Charakter des ganzen Stuͤks enthalten. Jn- deſſen giebt es doch Gelegenheiten, beſonders wenn Arien auf Recitative folgen, und dieſelbe Empfin- dung in der Arie nur fortgeſetzt wird, daß der be- ſtimmte Anfang unnoͤthig wird. Jn dem Tanze muß ebenfalls ein beſtimmter Anfang geſetzt wer- den, damit man nicht glaube, man ſehe nur ein Stuͤck deſſelben. Dieſes geſchieht bisweilen in den Balleten, da die Taͤnzer mit einem Sprung aus den Culiſſen hervor kommen, und uns glauben machen, daß der Tanz, den wir ſehen, nur eine Fortſetzung der Handlung ſey, die außer unſerm Geſichte ihren Anfang genommen hat. Es iſt uͤberhaupt in allen Werken des Geſchmaks noͤthig, den Anfang ſo zu machen, daß man na- tuͤrlicher Weiſe nicht auf den Gedanken kommen koͤnne, was dieſer Sache, die wir itzt ſehen oder hoͤren, koͤnnte vorher gegangen ſeyn. Denn dieſe Frage wuͤrde offenbar anzeigen, daß man uns nicht ein Ganzes, ſondern nur ein Stuͤk vorſtelle. Her- mogenes erinnert, daß es ſehr unſchiklich und baͤu- riſch ſey, wenn man in einer Abhandlung gleich in die Sache hineinſpringt. (*) Jn einer foͤrmlichen Rede, darin etwas abgehandelt wird, iſt nicht der Eingang, ſondern der Vortrag der Sache, der ei- gentliche Anfang. (*) Her- mog. de In- vent. L. II. c. 1. Jn den Werken der Kunſt, die ſich auf einmal darſtellen, wie alle Werke der zeichnenden und bil- denden Kuͤnſte ſind, ſcheinet zwar weder Anfang noch Ende zu ſeyn. Dennoch iſt unumgaͤnglich nothwendig, daß ſie mit einer Art von Anfang und Ende, als ganz beſchraͤnkte und fuͤr ſich beſtehende Dinge, in die Augen fallen. S. Ganz. Angemeſſen. (Schoͤne Kuͤnſte.) Das Zufaͤllige in einer Sache, das mit dem We- ſentlichen ſehr genau uͤberein kommt, und ihm da- durch eigen wird. Ein angemeſſener Ausdruk iſt der, darin alle Worte ſo gewaͤhlt werden, wie ſie ſich zum Weſen am genaueſten ſchiken. Ein lang- ſamer Ausdruk iſt der langſamen Vorſtellung an- gemeſſen; ein ſchneller der lebhaften. Niedrige Woͤrter ſind niedrigen, und hohe erhabenen Vorſtel- lungen angemeſſen. Ein Beyſpiel eines ſehr an- gemeſſenen Ausdruks giebt uns folgende Stelle des Sophokles in der Elektra. Dieſe Prinzeßinn ſagt zu ihrer Schweſter: (*) — — # # # # Dir werde eine koſtbare Tafel gedekt, und Ueber- fluß herrſche in deiner Lebensart; mein Brod aber ſey blos zur Nothdurft. Der fuͤrſtlichen Le- bensart der Chryſothemis ſind die Worte, koſtbare Tafel, angemeſſen; der niedrige Ausdruk, des taͤg- lichen Brodes, (#, Futters) der unter- druͤkten Elektra. Es

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/64>, abgerufen am 21.11.2024.