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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lük Lyd Lyr

Es ist wahr, daß das öftere Zusammenstoßen
der Selbstlauter die Rede schweer macht, zumal
wenn beyde lang sind. Daß aber die Griechen nicht
so ängstlich gewesen, sie in ihren Versen ganz zu
vermeiden, ist aus tausend Versen offenbar. Auch
kann daran nicht gezweifelt werden, daß sie solche
Lüken bisweilen mit Fleiß gesucht haben, wie schon
A. Gellius angemerkt hat. (*) Er sagt ausdrük-
lich, daß in der Stelle aus Virgils Gedichte vom
Landbau

Talem dives arat Capua et vlcina Vesevo
Ora jugo:

das Wort Ora auch deswegen besser stehe, als Nola,
welches der Dichter zuerst soll gesezt haben, weil das
Zusammenstoßen des lezten Vocals im ersten Vers
und des ersten im zweyten, angenehm sey. Nam
vocalis in priore versu extrema eademque in se-
quenti prima canoro simul atque jucundo hiatu tra-
ctim sonat.
Er führt auch den bekannten Vers Ho-
mers: Laan ano otheske &c. an, um zu bewei-
sen, daß solche hiatus nicht von ohngefehr, sondern
aus Ueberlegung in die Verse gekommen seyen.
Dieses allein ist hinlänglich zu beweisen, daß jene
Regel eben nicht ängstlich dürfe beobachtet werden.

Und denn ist es vielleicht noch wichtiger, das Zu-
sammenstoßen gewisser Mitlauter zu vermeiden, die
eine weit merklichere Lüke geben. Ein N, das auf
ein M folget, kann nicht ohne Mühe ausgesprochen
werden. Also begnüge man sich dem Dichter über-
haupt zu sagen, er soll überall so viel möglich auf
die Leichtigkeit der Aussprach sehen, ohne ihm zu
genaue Regeln vorzuschreiben.

Lydische Tonart.
(Musik.)

Eine der Haupttonarten in der griechischen Musik,
die Plato aus seiner Republik verwiesen hat, weil sie,
ungeachtet ihres lebhaften Charakters, doch etwas
weichliches hatte. Daß unser heutiges F dur, wenn
dieser Ton völlig nach der Art der Kirchentonarten
behandelt wird, würklich die lydische Tonart der Alten
sey, wie die Tradition anzuzeigen scheinet, läßt sich
vermuthen, weil er würklich diesen Charakter hat.

Lyrisch.
(Dichtkunst.)

Die lyrischen Gedichte haben diese Benennung von
der Lyra, oder Leyer unter deren begleitenden Klang
[Spaltenumbruch]

Lyr
sie bey den ältesten Griechen abgesungen wurden;
wiewol doch auch zu einigen Arten die Flöte ge-
braucht worden. Der allgemeine Charakter dieser
Gattung wird also daher zu bestimmen seyn, daß je-
des lyrische Gedicht zum Singen bestimmt ist. Es
kann wol seyn, daß in den ältesten Zeiten auch die
Epopöe von Musik begleitet worden, so wie wir es
auch mit Gewißheit von der Tragödie behaupten
können. Dessen ungeachtet ist der Charakter des
eigentlichen Gesanges vorzüglich auf die lyrische
Gattung anzuwenden, da die epischen und tragischen
Gedichte mehr in dem Charakter des Recitatives,
als des Gesanges gearbeitet sind.

Um also diesen allgemeinen Charakter des lyri-
schen zu entdeken, dürfen wir nur auf den Ursprung
und die Natur des Gesanges zurük sehen. (*) Er
entsteht allemal aus der Fülle der Empfindung,
und erfodert eine abwechselnde rhythmische Bewe-
gung, die der Natur der besondern Empfindung, die
ihn veranlasset, angemessen sey. Niemand erzählt,
oder lehret singend, wo nicht etwa die Aeusserung
einer Leidenschaft zufälliger Weise in diese Gattung
fällt. Lyrische Gedichte werden deswegen allemal
von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht;
wenigstens ist sie darin herrschend, der Verstand,
oder die Vorstellungskraft aber sind da nur zufällig.

Also ist der Jnhalt des lyrischen Gedichts immer
die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung
einer fröhlichen, oder zärtlichen, oder andächtigen,
oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemesse-
nen Gegenstand. Aber diese Empfindung oder
Laune äußert sich da nicht beyläufig, nicht kalt, wie
bey verschiedenen andern Gelegenheiten; sondern
gefällt sich selbst, und sezet in ihrer vollen Aeußerung
ihren Zwek. Denn eben deswegen bricht sie in Ge-
sang aus, damit sie sich selbst desto lebhafter und
voller genießen möge. So singet der Fröhliche, um
sein Vergnügen durch diesen Genuß zu verstärken,
und der Traurige klagt im Gesang, weil er an dieser
Traurigkeit Gefallen hat. Bey andern Gelegenhei-
ten können dieselben Empfindungen sich in andern
Absichten äußern, die mit dem Gesang keine Ver-
bindung haben. So läßt der Dichter in der Sa-
tyre und im Spottgedicht seine verdrießliche oder
lachende Laune aus, nicht um sich selbst dadurch zu
unterhalten; sondern andre damit zu strafen. Das
lyrische Gedicht hat, selbst da, wo es die Rede an
einen andern wendet, gar viel von der Natur des

empfin-
(*) Noct. L.
VII. c.
20.
(*) S.
Gesang.
[Spaltenumbruch]
Luͤk Lyd Lyr

Es iſt wahr, daß das oͤftere Zuſammenſtoßen
der Selbſtlauter die Rede ſchweer macht, zumal
wenn beyde lang ſind. Daß aber die Griechen nicht
ſo aͤngſtlich geweſen, ſie in ihren Verſen ganz zu
vermeiden, iſt aus tauſend Verſen offenbar. Auch
kann daran nicht gezweifelt werden, daß ſie ſolche
Luͤken bisweilen mit Fleiß geſucht haben, wie ſchon
A. Gellius angemerkt hat. (*) Er ſagt ausdruͤk-
lich, daß in der Stelle aus Virgils Gedichte vom
Landbau

Talem dives arat Capua et vlcina Veſevo
Ora jugo:

das Wort Ora auch deswegen beſſer ſtehe, als Nola,
welches der Dichter zuerſt ſoll geſezt haben, weil das
Zuſammenſtoßen des lezten Vocals im erſten Vers
und des erſten im zweyten, angenehm ſey. Nam
vocalis in priore verſu extrema eademque in ſe-
quenti prima canoro ſimul atque jucundo hiatu tra-
ctim ſonat.
Er fuͤhrt auch den bekannten Vers Ho-
mers: Λᾶαν ἀνω ὠθεσκε &c. an, um zu bewei-
ſen, daß ſolche hiatus nicht von ohngefehr, ſondern
aus Ueberlegung in die Verſe gekommen ſeyen.
Dieſes allein iſt hinlaͤnglich zu beweiſen, daß jene
Regel eben nicht aͤngſtlich duͤrfe beobachtet werden.

Und denn iſt es vielleicht noch wichtiger, das Zu-
ſammenſtoßen gewiſſer Mitlauter zu vermeiden, die
eine weit merklichere Luͤke geben. Ein N, das auf
ein M folget, kann nicht ohne Muͤhe ausgeſprochen
werden. Alſo begnuͤge man ſich dem Dichter uͤber-
haupt zu ſagen, er ſoll uͤberall ſo viel moͤglich auf
die Leichtigkeit der Ausſprach ſehen, ohne ihm zu
genaue Regeln vorzuſchreiben.

Lydiſche Tonart.
(Muſik.)

Eine der Haupttonarten in der griechiſchen Muſik,
die Plato aus ſeiner Republik verwieſen hat, weil ſie,
ungeachtet ihres lebhaften Charakters, doch etwas
weichliches hatte. Daß unſer heutiges F dur, wenn
dieſer Ton voͤllig nach der Art der Kirchentonarten
behandelt wird, wuͤrklich die lydiſche Tonart der Alten
ſey, wie die Tradition anzuzeigen ſcheinet, laͤßt ſich
vermuthen, weil er wuͤrklich dieſen Charakter hat.

Lyriſch.
(Dichtkunſt.)

Die lyriſchen Gedichte haben dieſe Benennung von
der Lyra, oder Leyer unter deren begleitenden Klang
[Spaltenumbruch]

Lyr
ſie bey den aͤlteſten Griechen abgeſungen wurden;
wiewol doch auch zu einigen Arten die Floͤte ge-
braucht worden. Der allgemeine Charakter dieſer
Gattung wird alſo daher zu beſtimmen ſeyn, daß je-
des lyriſche Gedicht zum Singen beſtimmt iſt. Es
kann wol ſeyn, daß in den aͤlteſten Zeiten auch die
Epopoͤe von Muſik begleitet worden, ſo wie wir es
auch mit Gewißheit von der Tragoͤdie behaupten
koͤnnen. Deſſen ungeachtet iſt der Charakter des
eigentlichen Geſanges vorzuͤglich auf die lyriſche
Gattung anzuwenden, da die epiſchen und tragiſchen
Gedichte mehr in dem Charakter des Recitatives,
als des Geſanges gearbeitet ſind.

Um alſo dieſen allgemeinen Charakter des lyri-
ſchen zu entdeken, duͤrfen wir nur auf den Urſprung
und die Natur des Geſanges zuruͤk ſehen. (*) Er
entſteht allemal aus der Fuͤlle der Empfindung,
und erfodert eine abwechſelnde rhythmiſche Bewe-
gung, die der Natur der beſondern Empfindung, die
ihn veranlaſſet, angemeſſen ſey. Niemand erzaͤhlt,
oder lehret ſingend, wo nicht etwa die Aeuſſerung
einer Leidenſchaft zufaͤlliger Weiſe in dieſe Gattung
faͤllt. Lyriſche Gedichte werden deswegen allemal
von einer leidenſchaftlichen Laune hervorgebracht;
wenigſtens iſt ſie darin herrſchend, der Verſtand,
oder die Vorſtellungskraft aber ſind da nur zufaͤllig.

Alſo iſt der Jnhalt des lyriſchen Gedichts immer
die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung
einer froͤhlichen, oder zaͤrtlichen, oder andaͤchtigen,
oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemeſſe-
nen Gegenſtand. Aber dieſe Empfindung oder
Laune aͤußert ſich da nicht beylaͤufig, nicht kalt, wie
bey verſchiedenen andern Gelegenheiten; ſondern
gefaͤllt ſich ſelbſt, und ſezet in ihrer vollen Aeußerung
ihren Zwek. Denn eben deswegen bricht ſie in Ge-
ſang aus, damit ſie ſich ſelbſt deſto lebhafter und
voller genießen moͤge. So ſinget der Froͤhliche, um
ſein Vergnuͤgen durch dieſen Genuß zu verſtaͤrken,
und der Traurige klagt im Geſang, weil er an dieſer
Traurigkeit Gefallen hat. Bey andern Gelegenhei-
ten koͤnnen dieſelben Empfindungen ſich in andern
Abſichten aͤußern, die mit dem Geſang keine Ver-
bindung haben. So laͤßt der Dichter in der Sa-
tyre und im Spottgedicht ſeine verdrießliche oder
lachende Laune aus, nicht um ſich ſelbſt dadurch zu
unterhalten; ſondern andre damit zu ſtrafen. Das
lyriſche Gedicht hat, ſelbſt da, wo es die Rede an
einen andern wendet, gar viel von der Natur des

empfin-
(*) Noct. L.
VII. c.
20.
(*) S.
Geſang.
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[726[708]/0143] Luͤk Lyd Lyr Lyr Es iſt wahr, daß das oͤftere Zuſammenſtoßen der Selbſtlauter die Rede ſchweer macht, zumal wenn beyde lang ſind. Daß aber die Griechen nicht ſo aͤngſtlich geweſen, ſie in ihren Verſen ganz zu vermeiden, iſt aus tauſend Verſen offenbar. Auch kann daran nicht gezweifelt werden, daß ſie ſolche Luͤken bisweilen mit Fleiß geſucht haben, wie ſchon A. Gellius angemerkt hat. (*) Er ſagt ausdruͤk- lich, daß in der Stelle aus Virgils Gedichte vom Landbau Talem dives arat Capua et vlcina Veſevo Ora jugo: das Wort Ora auch deswegen beſſer ſtehe, als Nola, welches der Dichter zuerſt ſoll geſezt haben, weil das Zuſammenſtoßen des lezten Vocals im erſten Vers und des erſten im zweyten, angenehm ſey. Nam vocalis in priore verſu extrema eademque in ſe- quenti prima canoro ſimul atque jucundo hiatu tra- ctim ſonat. Er fuͤhrt auch den bekannten Vers Ho- mers: Λᾶαν ἀνω ὠθεσκε &c. an, um zu bewei- ſen, daß ſolche hiatus nicht von ohngefehr, ſondern aus Ueberlegung in die Verſe gekommen ſeyen. Dieſes allein iſt hinlaͤnglich zu beweiſen, daß jene Regel eben nicht aͤngſtlich duͤrfe beobachtet werden. Und denn iſt es vielleicht noch wichtiger, das Zu- ſammenſtoßen gewiſſer Mitlauter zu vermeiden, die eine weit merklichere Luͤke geben. Ein N, das auf ein M folget, kann nicht ohne Muͤhe ausgeſprochen werden. Alſo begnuͤge man ſich dem Dichter uͤber- haupt zu ſagen, er ſoll uͤberall ſo viel moͤglich auf die Leichtigkeit der Ausſprach ſehen, ohne ihm zu genaue Regeln vorzuſchreiben. Lydiſche Tonart. (Muſik.) Eine der Haupttonarten in der griechiſchen Muſik, die Plato aus ſeiner Republik verwieſen hat, weil ſie, ungeachtet ihres lebhaften Charakters, doch etwas weichliches hatte. Daß unſer heutiges F dur, wenn dieſer Ton voͤllig nach der Art der Kirchentonarten behandelt wird, wuͤrklich die lydiſche Tonart der Alten ſey, wie die Tradition anzuzeigen ſcheinet, laͤßt ſich vermuthen, weil er wuͤrklich dieſen Charakter hat. Lyriſch. (Dichtkunſt.) Die lyriſchen Gedichte haben dieſe Benennung von der Lyra, oder Leyer unter deren begleitenden Klang ſie bey den aͤlteſten Griechen abgeſungen wurden; wiewol doch auch zu einigen Arten die Floͤte ge- braucht worden. Der allgemeine Charakter dieſer Gattung wird alſo daher zu beſtimmen ſeyn, daß je- des lyriſche Gedicht zum Singen beſtimmt iſt. Es kann wol ſeyn, daß in den aͤlteſten Zeiten auch die Epopoͤe von Muſik begleitet worden, ſo wie wir es auch mit Gewißheit von der Tragoͤdie behaupten koͤnnen. Deſſen ungeachtet iſt der Charakter des eigentlichen Geſanges vorzuͤglich auf die lyriſche Gattung anzuwenden, da die epiſchen und tragiſchen Gedichte mehr in dem Charakter des Recitatives, als des Geſanges gearbeitet ſind. Um alſo dieſen allgemeinen Charakter des lyri- ſchen zu entdeken, duͤrfen wir nur auf den Urſprung und die Natur des Geſanges zuruͤk ſehen. (*) Er entſteht allemal aus der Fuͤlle der Empfindung, und erfodert eine abwechſelnde rhythmiſche Bewe- gung, die der Natur der beſondern Empfindung, die ihn veranlaſſet, angemeſſen ſey. Niemand erzaͤhlt, oder lehret ſingend, wo nicht etwa die Aeuſſerung einer Leidenſchaft zufaͤlliger Weiſe in dieſe Gattung faͤllt. Lyriſche Gedichte werden deswegen allemal von einer leidenſchaftlichen Laune hervorgebracht; wenigſtens iſt ſie darin herrſchend, der Verſtand, oder die Vorſtellungskraft aber ſind da nur zufaͤllig. Alſo iſt der Jnhalt des lyriſchen Gedichts immer die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung einer froͤhlichen, oder zaͤrtlichen, oder andaͤchtigen, oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemeſſe- nen Gegenſtand. Aber dieſe Empfindung oder Laune aͤußert ſich da nicht beylaͤufig, nicht kalt, wie bey verſchiedenen andern Gelegenheiten; ſondern gefaͤllt ſich ſelbſt, und ſezet in ihrer vollen Aeußerung ihren Zwek. Denn eben deswegen bricht ſie in Ge- ſang aus, damit ſie ſich ſelbſt deſto lebhafter und voller genießen moͤge. So ſinget der Froͤhliche, um ſein Vergnuͤgen durch dieſen Genuß zu verſtaͤrken, und der Traurige klagt im Geſang, weil er an dieſer Traurigkeit Gefallen hat. Bey andern Gelegenhei- ten koͤnnen dieſelben Empfindungen ſich in andern Abſichten aͤußern, die mit dem Geſang keine Ver- bindung haben. So laͤßt der Dichter in der Sa- tyre und im Spottgedicht ſeine verdrießliche oder lachende Laune aus, nicht um ſich ſelbſt dadurch zu unterhalten; ſondern andre damit zu ſtrafen. Das lyriſche Gedicht hat, ſelbſt da, wo es die Rede an einen andern wendet, gar viel von der Natur des empfin- (*) Noct. L. VII. c. 20. (*) S. Geſang.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 726[708]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/143>, abgerufen am 23.11.2024.