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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Vorrede.

Noch eine Erinnerung, die sich über die meisten Artikel des Werks erstrekt, muß
ich zu Abwendung nachtheiliger Urtheile beybringen. Jch habe in dem ganzen Werk
den Charakter eines Philosophen, und nicht eines Gelehrten, vielweniger eines bloßen
Sammlers angenommen. Meine Absicht war gar nicht alles zu sammeln, was etwa
gutes über jeden ästhetischen Gegenstand geschrieben worden. Warum sollte ich im
Artikel über die Comödie alle Comödien, und im Artikel Heldengedicht alle Epopöen
die Musterung passiren lassen? Noch weniger nahm ich mir vor, alles falsche was
gelehrt worden, und noch gelehrt wird, zu widerlegen. Meine Hauptsorge war bey
jedem Gegenstand den wahren Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachten muß,
wenigstens den, woraus ich ihn betrachte, festzusetzen, und dann dasjenige, was ich selbst
in dieser Stellung sah, vorzutragen.

Nun bin ich weit entfernt zu glauben, daß ich alles gesehen und meine Materien
erschöpft habe; oder daß ich überall den rechten Punkt getroffen, oder überall völlig
richtig gesehen habe. Jch bilde mir so wenig ein, das weitere Nachforschen über die
Gegenstände des Geschmaks überflüßig gemacht zu haben, daß ich hoffe eine der
angenehmsten Früchte meiner Arbeit werde die seyn, daß sie neue Untersuchungen
veranlassen werde. Meinen Grundsätzen, worauf alle Untersuchungen über Werke
des Geschmaks sich stützen müssen, verspreche ich Beyfall; aber ich hoffe, daß der
Gebrauch, den andre nach mir davon machen werden, den Künsten weit mehr aufhelfen
werde, als das, was ich zu diesem Behuf gethan habe.

Wenn ich hier und da, wo ich etwa von dem gegenwärtigen Zustand der Künste
und des Geschmaks spreche, etwas Unzufriedenheit äußere, so muß man dieses nicht
als Verachtung oder Tadelsucht aufnehmen. Jch habe es darum hier zum voraus
gesagt, daß ich sehr hohe Begriffe von dem Werth der schönen Künste und von dem
Beruff eines Künstlers habe. Wenn ich nun nach diesen Grundsätzen einen so genann-
ten witzigen Kopf, einen Menschen, der feine Kleinigkeiten macht, nicht für einen
wahren Dichter; einen Mann der schön coloriret, oder fein zeichnet, darum noch nicht
für den rechten Mahler halte; oder wenn ich der Nation, die viele Werke des Geschmaks
besitzt, darin das mechanische der Kunst vollkommen, auch allenfalls die Erfindung
geistreich ist, wenn ich ihr, sage ich, den wahren Besitz der Kunst abspreche; so
ist es nicht Verkleinerung ihrer Talente, sondern nothwendige Folgerung aus meinen
Grundsätzen. Da ich diese einmal festgesetzt glaubte, so hatte ich keinen Grund die

Folge-
b 2
Vorrede.

Noch eine Erinnerung, die ſich uͤber die meiſten Artikel des Werks erſtrekt, muß
ich zu Abwendung nachtheiliger Urtheile beybringen. Jch habe in dem ganzen Werk
den Charakter eines Philoſophen, und nicht eines Gelehrten, vielweniger eines bloßen
Sammlers angenommen. Meine Abſicht war gar nicht alles zu ſammeln, was etwa
gutes uͤber jeden aͤſthetiſchen Gegenſtand geſchrieben worden. Warum ſollte ich im
Artikel uͤber die Comoͤdie alle Comoͤdien, und im Artikel Heldengedicht alle Epopoͤen
die Muſterung paſſiren laſſen? Noch weniger nahm ich mir vor, alles falſche was
gelehrt worden, und noch gelehrt wird, zu widerlegen. Meine Hauptſorge war bey
jedem Gegenſtand den wahren Geſichtspunkt, aus dem man ihn betrachten muß,
wenigſtens den, woraus ich ihn betrachte, feſtzuſetzen, und dann dasjenige, was ich ſelbſt
in dieſer Stellung ſah, vorzutragen.

Nun bin ich weit entfernt zu glauben, daß ich alles geſehen und meine Materien
erſchoͤpft habe; oder daß ich uͤberall den rechten Punkt getroffen, oder uͤberall voͤllig
richtig geſehen habe. Jch bilde mir ſo wenig ein, das weitere Nachforſchen uͤber die
Gegenſtaͤnde des Geſchmaks uͤberfluͤßig gemacht zu haben, daß ich hoffe eine der
angenehmſten Fruͤchte meiner Arbeit werde die ſeyn, daß ſie neue Unterſuchungen
veranlaſſen werde. Meinen Grundſaͤtzen, worauf alle Unterſuchungen uͤber Werke
des Geſchmaks ſich ſtuͤtzen muͤſſen, verſpreche ich Beyfall; aber ich hoffe, daß der
Gebrauch, den andre nach mir davon machen werden, den Kuͤnſten weit mehr aufhelfen
werde, als das, was ich zu dieſem Behuf gethan habe.

Wenn ich hier und da, wo ich etwa von dem gegenwaͤrtigen Zuſtand der Kuͤnſte
und des Geſchmaks ſpreche, etwas Unzufriedenheit aͤußere, ſo muß man dieſes nicht
als Verachtung oder Tadelſucht aufnehmen. Jch habe es darum hier zum voraus
geſagt, daß ich ſehr hohe Begriffe von dem Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte und von dem
Beruff eines Kuͤnſtlers habe. Wenn ich nun nach dieſen Grundſaͤtzen einen ſo genann-
ten witzigen Kopf, einen Menſchen, der feine Kleinigkeiten macht, nicht fuͤr einen
wahren Dichter; einen Mann der ſchoͤn coloriret, oder fein zeichnet, darum noch nicht
fuͤr den rechten Mahler halte; oder wenn ich der Nation, die viele Werke des Geſchmaks
beſitzt, darin das mechaniſche der Kunſt vollkommen, auch allenfalls die Erfindung
geiſtreich iſt, wenn ich ihr, ſage ich, den wahren Beſitz der Kunſt abſpreche; ſo
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Grundſaͤtzen. Da ich dieſe einmal feſtgeſetzt glaubte, ſo hatte ich keinen Grund die

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[IX/0009] Vorrede. Noch eine Erinnerung, die ſich uͤber die meiſten Artikel des Werks erſtrekt, muß ich zu Abwendung nachtheiliger Urtheile beybringen. Jch habe in dem ganzen Werk den Charakter eines Philoſophen, und nicht eines Gelehrten, vielweniger eines bloßen Sammlers angenommen. Meine Abſicht war gar nicht alles zu ſammeln, was etwa gutes uͤber jeden aͤſthetiſchen Gegenſtand geſchrieben worden. Warum ſollte ich im Artikel uͤber die Comoͤdie alle Comoͤdien, und im Artikel Heldengedicht alle Epopoͤen die Muſterung paſſiren laſſen? Noch weniger nahm ich mir vor, alles falſche was gelehrt worden, und noch gelehrt wird, zu widerlegen. Meine Hauptſorge war bey jedem Gegenſtand den wahren Geſichtspunkt, aus dem man ihn betrachten muß, wenigſtens den, woraus ich ihn betrachte, feſtzuſetzen, und dann dasjenige, was ich ſelbſt in dieſer Stellung ſah, vorzutragen. Nun bin ich weit entfernt zu glauben, daß ich alles geſehen und meine Materien erſchoͤpft habe; oder daß ich uͤberall den rechten Punkt getroffen, oder uͤberall voͤllig richtig geſehen habe. Jch bilde mir ſo wenig ein, das weitere Nachforſchen uͤber die Gegenſtaͤnde des Geſchmaks uͤberfluͤßig gemacht zu haben, daß ich hoffe eine der angenehmſten Fruͤchte meiner Arbeit werde die ſeyn, daß ſie neue Unterſuchungen veranlaſſen werde. Meinen Grundſaͤtzen, worauf alle Unterſuchungen uͤber Werke des Geſchmaks ſich ſtuͤtzen muͤſſen, verſpreche ich Beyfall; aber ich hoffe, daß der Gebrauch, den andre nach mir davon machen werden, den Kuͤnſten weit mehr aufhelfen werde, als das, was ich zu dieſem Behuf gethan habe. Wenn ich hier und da, wo ich etwa von dem gegenwaͤrtigen Zuſtand der Kuͤnſte und des Geſchmaks ſpreche, etwas Unzufriedenheit aͤußere, ſo muß man dieſes nicht als Verachtung oder Tadelſucht aufnehmen. Jch habe es darum hier zum voraus geſagt, daß ich ſehr hohe Begriffe von dem Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte und von dem Beruff eines Kuͤnſtlers habe. Wenn ich nun nach dieſen Grundſaͤtzen einen ſo genann- ten witzigen Kopf, einen Menſchen, der feine Kleinigkeiten macht, nicht fuͤr einen wahren Dichter; einen Mann der ſchoͤn coloriret, oder fein zeichnet, darum noch nicht fuͤr den rechten Mahler halte; oder wenn ich der Nation, die viele Werke des Geſchmaks beſitzt, darin das mechaniſche der Kunſt vollkommen, auch allenfalls die Erfindung geiſtreich iſt, wenn ich ihr, ſage ich, den wahren Beſitz der Kunſt abſpreche; ſo iſt es nicht Verkleinerung ihrer Talente, ſondern nothwendige Folgerung aus meinen Grundſaͤtzen. Da ich dieſe einmal feſtgeſetzt glaubte, ſo hatte ich keinen Grund die Folge- b 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/9>, abgerufen am 23.11.2024.