werde, derselben nachzuhangen. Jn der Auflösung dieser Frage besteht die ganze Theorie der Kunst, deren verschiedene Arbeiten hier nicht umständlich zu beschreiben sind, aber vollständig anzuzeigen wä- ren, wenn unsre Kenntnis so weit reichte. Diese Mittel sind:
1. Der Gesang, oder die Folge einzeler Töne, in so fern sie nach der besondern Natur der Empfin- dung langsamer oder geschwinder fortfließen, ge- schleift oder gestoßen, tief aus der Brust, oder blos aus der Kehle kommen, in grössern oder kleinern Jntervallen von einander getrennt, stärker oder schwächer, höher oder tiefer, mit mehr oder weniger Einförmigkeit des Ganges vorgetragen werden. Eine kurze Folge solcher Töne, wie z. E. diese:
[Abbildung]
wird ein melodischer Saz; ein Gedanken in der Musik genennt. Jederman empfindet, daß eine un- endliche Menge solcher Säze ausgedacht werden kön- nen, deren jeder den Charakter einer gewissen Em- pfindung, oder einer besondern Schattirung dersel- ben habe. Aus verschiedenen Säzen, deren jeder das Gepräge der Empfindung hat, besteht der Ge- sang. Es läßt sich leicht begreifen, wie ein solcher Saz ein sanftes Vergnügen, oder muntere Fröhlich- keit, oder hüpfende Freude; wie er rührende Zärt- lichkeit, finstere Traurigkeit, heftigen Schmerz, to- benden Zorn u. d. gl. ausdrüken könne. Dadurch also kann die Sprache der Leidenschaften in unarti- kulirten Tönen nachgeahmt werden. Jn jeder Art können die Töne durch eine, oder mehrere Stim- men angegeben werden, wodurch die daher zu erwe- kende Empfindung auch mehr oder weniger stark an- greift, das Gemüth beruhiget oder erschüttert. (*) Schon darin liegt ungemeine Kraft auf die Gemü- ther zu würken. Also sind dergleichen melodische Gedanken, mit einem leidenschaftlichen Ton vor- getragen, das erste Mittel.
2. Die Tonart, in welcher ein Gedanken vor- getragen wird. Die Empfindungen des Herzens haben einen sehr starken Einfluß auf die Werk- zeuge der Stimme; nicht nur wird dadurch die Kehle mehr oder weniger geöfuet, sondern sie be- kommt auch eine mehr oder weniger wolklingende oder harmonirende Stimmung. Dieses empfindet [Spaltenumbruch]
Mus
jeder Mensch, der andre in Affekt gesezte Menschen reden höret. Wenn also unter den mannigfaltigen Tonleitern, deren jede ihren besondern Charakter hat, (*) diejenige allemal ausgesucht wird, deren Stimmung mit dem Gepräge jener einzeln Gedan- ken übereinkommt, so wird dadurch der wahre Aus- druk der Empfindung noch mehr verstärkt. Also sind Tonarten und Modulationen, durch welche selbst einerley Gedanken verschiedene Schattirungen der Empfindung bekommen, das zweyte Mittel, wodurch der Sezer seinen Zwek erreicht. (*)
3. Das Metrische und Rhythmische der Bewe- gung in dem Gesange, wodurch Einförmigkeit und Mannigfaltigkeit erhalten wird. Der Gesang be- kommt dadurch Schönheit, oder das unterhaltende Wesen, wodurch das Gehör gereizt wird, auf die Folge desselben fortdaurende Aufmerksamkeit zu ha- ben. (*) Aber auch zum Ausdruk der Empfindung hat der Rhythmus eine große Kraft, wie au seinem Orte gezeiget wird. (**)
4. Die Harmonie, nämlich die, welche dem Ge- sang zur Unterstüzung und Begleitung dienet. Schon hierin allein liegt ungemein viel Kraft zum Ausdruk. Es giebt beruhigende Harmonien, an- dere werden durch recht schneidende Dissonanzen, be- sonders, wenn sie auf den kräftigsten Takttheilen mit vollem Nachdruk angegeben, und eine Zeitlang in der Auflösung aufgehalten werden, höchst beunru- higend. Dadurch kann schon durch die bloße Harmo- nie Ruh oder Unruh, Schreken und Angst, oder Fröhlichkeit erwekt werden.
Werden alle diese Mittel in jedem besondern Falle zu dem einzigen Zwek auf eine geschikte Weise ver- einiget, so bekommt das Tonstük eine Kraft, die bis in das innerste gefühlvoller Seelen eindringet, und jede Empfindung darin auf das Lebhafteste erweket. Wie groß die Kraft der durch die angezeigten Mit- tel, in ein wolgeordnetes und richtig charakte- rirtes Ganze verbundenen Töne sey, kann jeder, der einige Empfindung hat, schon aus der Würkung abnehmen, welche die verschiedenen Tanzmelodien, wenn sie recht gut in ihrem besondern Charakter ge- sezt sind, thun. Es ist nicht möglich sie anzuhören, ohne ganz von dem Geiste der darin liegt, beherrscht zu werden: man wird wieder Willen gezwungen, das, was man dabey fühlt, durch Gebehrden und Be- wegung des Körpers auszudrüken. Man weiß aus der Erfahrung, daß kein Tanz ohne Musik dauren
werde, derſelben nachzuhangen. Jn der Aufloͤſung dieſer Frage beſteht die ganze Theorie der Kunſt, deren verſchiedene Arbeiten hier nicht umſtaͤndlich zu beſchreiben ſind, aber vollſtaͤndig anzuzeigen waͤ- ren, wenn unſre Kenntnis ſo weit reichte. Dieſe Mittel ſind:
1. Der Geſang, oder die Folge einzeler Toͤne, in ſo fern ſie nach der beſondern Natur der Empfin- dung langſamer oder geſchwinder fortfließen, ge- ſchleift oder geſtoßen, tief aus der Bruſt, oder blos aus der Kehle kommen, in groͤſſern oder kleinern Jntervallen von einander getrennt, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, hoͤher oder tiefer, mit mehr oder weniger Einfoͤrmigkeit des Ganges vorgetragen werden. Eine kurze Folge ſolcher Toͤne, wie z. E. dieſe:
[Abbildung]
wird ein melodiſcher Saz; ein Gedanken in der Muſik genennt. Jederman empfindet, daß eine un- endliche Menge ſolcher Saͤze ausgedacht werden koͤn- nen, deren jeder den Charakter einer gewiſſen Em- pfindung, oder einer beſondern Schattirung derſel- ben habe. Aus verſchiedenen Saͤzen, deren jeder das Gepraͤge der Empfindung hat, beſteht der Ge- ſang. Es laͤßt ſich leicht begreifen, wie ein ſolcher Saz ein ſanftes Vergnuͤgen, oder muntere Froͤhlich- keit, oder huͤpfende Freude; wie er ruͤhrende Zaͤrt- lichkeit, finſtere Traurigkeit, heftigen Schmerz, to- benden Zorn u. d. gl. ausdruͤken koͤnne. Dadurch alſo kann die Sprache der Leidenſchaften in unarti- kulirten Toͤnen nachgeahmt werden. Jn jeder Art koͤnnen die Toͤne durch eine, oder mehrere Stim- men angegeben werden, wodurch die daher zu erwe- kende Empfindung auch mehr oder weniger ſtark an- greift, das Gemuͤth beruhiget oder erſchuͤttert. (*) Schon darin liegt ungemeine Kraft auf die Gemuͤ- ther zu wuͤrken. Alſo ſind dergleichen melodiſche Gedanken, mit einem leidenſchaftlichen Ton vor- getragen, das erſte Mittel.
2. Die Tonart, in welcher ein Gedanken vor- getragen wird. Die Empfindungen des Herzens haben einen ſehr ſtarken Einfluß auf die Werk- zeuge der Stimme; nicht nur wird dadurch die Kehle mehr oder weniger geoͤfuet, ſondern ſie be- kommt auch eine mehr oder weniger wolklingende oder harmonirende Stimmung. Dieſes empfindet [Spaltenumbruch]
Muſ
jeder Menſch, der andre in Affekt geſezte Menſchen reden hoͤret. Wenn alſo unter den mannigfaltigen Tonleitern, deren jede ihren beſondern Charakter hat, (*) diejenige allemal ausgeſucht wird, deren Stimmung mit dem Gepraͤge jener einzeln Gedan- ken uͤbereinkommt, ſo wird dadurch der wahre Aus- druk der Empfindung noch mehr verſtaͤrkt. Alſo ſind Tonarten und Modulationen, durch welche ſelbſt einerley Gedanken verſchiedene Schattirungen der Empfindung bekommen, das zweyte Mittel, wodurch der Sezer ſeinen Zwek erreicht. (*)
3. Das Metriſche und Rhythmiſche der Bewe- gung in dem Geſange, wodurch Einfoͤrmigkeit und Mannigfaltigkeit erhalten wird. Der Geſang be- kommt dadurch Schoͤnheit, oder das unterhaltende Weſen, wodurch das Gehoͤr gereizt wird, auf die Folge deſſelben fortdaurende Aufmerkſamkeit zu ha- ben. (*) Aber auch zum Ausdruk der Empfindung hat der Rhythmus eine große Kraft, wie au ſeinem Orte gezeiget wird. (**)
4. Die Harmonie, naͤmlich die, welche dem Ge- ſang zur Unterſtuͤzung und Begleitung dienet. Schon hierin allein liegt ungemein viel Kraft zum Ausdruk. Es giebt beruhigende Harmonien, an- dere werden durch recht ſchneidende Diſſonanzen, be- ſonders, wenn ſie auf den kraͤftigſten Takttheilen mit vollem Nachdruk angegeben, und eine Zeitlang in der Aufloͤſung aufgehalten werden, hoͤchſt beunru- higend. Dadurch kann ſchon durch die bloße Harmo- nie Ruh oder Unruh, Schreken und Angſt, oder Froͤhlichkeit erwekt werden.
Werden alle dieſe Mittel in jedem beſondern Falle zu dem einzigen Zwek auf eine geſchikte Weiſe ver- einiget, ſo bekommt das Tonſtuͤk eine Kraft, die bis in das innerſte gefuͤhlvoller Seelen eindringet, und jede Empfindung darin auf das Lebhafteſte erweket. Wie groß die Kraft der durch die angezeigten Mit- tel, in ein wolgeordnetes und richtig charakte- rirtes Ganze verbundenen Toͤne ſey, kann jeder, der einige Empfindung hat, ſchon aus der Wuͤrkung abnehmen, welche die verſchiedenen Tanzmelodien, wenn ſie recht gut in ihrem beſondern Charakter ge- ſezt ſind, thun. Es iſt nicht moͤglich ſie anzuhoͤren, ohne ganz von dem Geiſte der darin liegt, beherrſcht zu werden: man wird wieder Willen gezwungen, das, was man dabey fuͤhlt, durch Gebehrden und Be- wegung des Koͤrpers auszudruͤken. Man weiß aus der Erfahrung, daß kein Tanz ohne Muſik dauren
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[784[766]/0201]
Muſ
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werde, derſelben nachzuhangen. Jn der Aufloͤſung
dieſer Frage beſteht die ganze Theorie der Kunſt,
deren verſchiedene Arbeiten hier nicht umſtaͤndlich
zu beſchreiben ſind, aber vollſtaͤndig anzuzeigen waͤ-
ren, wenn unſre Kenntnis ſo weit reichte. Dieſe
Mittel ſind:
1. Der Geſang, oder die Folge einzeler Toͤne, in
ſo fern ſie nach der beſondern Natur der Empfin-
dung langſamer oder geſchwinder fortfließen, ge-
ſchleift oder geſtoßen, tief aus der Bruſt, oder blos
aus der Kehle kommen, in groͤſſern oder kleinern
Jntervallen von einander getrennt, ſtaͤrker oder
ſchwaͤcher, hoͤher oder tiefer, mit mehr oder weniger
Einfoͤrmigkeit des Ganges vorgetragen werden.
Eine kurze Folge ſolcher Toͤne, wie z. E. dieſe:
[Abbildung]
wird ein melodiſcher Saz; ein Gedanken in der
Muſik genennt. Jederman empfindet, daß eine un-
endliche Menge ſolcher Saͤze ausgedacht werden koͤn-
nen, deren jeder den Charakter einer gewiſſen Em-
pfindung, oder einer beſondern Schattirung derſel-
ben habe. Aus verſchiedenen Saͤzen, deren jeder
das Gepraͤge der Empfindung hat, beſteht der Ge-
ſang. Es laͤßt ſich leicht begreifen, wie ein ſolcher
Saz ein ſanftes Vergnuͤgen, oder muntere Froͤhlich-
keit, oder huͤpfende Freude; wie er ruͤhrende Zaͤrt-
lichkeit, finſtere Traurigkeit, heftigen Schmerz, to-
benden Zorn u. d. gl. ausdruͤken koͤnne. Dadurch
alſo kann die Sprache der Leidenſchaften in unarti-
kulirten Toͤnen nachgeahmt werden. Jn jeder Art
koͤnnen die Toͤne durch eine, oder mehrere Stim-
men angegeben werden, wodurch die daher zu erwe-
kende Empfindung auch mehr oder weniger ſtark an-
greift, das Gemuͤth beruhiget oder erſchuͤttert. (*)
Schon darin liegt ungemeine Kraft auf die Gemuͤ-
ther zu wuͤrken. Alſo ſind dergleichen melodiſche
Gedanken, mit einem leidenſchaftlichen Ton vor-
getragen, das erſte Mittel.
2. Die Tonart, in welcher ein Gedanken vor-
getragen wird. Die Empfindungen des Herzens
haben einen ſehr ſtarken Einfluß auf die Werk-
zeuge der Stimme; nicht nur wird dadurch die
Kehle mehr oder weniger geoͤfuet, ſondern ſie be-
kommt auch eine mehr oder weniger wolklingende
oder harmonirende Stimmung. Dieſes empfindet
jeder Menſch, der andre in Affekt geſezte Menſchen
reden hoͤret. Wenn alſo unter den mannigfaltigen
Tonleitern, deren jede ihren beſondern Charakter
hat, (*) diejenige allemal ausgeſucht wird, deren
Stimmung mit dem Gepraͤge jener einzeln Gedan-
ken uͤbereinkommt, ſo wird dadurch der wahre Aus-
druk der Empfindung noch mehr verſtaͤrkt. Alſo
ſind Tonarten und Modulationen, durch welche ſelbſt
einerley Gedanken verſchiedene Schattirungen der
Empfindung bekommen, das zweyte Mittel, wodurch
der Sezer ſeinen Zwek erreicht. (*)
3. Das Metriſche und Rhythmiſche der Bewe-
gung in dem Geſange, wodurch Einfoͤrmigkeit und
Mannigfaltigkeit erhalten wird. Der Geſang be-
kommt dadurch Schoͤnheit, oder das unterhaltende
Weſen, wodurch das Gehoͤr gereizt wird, auf die
Folge deſſelben fortdaurende Aufmerkſamkeit zu ha-
ben. (*) Aber auch zum Ausdruk der Empfindung
hat der Rhythmus eine große Kraft, wie au ſeinem
Orte gezeiget wird. (**)
4. Die Harmonie, naͤmlich die, welche dem Ge-
ſang zur Unterſtuͤzung und Begleitung dienet.
Schon hierin allein liegt ungemein viel Kraft zum
Ausdruk. Es giebt beruhigende Harmonien, an-
dere werden durch recht ſchneidende Diſſonanzen, be-
ſonders, wenn ſie auf den kraͤftigſten Takttheilen
mit vollem Nachdruk angegeben, und eine Zeitlang
in der Aufloͤſung aufgehalten werden, hoͤchſt beunru-
higend. Dadurch kann ſchon durch die bloße Harmo-
nie Ruh oder Unruh, Schreken und Angſt, oder
Froͤhlichkeit erwekt werden.
Werden alle dieſe Mittel in jedem beſondern Falle
zu dem einzigen Zwek auf eine geſchikte Weiſe ver-
einiget, ſo bekommt das Tonſtuͤk eine Kraft, die bis
in das innerſte gefuͤhlvoller Seelen eindringet, und
jede Empfindung darin auf das Lebhafteſte erweket.
Wie groß die Kraft der durch die angezeigten Mit-
tel, in ein wolgeordnetes und richtig charakte-
rirtes Ganze verbundenen Toͤne ſey, kann jeder,
der einige Empfindung hat, ſchon aus der Wuͤrkung
abnehmen, welche die verſchiedenen Tanzmelodien,
wenn ſie recht gut in ihrem beſondern Charakter ge-
ſezt ſind, thun. Es iſt nicht moͤglich ſie anzuhoͤren,
ohne ganz von dem Geiſte der darin liegt, beherrſcht
zu werden: man wird wieder Willen gezwungen, das,
was man dabey fuͤhlt, durch Gebehrden und Be-
wegung des Koͤrpers auszudruͤken. Man weiß aus
der Erfahrung, daß kein Tanz ohne Muſik dauren
kann;
(*) S.
Staͤrke.
(*) S.
Tonarten.
(*) S.
Tonart.
Modula-
tion.
(*) S.
Einfoͤrmig-
keit, Man-
nigfaltig-
keit; Eben-
maaß Me-
triſch.
(**) S.
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mus.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 784[766]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/201>, abgerufen am 21.11.2024.
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