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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Leh
Und das verschiedne Verhältnis der Dinge zugegen ge-
wesen,
Als sie noch künstig waren (*)

Hat der Redner wichtige Wahrheiten vorzutragen,
so thut das Gefühl seiner eigenen Ueberzeugung, wenn
er es seinen Zuhörern kann empfinden machen, bey-
nahe so viel, als der offenbareste Beweis. Selbst
starke Denker getrauen sich kaum an Sachen zu zwei-
feln, von denen sie andere, auch denkende Köpfe, in-
nig überzeuget sehen; gemeine Menschen aber un-
terstehen sich dieses gar nicht. Kommen also noch
innere faßliche Gründe dazu, so kann der Redner
gewiß seyn, seinen Zuhörer völlig überzeuget zu
haben.

Sehr wichtig ist auch dieses für den Redner, daß
er die schon einmal festgesetzten und dem Ansehen
nach unveränderlichen Meinungen seiner Zuhörer
genau kenne. Dieses giebt ihm ofte den Vortheil,
daß er anstatt eine Wahrheit gerade zu beweisen, nur
zeigen darf, daß sie, als ein besonderer Fall in dem
schon festgesezten Urtheil enthalten sey.

Ueber die Form und die Anordnung der lehrenden
Rede haben wir wenig zu sagen. Jm Grunde beob-
achtet der Redner eben die Methode, welche die Lo-
gik dem Philosophen vorschreibt. Eine Rede, darin
eine Wahrheit soll erwiesen werden, muß allemal auf
einen Vernunftschluß können gebracht werden: folg-
lich besteht sie aus drey Haupttheilen; den sogenann-
ten beyden Vordersäzen, worauf der dritte Theil,
nämlich der Schluß folget. Der Redner muß sich
seine ganze Rede anfänglich in Form eines richtigen
Vernunftschlusses, oder Syllogismus vorstellen.
Hat er sich von der Richtigkeit und Gründlichkeit
desselben überzeuget; so fängt er nun an den Plan
zum Vortrag und zur Ausführung jedes der drey
Säze seines Vernunftschlußes zu denken. Dieses
bestimmt die drey Haupttheile seiner Rede.

Bisweilen hält er für nöthig, jeden der beyden
Vordersäze, nachdem er vorgetragen worden, durch
besondere Ausführung zu bestätigen. Alsdenn ent-
stehen fünf Haupttheile seiner Rede, wie schon anders-
wo angemerkt worden. (*)

Lehrgedicht.

Man kann bey jeder Dichtungsart dem Menschen
nüzliche Lehren geben, und dem Verstand wichtige
Wahrheiten einprägen; deswegen ist nicht jedes
Gedicht, darin es geschieht, ein Lehrgedicht. Dieser
[Spaltenumbruch]

Leh
Name wird einer besondern Gattung gegeben, die
sich von allen andern Gattungen dadurch unterschei-
det, daß ein ganzes System von Lehren und Wahr-
heiten, nicht beyläufig, sondern als die Hauptma-
terie im Zusammenhang vorgetragen, und mit Grün-
den unterstüzt und ausgeführt wird.

Es scheinet zwar, daß der Unterricht, oder der
Vortrag zusammenhangender Wahrheiten, und die
gründliche Bevestigung derselben, dem Geist der
Dichtkunst entgegen sey, welcher hauptsächlich Leb-
haftigkeit, Sinnlichkeit, und die Abbildung des Ein-
zelen erfodert, da die unterrichtende Rede auf Rich-
tigkeit, und Deutlichkeit sieht, auch abgezogene all-
gemeine Begriffe, oder Säze, vorzutragen hat.
Besonders erfodert die Untersuchung des Wahren ei-
nen Gang, der sich von dem Schwung des Dichters
sehr zu entfernen scheinet. Dieses hat einige Kunst-
richter verleitet, das Lehrgedicht von der Poesie aus-
zuschließen. Freylich könnte sich die Dichtkunst mit
dem Vortrag zusammenhangender Wahrheiten nicht
bemengen, wenn sie nothwendig so müßten vorge-
tragen und bewiesen werden, wie Euklides oder
Wolf es gethan haben. Es giebt aber gründliche
Systeme von Wahrheiten, die auf eine sinnliche,
dem anschauenden Erkenntnis einleuchtende Weise
können gesagt werden; wovon wir an Horazens
und Boileaus Werken über die Dichtkunst, an Po-
pens Versuch über den Menschen, an Hallers Ge-
dicht über den Ursprung des Uebels und manchem
andern Werke dieser Gattung, fürtrefliche Beyspiele
haben, denen man, ohne in verächtliche Spizfün-
digkeiten zu verfallen, den Namen sehr schöner Ge-
dichte nicht versagen kann. Wir werden auch her-
nach zeigen, daß dem Lehrgedicht nicht blos überhaupt
ein Plaz unter den Werken der Dichtkunst einzuräu-
men sey, sondern daß es so gar unter die wichtigsten
Werke derselben gehöre. Obgleich die Entdekung
der Wahrheit ofte das Werk eines kalten und gesez-
ten philosophischen Nachdenkens ist, so bleidet doch
der nachdrükliche und eindringende Vortrag derselben
allemal ein Werk des Geschmaks. (*) Wahrheiten,
welche durch die mühesamste Zergliederung der Be-
griffe sind entdekt worden, können meistentheils auch
dem blos anschauenden Erkenntnis im Einzeln sinn-
lich vorgestellt, und einleuchtend vorgetragen wer-
den. Geschiehet dieses mit allen Reizungen des
Vortrages, so entstehet daraus das eigentliche Lehr-
gedicht.

Sein
(*) S.
Noachide
IV Ges.
(*) S.
Beweisar-
ten. S.
162.
(*) Man
sehe den
vorherge-
henden Ar-
tikel leh-
rende Re-
de.
[Spaltenumbruch]
Leh
Und das verſchiedne Verhaͤltnis der Dinge zugegen ge-
weſen,
Als ſie noch kuͤnſtig waren (*)

Hat der Redner wichtige Wahrheiten vorzutragen,
ſo thut das Gefuͤhl ſeiner eigenen Ueberzeugung, wenn
er es ſeinen Zuhoͤrern kann empfinden machen, bey-
nahe ſo viel, als der offenbareſte Beweis. Selbſt
ſtarke Denker getrauen ſich kaum an Sachen zu zwei-
feln, von denen ſie andere, auch denkende Koͤpfe, in-
nig uͤberzeuget ſehen; gemeine Menſchen aber un-
terſtehen ſich dieſes gar nicht. Kommen alſo noch
innere faßliche Gruͤnde dazu, ſo kann der Redner
gewiß ſeyn, ſeinen Zuhoͤrer voͤllig uͤberzeuget zu
haben.

Sehr wichtig iſt auch dieſes fuͤr den Redner, daß
er die ſchon einmal feſtgeſetzten und dem Anſehen
nach unveraͤnderlichen Meinungen ſeiner Zuhoͤrer
genau kenne. Dieſes giebt ihm ofte den Vortheil,
daß er anſtatt eine Wahrheit gerade zu beweiſen, nur
zeigen darf, daß ſie, als ein beſonderer Fall in dem
ſchon feſtgeſezten Urtheil enthalten ſey.

Ueber die Form und die Anordnung der lehrenden
Rede haben wir wenig zu ſagen. Jm Grunde beob-
achtet der Redner eben die Methode, welche die Lo-
gik dem Philoſophen vorſchreibt. Eine Rede, darin
eine Wahrheit ſoll erwieſen werden, muß allemal auf
einen Vernunftſchluß koͤnnen gebracht werden: folg-
lich beſteht ſie aus drey Haupttheilen; den ſogenann-
ten beyden Vorderſaͤzen, worauf der dritte Theil,
naͤmlich der Schluß folget. Der Redner muß ſich
ſeine ganze Rede anfaͤnglich in Form eines richtigen
Vernunftſchluſſes, oder Syllogismus vorſtellen.
Hat er ſich von der Richtigkeit und Gruͤndlichkeit
deſſelben uͤberzeuget; ſo faͤngt er nun an den Plan
zum Vortrag und zur Ausfuͤhrung jedes der drey
Saͤze ſeines Vernunftſchlußes zu denken. Dieſes
beſtimmt die drey Haupttheile ſeiner Rede.

Bisweilen haͤlt er fuͤr noͤthig, jeden der beyden
Vorderſaͤze, nachdem er vorgetragen worden, durch
beſondere Ausfuͤhrung zu beſtaͤtigen. Alsdenn ent-
ſtehen fuͤnf Haupttheile ſeiner Rede, wie ſchon anders-
wo angemerkt worden. (*)

Lehrgedicht.

Man kann bey jeder Dichtungsart dem Menſchen
nuͤzliche Lehren geben, und dem Verſtand wichtige
Wahrheiten einpraͤgen; deswegen iſt nicht jedes
Gedicht, darin es geſchieht, ein Lehrgedicht. Dieſer
[Spaltenumbruch]

Leh
Name wird einer beſondern Gattung gegeben, die
ſich von allen andern Gattungen dadurch unterſchei-
det, daß ein ganzes Syſtem von Lehren und Wahr-
heiten, nicht beylaͤufig, ſondern als die Hauptma-
terie im Zuſammenhang vorgetragen, und mit Gruͤn-
den unterſtuͤzt und ausgefuͤhrt wird.

Es ſcheinet zwar, daß der Unterricht, oder der
Vortrag zuſammenhangender Wahrheiten, und die
gruͤndliche Beveſtigung derſelben, dem Geiſt der
Dichtkunſt entgegen ſey, welcher hauptſaͤchlich Leb-
haftigkeit, Sinnlichkeit, und die Abbildung des Ein-
zelen erfodert, da die unterrichtende Rede auf Rich-
tigkeit, und Deutlichkeit ſieht, auch abgezogene all-
gemeine Begriffe, oder Saͤze, vorzutragen hat.
Beſonders erfodert die Unterſuchung des Wahren ei-
nen Gang, der ſich von dem Schwung des Dichters
ſehr zu entfernen ſcheinet. Dieſes hat einige Kunſt-
richter verleitet, das Lehrgedicht von der Poeſie aus-
zuſchließen. Freylich koͤnnte ſich die Dichtkunſt mit
dem Vortrag zuſammenhangender Wahrheiten nicht
bemengen, wenn ſie nothwendig ſo muͤßten vorge-
tragen und bewieſen werden, wie Euklides oder
Wolf es gethan haben. Es giebt aber gruͤndliche
Syſteme von Wahrheiten, die auf eine ſinnliche,
dem anſchauenden Erkenntnis einleuchtende Weiſe
koͤnnen geſagt werden; wovon wir an Horazens
und Boileaus Werken uͤber die Dichtkunſt, an Po-
pens Verſuch uͤber den Menſchen, an Hallers Ge-
dicht uͤber den Urſprung des Uebels und manchem
andern Werke dieſer Gattung, fuͤrtrefliche Beyſpiele
haben, denen man, ohne in veraͤchtliche Spizfuͤn-
digkeiten zu verfallen, den Namen ſehr ſchoͤner Ge-
dichte nicht verſagen kann. Wir werden auch her-
nach zeigen, daß dem Lehrgedicht nicht blos uͤberhaupt
ein Plaz unter den Werken der Dichtkunſt einzuraͤu-
men ſey, ſondern daß es ſo gar unter die wichtigſten
Werke derſelben gehoͤre. Obgleich die Entdekung
der Wahrheit ofte das Werk eines kalten und geſez-
ten philoſophiſchen Nachdenkens iſt, ſo bleidet doch
der nachdruͤkliche und eindringende Vortrag derſelben
allemal ein Werk des Geſchmaks. (*) Wahrheiten,
welche durch die muͤheſamſte Zergliederung der Be-
griffe ſind entdekt worden, koͤnnen meiſtentheils auch
dem blos anſchauenden Erkenntnis im Einzeln ſinn-
lich vorgeſtellt, und einleuchtend vorgetragen wer-
den. Geſchiehet dieſes mit allen Reizungen des
Vortrages, ſo entſtehet daraus das eigentliche Lehr-
gedicht.

Sein
(*) S.
Noachide
IV Geſ.
(*) S.
Beweisar-
ten. S.
162.
(*) Man
ſehe den
vorherge-
henden Ar-
tikel leh-
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 688[670]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/105>, abgerufen am 23.11.2024.