Wir haben Lehrgedichte, und man erkennet sie einstimung für solche, darin zusammenhangende Sy- steme speculativer Untersuchungen vorgetragen wer- den, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur der Dinge, Hallers Gedicht vom Ursprung des Ue- bels, Popens vom Menschen, Wielands von der Natur der Dinge und andre mehr: andre tragen Theorien von Künsten, oder auch ganze Systeme praktischer Regeln vor, wonach gewisse Geschäfte sollen getrieben werden, wie des Hestodus Gedicht, die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Ho- raz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und andre von der Mahlerkunst: endlich haben wir auch Gedichte, die wolgeordnete und ausführliche Ge- mählde natürlicher und sittlicher Dinge enthalten, wie Hallers Alpen, Thomsons Jahrszeiten, und Kleists Frühling. Auch blos sittliche Schilderungen des Menschen, oder der allgemeinen moralischen Na- tur, sind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne Grund könnte man auch solche Gedichte, wie Bod- mers über den Charakter der deutschen Dichter, und seine Wolthäter der Stadt Zürich sind, hieher rechnen.
Daß diese Gattung wichtig sey, ist bereits erin- nert worden; aber die Sache verdienet eine nähere Betrachtung. Jn jeder Art der menschlichen Ange- legenheiten, in jedem Stand, jeder gesellschaftlichen Verbindung, ist eine lebhafte und sich ans Herz an- schließende Kenntnis, gewisser sich auf dieselbe be- ziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht gar aller guten Handlungen, doch des durchaus gu- ten und rechtschaffenen Betragens. Der Mensch, dessen Herz von der Natur auf das beste gebildet worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er blos der Empfindung nachgiebt. Erst durch ein gründliches System praktischer Wahrheiten, wird der Mensch von gutem Herzen, zu einem vollkom- menen Menschen. Nur dieses stellt ihm jedes be- sondere Geschäft, und jede Angelegenheit in dem wahren Gesichtspunkt vor, der ihm ein richtiges Urtheil davon giebt, und seine Entschließungen auf das rechte Ziel lenket. Es ist das Werk der Philo- sophie diese Wahrheiten zu entdeken; aber die Dicht- kunst allein, kann ihnen auf die beste Weise die würk- same Kraft geben. Was der reine Verstand am deutlichsten begreift, wird am leichtesten wieder aus- gelöscht, weil es an nichts sinnlichem hängt. Der Dichter ist nicht nur durchaus sinnlich, sondern sucht [Spaltenumbruch]
Leh
unter den sinnlichen Gegenständen die kräftigsten aus; an diese hänget er die Begriffe und Wahrhei- ten, und dadurch werden sie nicht nur unvergeßlich, sondern auch einnehmend, weil sich die Empfindung einigermaaßen damit vermischt.-- Aus ihrem Bilderschatz Schmükt sie sie reizend aus und nihmt der Gründe Plaz. (*)
Der lehrende Dichter sucht in dem Umfang der uns allezeit gegenwärtigen sinnlichen Gegenstände die leb- haftesten aus; braucht sie als Spiegel, darin unsre Begriffe mit voller Klarheit abgemahlt sind, und dadurch unsre Urtheile festgesezt werden. Daher geschiehet es, daß wir uns derselben bey gar man- nigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er endlich nicht nur jedes einzele mit allen Annehm- lichkeiten des Wolklanges, sondern auch sein ganzes System in einem schönen, aber sinnlich faßlichen Plan vorträgt, und den Vortrag selbst durch alle Reizun- gen einnehmend macht; so muß jeder Mensch von Geschmak Lust bekommen, ihn nicht nur ofte zu le- sen, sondern auch alles lebhaft im Gedächtniß zu behalten.
Hieraus siehet man aber auch, daß alle Dichter- gaben zusammen kommen müssen, um in dieser Gat- tung völlig glüklich zu seyn. Die fließendste Har- monie des Verses, die schönsten Farben des Aus- druks, die kräftigsten Bilder, und im Ganzen die schlaueste Kunst der Anordnung, sind hier mehr, als irgendwo nothwendig, damit sich alles recht lebhaft einpräge. Lukretius hat nur in einzelen Stellen seines Gedichts, allen diesen Foderungen genug ge- than; aber an dem meisten Orten ist er doch zu tro- ken; da hingegen Virgil sich durchaus als einen gro- ßen Dichter gezeiget hat. Unter uns kann Haller zum Muster dienen, und in einigen, was die Stärke des Ausdruks, und die Wahl der Bilder betrift, auch Witthof, dessen Vers aber nicht den erfoderli- chen Wolklang hat. Wieland hat sich in seiner er- sten Jugend in dieses Feld begeben, und es ist zu wünschen, daß er noch einmal dahin zurükekehre, wo es ihm leicht seyn würde seinen besten Vorgän- gängern in allen Stüken gleich zu kommen, in eini- gen aber, sie zu übertreffen. Er wäre vollkommen im Stande die Anmerkung eines unsrer Kunstrich- ter zu wiederlegen, daß unsre Lehrdichter nur denn fürtreflich seyn, wenn sie abstrakte Lehren der Welt- weisheit vortragen, hingegen sehr fallen, wenn sie
sich
(*) Wie- lands Nat. der Dinge 2. B.
[Spaltenumbruch]
Leh
Wir haben Lehrgedichte, und man erkennet ſie einſtimung fuͤr ſolche, darin zuſammenhangende Sy- ſteme ſpeculativer Unterſuchungen vorgetragen wer- den, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur der Dinge, Hallers Gedicht vom Urſprung des Ue- bels, Popens vom Menſchen, Wielands von der Natur der Dinge und andre mehr: andre tragen Theorien von Kuͤnſten, oder auch ganze Syſteme praktiſcher Regeln vor, wonach gewiſſe Geſchaͤfte ſollen getrieben werden, wie des Heſtodus Gedicht, die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Ho- raz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und andre von der Mahlerkunſt: endlich haben wir auch Gedichte, die wolgeordnete und ausfuͤhrliche Ge- maͤhlde natuͤrlicher und ſittlicher Dinge enthalten, wie Hallers Alpen, Thomſons Jahrszeiten, und Kleiſts Fruͤhling. Auch blos ſittliche Schilderungen des Menſchen, oder der allgemeinen moraliſchen Na- tur, ſind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne Grund koͤnnte man auch ſolche Gedichte, wie Bod- mers uͤber den Charakter der deutſchen Dichter, und ſeine Wolthaͤter der Stadt Zuͤrich ſind, hieher rechnen.
Daß dieſe Gattung wichtig ſey, iſt bereits erin- nert worden; aber die Sache verdienet eine naͤhere Betrachtung. Jn jeder Art der menſchlichen Ange- legenheiten, in jedem Stand, jeder geſellſchaftlichen Verbindung, iſt eine lebhafte und ſich ans Herz an- ſchließende Kenntnis, gewiſſer ſich auf dieſelbe be- ziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht gar aller guten Handlungen, doch des durchaus gu- ten und rechtſchaffenen Betragens. Der Menſch, deſſen Herz von der Natur auf das beſte gebildet worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er blos der Empfindung nachgiebt. Erſt durch ein gruͤndliches Syſtem praktiſcher Wahrheiten, wird der Menſch von gutem Herzen, zu einem vollkom- menen Menſchen. Nur dieſes ſtellt ihm jedes be- ſondere Geſchaͤft, und jede Angelegenheit in dem wahren Geſichtspunkt vor, der ihm ein richtiges Urtheil davon giebt, und ſeine Entſchließungen auf das rechte Ziel lenket. Es iſt das Werk der Philo- ſophie dieſe Wahrheiten zu entdeken; aber die Dicht- kunſt allein, kann ihnen auf die beſte Weiſe die wuͤrk- ſame Kraft geben. Was der reine Verſtand am deutlichſten begreift, wird am leichteſten wieder aus- geloͤſcht, weil es an nichts ſinnlichem haͤngt. Der Dichter iſt nicht nur durchaus ſinnlich, ſondern ſucht [Spaltenumbruch]
Leh
unter den ſinnlichen Gegenſtaͤnden die kraͤftigſten aus; an dieſe haͤnget er die Begriffe und Wahrhei- ten, und dadurch werden ſie nicht nur unvergeßlich, ſondern auch einnehmend, weil ſich die Empfindung einigermaaßen damit vermiſcht.— Aus ihrem Bilderſchatz Schmuͤkt ſie ſie reizend aus und nihmt der Gruͤnde Plaz. (*)
Der lehrende Dichter ſucht in dem Umfang der uns allezeit gegenwaͤrtigen ſinnlichen Gegenſtaͤnde die leb- hafteſten aus; braucht ſie als Spiegel, darin unſre Begriffe mit voller Klarheit abgemahlt ſind, und dadurch unſre Urtheile feſtgeſezt werden. Daher geſchiehet es, daß wir uns derſelben bey gar man- nigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er endlich nicht nur jedes einzele mit allen Annehm- lichkeiten des Wolklanges, ſondern auch ſein ganzes Syſtem in einem ſchoͤnen, aber ſinnlich faßlichen Plan vortraͤgt, und den Vortrag ſelbſt durch alle Reizun- gen einnehmend macht; ſo muß jeder Menſch von Geſchmak Luſt bekommen, ihn nicht nur ofte zu le- ſen, ſondern auch alles lebhaft im Gedaͤchtniß zu behalten.
Hieraus ſiehet man aber auch, daß alle Dichter- gaben zuſammen kommen muͤſſen, um in dieſer Gat- tung voͤllig gluͤklich zu ſeyn. Die fließendſte Har- monie des Verſes, die ſchoͤnſten Farben des Aus- druks, die kraͤftigſten Bilder, und im Ganzen die ſchlaueſte Kunſt der Anordnung, ſind hier mehr, als irgendwo nothwendig, damit ſich alles recht lebhaft einpraͤge. Lukretius hat nur in einzelen Stellen ſeines Gedichts, allen dieſen Foderungen genug ge- than; aber an dem meiſten Orten iſt er doch zu tro- ken; da hingegen Virgil ſich durchaus als einen gro- ßen Dichter gezeiget hat. Unter uns kann Haller zum Muſter dienen, und in einigen, was die Staͤrke des Ausdruks, und die Wahl der Bilder betrift, auch Witthof, deſſen Vers aber nicht den erfoderli- chen Wolklang hat. Wieland hat ſich in ſeiner er- ſten Jugend in dieſes Feld begeben, und es iſt zu wuͤnſchen, daß er noch einmal dahin zuruͤkekehre, wo es ihm leicht ſeyn wuͤrde ſeinen beſten Vorgaͤn- gaͤngern in allen Stuͤken gleich zu kommen, in eini- gen aber, ſie zu uͤbertreffen. Er waͤre vollkommen im Stande die Anmerkung eines unſrer Kunſtrich- ter zu wiederlegen, daß unſre Lehrdichter nur denn fuͤrtreflich ſeyn, wenn ſie abſtrakte Lehren der Welt- weisheit vortragen, hingegen ſehr fallen, wenn ſie
ſich
(*) Wie- lands Nat. der Dinge 2. B.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0107"n="690[672]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Leh</hi></fw><lb/><p>Wir haben Lehrgedichte, und man erkennet ſie<lb/>
einſtimung fuͤr ſolche, darin zuſammenhangende Sy-<lb/>ſteme ſpeculativer Unterſuchungen vorgetragen wer-<lb/>
den, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur<lb/>
der Dinge, Hallers Gedicht vom Urſprung des Ue-<lb/>
bels, Popens vom Menſchen, Wielands von der<lb/>
Natur der Dinge und andre mehr: andre tragen<lb/>
Theorien von Kuͤnſten, oder auch ganze Syſteme<lb/>
praktiſcher Regeln vor, wonach gewiſſe Geſchaͤfte<lb/>ſollen getrieben werden, wie des Heſtodus Gedicht,<lb/>
die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Ho-<lb/>
raz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und<lb/>
andre von der Mahlerkunſt: endlich haben wir auch<lb/>
Gedichte, die wolgeordnete und ausfuͤhrliche Ge-<lb/>
maͤhlde natuͤrlicher und ſittlicher Dinge enthalten,<lb/>
wie Hallers Alpen, Thomſons Jahrszeiten, und<lb/>
Kleiſts Fruͤhling. Auch blos ſittliche Schilderungen<lb/>
des Menſchen, oder der allgemeinen moraliſchen Na-<lb/>
tur, ſind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne<lb/>
Grund koͤnnte man auch ſolche Gedichte, wie Bod-<lb/>
mers uͤber den Charakter der deutſchen Dichter,<lb/>
und ſeine Wolthaͤter der Stadt Zuͤrich ſind, hieher<lb/>
rechnen.</p><lb/><p>Daß dieſe Gattung wichtig ſey, iſt bereits erin-<lb/>
nert worden; aber die Sache verdienet eine naͤhere<lb/>
Betrachtung. Jn jeder Art der menſchlichen Ange-<lb/>
legenheiten, in jedem Stand, jeder geſellſchaftlichen<lb/>
Verbindung, iſt eine lebhafte und ſich ans Herz an-<lb/>ſchließende Kenntnis, gewiſſer ſich auf dieſelbe be-<lb/>
ziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht<lb/>
gar aller guten Handlungen, doch des durchaus gu-<lb/>
ten und rechtſchaffenen Betragens. Der Menſch,<lb/>
deſſen Herz von der Natur auf das beſte gebildet<lb/>
worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er<lb/>
blos der Empfindung nachgiebt. Erſt durch ein<lb/>
gruͤndliches Syſtem praktiſcher Wahrheiten, wird<lb/>
der Menſch von gutem Herzen, zu einem vollkom-<lb/>
menen Menſchen. Nur dieſes ſtellt ihm jedes be-<lb/>ſondere Geſchaͤft, und jede Angelegenheit in dem<lb/>
wahren Geſichtspunkt vor, der ihm ein richtiges<lb/>
Urtheil davon giebt, und ſeine Entſchließungen auf<lb/>
das rechte Ziel lenket. Es iſt das Werk der Philo-<lb/>ſophie dieſe Wahrheiten zu entdeken; aber die Dicht-<lb/>
kunſt allein, kann ihnen auf die beſte Weiſe die wuͤrk-<lb/>ſame Kraft geben. Was der reine Verſtand am<lb/>
deutlichſten begreift, wird am leichteſten wieder aus-<lb/>
geloͤſcht, weil es an nichts ſinnlichem haͤngt. Der<lb/>
Dichter iſt nicht nur durchaus ſinnlich, ſondern ſucht<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Leh</hi></fw><lb/>
unter den ſinnlichen Gegenſtaͤnden die kraͤftigſten<lb/>
aus; an dieſe haͤnget er die Begriffe und Wahrhei-<lb/>
ten, und dadurch werden ſie nicht nur unvergeßlich,<lb/>ſondern auch einnehmend, weil ſich die Empfindung<lb/>
einigermaaßen damit vermiſcht.</p><lb/><cit><quote><hirendition="#c">— Aus ihrem Bilderſchatz<lb/>
Schmuͤkt ſie ſie reizend aus und nihmt der Gruͤnde<lb/>
Plaz. <noteplace="foot"n="(*)">Wie-<lb/>
lands Nat.<lb/>
der Dinge<lb/>
2. B.</note></hi></quote></cit><lb/><p>Der lehrende Dichter ſucht in dem Umfang der uns<lb/>
allezeit gegenwaͤrtigen ſinnlichen Gegenſtaͤnde die leb-<lb/>
hafteſten aus; braucht ſie als Spiegel, darin unſre<lb/>
Begriffe mit voller Klarheit abgemahlt ſind, und<lb/>
dadurch unſre Urtheile feſtgeſezt werden. Daher<lb/>
geſchiehet es, daß wir uns derſelben bey gar man-<lb/>
nigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er<lb/>
endlich nicht nur jedes einzele mit allen Annehm-<lb/>
lichkeiten des Wolklanges, ſondern auch ſein ganzes<lb/>
Syſtem in einem ſchoͤnen, aber ſinnlich faßlichen Plan<lb/>
vortraͤgt, und den Vortrag ſelbſt durch alle Reizun-<lb/>
gen einnehmend macht; ſo muß jeder Menſch von<lb/>
Geſchmak Luſt bekommen, ihn nicht nur ofte zu le-<lb/>ſen, ſondern auch alles lebhaft im Gedaͤchtniß zu<lb/>
behalten.</p><lb/><p>Hieraus ſiehet man aber auch, daß alle Dichter-<lb/>
gaben zuſammen kommen muͤſſen, um in dieſer Gat-<lb/>
tung voͤllig gluͤklich zu ſeyn. Die fließendſte Har-<lb/>
monie des Verſes, die ſchoͤnſten Farben des Aus-<lb/>
druks, die kraͤftigſten Bilder, und im Ganzen die<lb/>ſchlaueſte Kunſt der Anordnung, ſind hier mehr, als<lb/>
irgendwo nothwendig, damit ſich alles recht lebhaft<lb/>
einpraͤge. Lukretius hat nur in einzelen Stellen<lb/>ſeines Gedichts, allen dieſen Foderungen genug ge-<lb/>
than; aber an dem meiſten Orten iſt er doch zu tro-<lb/>
ken; da hingegen Virgil ſich durchaus als einen gro-<lb/>
ßen Dichter gezeiget hat. Unter uns kann Haller<lb/>
zum Muſter dienen, und in einigen, was die Staͤrke<lb/>
des Ausdruks, und die Wahl der Bilder betrift,<lb/>
auch Witthof, deſſen Vers aber nicht den erfoderli-<lb/>
chen Wolklang hat. Wieland hat ſich in ſeiner er-<lb/>ſten Jugend in dieſes Feld begeben, und es iſt zu<lb/>
wuͤnſchen, daß er noch einmal dahin zuruͤkekehre,<lb/>
wo es ihm leicht ſeyn wuͤrde ſeinen beſten Vorgaͤn-<lb/>
gaͤngern in allen Stuͤken gleich zu kommen, in eini-<lb/>
gen aber, ſie zu uͤbertreffen. Er waͤre vollkommen<lb/>
im Stande die Anmerkung eines unſrer Kunſtrich-<lb/>
ter zu wiederlegen, daß unſre Lehrdichter nur denn<lb/>
fuͤrtreflich ſeyn, wenn ſie abſtrakte Lehren der Welt-<lb/>
weisheit vortragen, hingegen ſehr fallen, wenn ſie<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[690[672]/0107]
Leh
Leh
Wir haben Lehrgedichte, und man erkennet ſie
einſtimung fuͤr ſolche, darin zuſammenhangende Sy-
ſteme ſpeculativer Unterſuchungen vorgetragen wer-
den, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur
der Dinge, Hallers Gedicht vom Urſprung des Ue-
bels, Popens vom Menſchen, Wielands von der
Natur der Dinge und andre mehr: andre tragen
Theorien von Kuͤnſten, oder auch ganze Syſteme
praktiſcher Regeln vor, wonach gewiſſe Geſchaͤfte
ſollen getrieben werden, wie des Heſtodus Gedicht,
die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Ho-
raz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und
andre von der Mahlerkunſt: endlich haben wir auch
Gedichte, die wolgeordnete und ausfuͤhrliche Ge-
maͤhlde natuͤrlicher und ſittlicher Dinge enthalten,
wie Hallers Alpen, Thomſons Jahrszeiten, und
Kleiſts Fruͤhling. Auch blos ſittliche Schilderungen
des Menſchen, oder der allgemeinen moraliſchen Na-
tur, ſind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne
Grund koͤnnte man auch ſolche Gedichte, wie Bod-
mers uͤber den Charakter der deutſchen Dichter,
und ſeine Wolthaͤter der Stadt Zuͤrich ſind, hieher
rechnen.
Daß dieſe Gattung wichtig ſey, iſt bereits erin-
nert worden; aber die Sache verdienet eine naͤhere
Betrachtung. Jn jeder Art der menſchlichen Ange-
legenheiten, in jedem Stand, jeder geſellſchaftlichen
Verbindung, iſt eine lebhafte und ſich ans Herz an-
ſchließende Kenntnis, gewiſſer ſich auf dieſelbe be-
ziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht
gar aller guten Handlungen, doch des durchaus gu-
ten und rechtſchaffenen Betragens. Der Menſch,
deſſen Herz von der Natur auf das beſte gebildet
worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er
blos der Empfindung nachgiebt. Erſt durch ein
gruͤndliches Syſtem praktiſcher Wahrheiten, wird
der Menſch von gutem Herzen, zu einem vollkom-
menen Menſchen. Nur dieſes ſtellt ihm jedes be-
ſondere Geſchaͤft, und jede Angelegenheit in dem
wahren Geſichtspunkt vor, der ihm ein richtiges
Urtheil davon giebt, und ſeine Entſchließungen auf
das rechte Ziel lenket. Es iſt das Werk der Philo-
ſophie dieſe Wahrheiten zu entdeken; aber die Dicht-
kunſt allein, kann ihnen auf die beſte Weiſe die wuͤrk-
ſame Kraft geben. Was der reine Verſtand am
deutlichſten begreift, wird am leichteſten wieder aus-
geloͤſcht, weil es an nichts ſinnlichem haͤngt. Der
Dichter iſt nicht nur durchaus ſinnlich, ſondern ſucht
unter den ſinnlichen Gegenſtaͤnden die kraͤftigſten
aus; an dieſe haͤnget er die Begriffe und Wahrhei-
ten, und dadurch werden ſie nicht nur unvergeßlich,
ſondern auch einnehmend, weil ſich die Empfindung
einigermaaßen damit vermiſcht.
— Aus ihrem Bilderſchatz
Schmuͤkt ſie ſie reizend aus und nihmt der Gruͤnde
Plaz. (*)
Der lehrende Dichter ſucht in dem Umfang der uns
allezeit gegenwaͤrtigen ſinnlichen Gegenſtaͤnde die leb-
hafteſten aus; braucht ſie als Spiegel, darin unſre
Begriffe mit voller Klarheit abgemahlt ſind, und
dadurch unſre Urtheile feſtgeſezt werden. Daher
geſchiehet es, daß wir uns derſelben bey gar man-
nigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er
endlich nicht nur jedes einzele mit allen Annehm-
lichkeiten des Wolklanges, ſondern auch ſein ganzes
Syſtem in einem ſchoͤnen, aber ſinnlich faßlichen Plan
vortraͤgt, und den Vortrag ſelbſt durch alle Reizun-
gen einnehmend macht; ſo muß jeder Menſch von
Geſchmak Luſt bekommen, ihn nicht nur ofte zu le-
ſen, ſondern auch alles lebhaft im Gedaͤchtniß zu
behalten.
Hieraus ſiehet man aber auch, daß alle Dichter-
gaben zuſammen kommen muͤſſen, um in dieſer Gat-
tung voͤllig gluͤklich zu ſeyn. Die fließendſte Har-
monie des Verſes, die ſchoͤnſten Farben des Aus-
druks, die kraͤftigſten Bilder, und im Ganzen die
ſchlaueſte Kunſt der Anordnung, ſind hier mehr, als
irgendwo nothwendig, damit ſich alles recht lebhaft
einpraͤge. Lukretius hat nur in einzelen Stellen
ſeines Gedichts, allen dieſen Foderungen genug ge-
than; aber an dem meiſten Orten iſt er doch zu tro-
ken; da hingegen Virgil ſich durchaus als einen gro-
ßen Dichter gezeiget hat. Unter uns kann Haller
zum Muſter dienen, und in einigen, was die Staͤrke
des Ausdruks, und die Wahl der Bilder betrift,
auch Witthof, deſſen Vers aber nicht den erfoderli-
chen Wolklang hat. Wieland hat ſich in ſeiner er-
ſten Jugend in dieſes Feld begeben, und es iſt zu
wuͤnſchen, daß er noch einmal dahin zuruͤkekehre,
wo es ihm leicht ſeyn wuͤrde ſeinen beſten Vorgaͤn-
gaͤngern in allen Stuͤken gleich zu kommen, in eini-
gen aber, ſie zu uͤbertreffen. Er waͤre vollkommen
im Stande die Anmerkung eines unſrer Kunſtrich-
ter zu wiederlegen, daß unſre Lehrdichter nur denn
fuͤrtreflich ſeyn, wenn ſie abſtrakte Lehren der Welt-
weisheit vortragen, hingegen ſehr fallen, wenn ſie
ſich
(*) Wie-
lands Nat.
der Dinge
2. B.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 690[672]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/107>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.