Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Mus Schmerzens, des Zorns, der Verzweiflung selbstzu hören; ich dachte jammernde Mütter, betrogene Verliebte, rasende Tyrannen zu hören, und hatte Mühe bey der großen Erschütterung, die ich fühlte, auf meiner Stelle zu bleiben. -- Nein ein solcher Eindruk ist niemals halb; man fühlet ihn entweder gar nicht, oder man wird außer sich gerissen; man bleibet entweder ohne alle Empfindung, oder man empfindet unmäßig; entweder höret man ein blos unverständliches Geräusch, oder man empfindet einen Sturm von Leidenschaft, der uns fortreißt, und dem die Seele zu wiederstehen unvermögend ist." (*) Diejenigen, die an den Erzehlungen, von den Mus und Ueberlegung dem zuzuhören, der ihm von Sit-ten, von Religion, von gesellschaftlichen Einrichtun- gen sprechen wollte, hat es nicht. Also kann man es durch Versprechung grössern Ueberflußes, nicht reizen. Poesie und Beredsamkeit vermögen nichts auf dasselbe; auch nicht die Mahlerey, an der es höchstens schöne Farben betrachten würde, die nichts sagen: aber Musik dringet ein, weil sie die Nerven angreift, und sie spricht, weil sie bestimmte Empfin- dungen erweken kann. Darum sind jene Erzählun- gen völlig in der Wahrheit der Natur, wenn sie auch historisch falsch seyn sollten. Bey diesem augenscheinlichen Vorzug der Musik Aus allen diesen Anmerkungen folget, daß diese Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Musik die men (++) Man sehe hierüber die besondern Beobachtungen, [Spaltenumbruch] die Rousseau in seinem Dictionaire de Musique im Art. Musik gesammelt hat. (+) Rousseau dans la Julie. T. I. p. 48. E e e e e 2
[Spaltenumbruch] Muſ Schmerzens, des Zorns, der Verzweiflung ſelbſtzu hoͤren; ich dachte jammernde Muͤtter, betrogene Verliebte, raſende Tyrannen zu hoͤren, und hatte Muͤhe bey der großen Erſchuͤtterung, die ich fuͤhlte, auf meiner Stelle zu bleiben. — Nein ein ſolcher Eindruk iſt niemals halb; man fuͤhlet ihn entweder gar nicht, oder man wird außer ſich geriſſen; man bleibet entweder ohne alle Empfindung, oder man empfindet unmaͤßig; entweder hoͤret man ein blos unverſtaͤndliches Geraͤuſch, oder man empfindet einen Sturm von Leidenſchaft, der uns fortreißt, und dem die Seele zu wiederſtehen unvermoͤgend iſt.“ (*) Diejenigen, die an den Erzehlungen, von den Muſ und Ueberlegung dem zuzuhoͤren, der ihm von Sit-ten, von Religion, von geſellſchaftlichen Einrichtun- gen ſprechen wollte, hat es nicht. Alſo kann man es durch Verſprechung groͤſſern Ueberflußes, nicht reizen. Poeſie und Beredſamkeit vermoͤgen nichts auf daſſelbe; auch nicht die Mahlerey, an der es hoͤchſtens ſchoͤne Farben betrachten wuͤrde, die nichts ſagen: aber Muſik dringet ein, weil ſie die Nerven angreift, und ſie ſpricht, weil ſie beſtimmte Empfin- dungen erweken kann. Darum ſind jene Erzaͤhlun- gen voͤllig in der Wahrheit der Natur, wenn ſie auch hiſtoriſch falſch ſeyn ſollten. Bey dieſem augenſcheinlichen Vorzug der Muſik Aus allen dieſen Anmerkungen folget, daß dieſe Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die Muſik die men (††) Man ſehe hieruͤber die beſondern Beobachtungen, [Spaltenumbruch] die Rouſſeau in ſeinem Dictionaire de Muſique im Art. Muſik geſammelt hat. (†) Rouſſeau dans la Julie. T. I. p. 48. E e e e e 2
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Muſ
Muſ
Schmerzens, des Zorns, der Verzweiflung ſelbſt
zu hoͤren; ich dachte jammernde Muͤtter, betrogene
Verliebte, raſende Tyrannen zu hoͤren, und hatte
Muͤhe bey der großen Erſchuͤtterung, die ich fuͤhlte,
auf meiner Stelle zu bleiben. — Nein ein ſolcher
Eindruk iſt niemals halb; man fuͤhlet ihn entweder
gar nicht, oder man wird außer ſich geriſſen; man
bleibet entweder ohne alle Empfindung, oder man
empfindet unmaͤßig; entweder hoͤret man ein blos
unverſtaͤndliches Geraͤuſch, oder man empfindet einen
Sturm von Leidenſchaft, der uns fortreißt, und dem
die Seele zu wiederſtehen unvermoͤgend iſt.“ (*)
Diejenigen, die an den Erzehlungen, von den
wunderbaren Wuͤrkungen der Muſik, die wir bey
den alten Schriftſtellern antreffen, zweifeln, haben
entweder nie eine vollkommene Muſik gehoͤrt, oder
es fehlet ihnen an Empfindung Man weiß, daß
die Lebhaftigkeit der Empfindungen von dem Spiehl
der Nerven, und dem ſchnellen Laufe des Gebluͤthes
herkommet: daß die Muſik wuͤrklich auf beyde wuͤrke,
kann gar nicht gelaͤugnet werden. Da ſie mit einer
Bewegung der Luft verbunden iſt, welche die hoͤchſt
reizbaren Nerven des Gehoͤrs angreift, ſo wuͤrket
ſie auch auf den Koͤrper, und wie ſollte ſie dieſes
nicht thun, da ſie ſelbſt die unbelebte Materie, nicht
blos duͤnne Fenſter, ſondern ſo gar feſte Mauren
erſchuͤttert? (††) Warum ſollte man alſo daran zwei-
feln, daß ſie auf empfindliche Nerven eine Wuͤr-
kung mache, die keine andere Kunſt zu thun ver-
mag, oder daß ſie vermittelſt der Nerven eine zer-
ruͤttete ſiebriſche Bewegung des Gebluͤthes, in Ord-
nung bringen koͤnne, und, wie wir in den Schriften
der Pariſtſchen Academie der Wiſſenſchaften finden,
einen Tonkuͤnſtler, von dem Fieber ſelbſt befreyt habe?
Wer Erzaͤhlungen von auſſerordentlichen Wuͤrkun-
gen der Muſik zu leſen verlanget, findet davon eine
Sammlung in des Bartolini Werke von den Floͤten
der Alten. Es iſt gewiß nicht alles Fabel, was die
griechiſche Tradition von Orpheus ſagt, der die
Griechen durch Muſik aus ihrer Wildheit ſoll geriſſen
haben. Was fuͤr ein ander Mittel koͤnnte man brau-
chen, ein wildes Volk zu einiger Aufmerkſamkeit,
und zur Empfindung zu bringen. Alles, was zur
Befriedigung der koͤrperlichen Beduͤrfniſſe gehoͤrt,
hat ein ſolches Volk gemeiniglich; Vernunft aber
und Ueberlegung dem zuzuhoͤren, der ihm von Sit-
ten, von Religion, von geſellſchaftlichen Einrichtun-
gen ſprechen wollte, hat es nicht. Alſo kann man
es durch Verſprechung groͤſſern Ueberflußes, nicht
reizen. Poeſie und Beredſamkeit vermoͤgen nichts
auf daſſelbe; auch nicht die Mahlerey, an der es
hoͤchſtens ſchoͤne Farben betrachten wuͤrde, die nichts
ſagen: aber Muſik dringet ein, weil ſie die Nerven
angreift, und ſie ſpricht, weil ſie beſtimmte Empfin-
dungen erweken kann. Darum ſind jene Erzaͤhlun-
gen voͤllig in der Wahrheit der Natur, wenn ſie auch
hiſtoriſch falſch ſeyn ſollten.
Bey dieſem augenſcheinlichen Vorzug der Muſik
uͤber andere Kuͤnſte, muß doch nicht unerinnert ge-
laſſen werden, daß ihre Wuͤrkung mehr voruͤberge-
hend ſcheinet, als die Wuͤrkung andrer Kuͤnſte.
Das was man geſehen, oder vermittelſt der Rede
vernommen hat, es ſey, daß man es geleſen, oder
gehoͤrt habe, laͤßt ſich eher wieder ins Gedaͤchtnis
zuruͤkrufen, als bloße Toͤne. Darum koͤnnen die
Eindruͤke der Mahlerey und Poeſie wiederholt wer-
den, wenn man die Werke ſelbſt nicht hat. Alſo
muͤſſen die Werke der Muſik, die daurende Eindruͤke
machen ſollen, ofte wiederholt werden. Hingegen,
wo es um ploͤzliche Wuͤrkung zu thun iſt, die nicht
fortdaurend ſeyn daͤrf, da erreicht die Muſik den
Zwek beſſer, als alle Mittel die man ſonſt anwen-
den koͤnnte.
Aus allen dieſen Anmerkungen folget, daß dieſe
goͤttliche Kunſt von der Politik zu Ausfuͤhrung der
wichtigſten Geſchaͤfte, koͤnnte zu Huͤlfe gerufen wer-
den. Was fuͤr ein unbegreiflicher Frevel, daß
ſie blos, als ein Zeitvertreib muͤßiger Menſchen an-
geſehen wird! Braucht man mehr als dieſes, um zu
beweiſen, daß ein Zeitalter reich an Wiſſenſchaft
und mechaniſchen Kuͤnſten, oder an Werken des Wi-
zes, und ſehr arm an geſunder Vernunft ſeyn koͤnne?
Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die Muſik die
aͤlteſte aller ſchoͤnen Kuͤnſte ſey: ſie iſt mehr, als ir-
gend eine andere, ein unmittelbares Werk der Natur.
Darum treffen wir ſie auch bey allen Voͤlkern, und bey
ſolchen, die ſonſt von keiner andern Kunſt etwas wiſſen,
an. Es waͤr alſo ein einfaͤltiges Unternehmen, in
der Geſchicht oder in dem Nebel der Fabeln ihre Er-
findung aufzuſuchen. Jedes Volk kann ſich ruͤh-
E (†)
men
(††) Man ſehe hieruͤber die beſondern Beobachtungen,
die Rouſſeau in ſeinem Dictionaire de Muſique im Art.
Muſik geſammelt hat.
(†) Rouſſeau dans la Julie. T. I. p. 48.
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