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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Nach
sonst gutes und schikliches Werk verderben und lä-
cherlich machen.

Die dritte Art der Nachahmung ist die freye und
verständige, die schon vorhandene Werke zu einem
in einzelen Umständen näher oder anders bestimmten
Zwek einrichtet. Ein solches Werk ist zwar nicht
in seiner Anlage aber in der Ausführung, und in
vielen Theilen ein wahres Original Werk, und lei-
stet in allen Stüken der Absicht Genüge. So ha-
ben Plautus und Terenz griechische Comödien nach-
geahmet.

Nach diesen allgemeinen Anmerkungen über die
Natur der Nachahmungen, müssen wir sie beson-
ders in der Anwendung auf die schönen Künste be-
trachten. Nach dem Urtheil einiger Kunstrichter
ist in diesen Künsten alles Nachahmung; sie sind
aus Nachahmung entstanden, und ihr Wesen besteht
in Nachahmung der Natur, ihre Werke aber ge-
fallen blos deswegen, weil die Nachahmung glük-
lich gerathen ist, und weil wir ein Wolgefallen an
der Achnlichkeit haben, die wir zwischen dem Ori-
ginal und der Nachahmung entdeken. Jn diesem
Urtheil ist etwas wahres, aber noch mehr falsches.

Die zeichnenden Künste scheinen die einzigen zu
seyn, die aus Nachahmung der Natur entstanden
sind. Aber Beredsamkeit, Dichtkunst, Musik und
Tanz sind offenbar aus der Fülle lebhafter Empfin-
dungen entstanden, und der Begierde sie zu äußern,
sich selbst und andere darin zu unterhalten. Die
ersten Dichter, Sänger und Tänzer haben unstreitig
würkliche, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte
Empfindungen ausgedrükt. Und wir haben die un-
sterblichen Werke des Demosthenes, oder Ciceros
keiner Nachahmung der Natur, sondern der hefti-
gen Begierde Freyheit und Recht zu vertheidigen,
zu danken. Freylich geschiehet es ofte, daß der
Künstler, der den Ausdruk seiner Empfindung, oder
die Erwekung einer Leidenschaft in andern zum Zwek
hat, ihn dadurch zu erreichen sucht, daß er Scenen
der Natur schildert: aber darin das Wesen der
schönen Künste zu sezen, heißt ein einzeles Mittel,
mit der allgemeinen Absicht verwechseln.

Daß die Werke der Kunst wegen der glüklichen
Nachahmung gefallen, ist eben so wenig allgemein
wahr. Oste zwar entstehet das Vergnügen, das
wir an solchen Werken haben, aus der Vollkom-
menheit der Nachahmung; aber wenn das Stöh-
nen eines Philoktets, oder das Jammern einer An-
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Nach
dromache uns Thränen auspreßt, so denken wir
an das Elend, das sie fühlen, und nicht an die
Kunst der Nachahmung. Diese kann gefallen, aber
sie macht uns nicht weinen. Das Erstaunen das
uns ergreift, wenn wir den Achilles gegen die Ele-
mente selbst streiten sehen, wie sollte dieses aus Ve-
wundrung der Nachahmung entstehen. Die Sache
selbst sezt uns in Erstaunen, die Vollkommenheit
der Nachahmung aber, erwekt blos Wolgefallen.
Nicht Raphael, sondern Gerhard Dow, oder Tei-
niers, oder ein andrer Holländer, wäre der erste
Mahler der neuern Zeiten, wenn das Wesen der
Kunst in der Nachahmung bestünde und das bloße
Vergnügen, das sie uns macht, aus Aehnlichkeit des
Nachgeahmten herrührte.

Und doch empfehlen alle Kunstrichter vom Aristo-
teles an bis auf diesen Tag, dem Künstler die Nach-
ahmung der Natur. Sie haben auch recht, aber
man muß sie nur recht verstehen. Wer dem Künst-
ler dieses zur Grundregel vorschreiben wollte "er soll
jeden Gegenstand, der ihm in der Natur gefällt,
nachahmen, damit er durch Aehnlichkeit seines
Werks mit dem nachgeahmten Gegenstand gefalle"
oder, "er soll deswegen schildern, weil ähnliche
Schilderungen gefallen, ohne seine Arbeit auf einen
höhern Zwek zu richten" der würde die besten Werke
des Genies zu bloßen Spiehlereyen machen, die er-
sten Künstler würden, in dem sie jenem Grundsaze
folgten, mit der Natur spiehlen, wie Kinder spieh-
len, indem sie ernsthafte Handlungen zum Zeitver-
treib nachäffen. Der Grundsaz der Nachahmung
der Natur in so fern er ein allgemeiner Grundsaz
für die schöne Kunst ist, muß also verstanden wer-
den. "Da der Künstler ein Diener der Natur
ist (*), und mit ihr einerley Absicht hat, so brau-
che er auch ähnliche Mittel zum Zwek zu gelangen.
Da diese erste und vollkommenste Künstlerin zu Er-
reichung ihrer Absichten so vollkommen richtig ver-
fährt, daß es unmöglich ist, etwas besseres dazu
auszudenken, so ahme er ihr darin nach."

Zu dieser Nachahmung der Natur gelanget man
nicht durch unüberlegtes Abschildern einzeler Werke;
sie ist die Frucht einer genauen Beobachtung der
sittlichen Absichten, die man in der Natur entdeket,
und der Mittel, wodurch sie erreicht werden. Da-
durch erfährt der Künstler durch was für Mittel
die Natur Vergnügen und Mißvergnügen in uns
erweket, und wie wunderbar sie bald die eine, bald

die
(*) S.
Künste.

[Spaltenumbruch]

Nach
ſonſt gutes und ſchikliches Werk verderben und laͤ-
cherlich machen.

Die dritte Art der Nachahmung iſt die freye und
verſtaͤndige, die ſchon vorhandene Werke zu einem
in einzelen Umſtaͤnden naͤher oder anders beſtimmten
Zwek einrichtet. Ein ſolches Werk iſt zwar nicht
in ſeiner Anlage aber in der Ausfuͤhrung, und in
vielen Theilen ein wahres Original Werk, und lei-
ſtet in allen Stuͤken der Abſicht Genuͤge. So ha-
ben Plautus und Terenz griechiſche Comoͤdien nach-
geahmet.

Nach dieſen allgemeinen Anmerkungen uͤber die
Natur der Nachahmungen, muͤſſen wir ſie beſon-
ders in der Anwendung auf die ſchoͤnen Kuͤnſte be-
trachten. Nach dem Urtheil einiger Kunſtrichter
iſt in dieſen Kuͤnſten alles Nachahmung; ſie ſind
aus Nachahmung entſtanden, und ihr Weſen beſteht
in Nachahmung der Natur, ihre Werke aber ge-
fallen blos deswegen, weil die Nachahmung gluͤk-
lich gerathen iſt, und weil wir ein Wolgefallen an
der Achnlichkeit haben, die wir zwiſchen dem Ori-
ginal und der Nachahmung entdeken. Jn dieſem
Urtheil iſt etwas wahres, aber noch mehr falſches.

Die zeichnenden Kuͤnſte ſcheinen die einzigen zu
ſeyn, die aus Nachahmung der Natur entſtanden
ſind. Aber Beredſamkeit, Dichtkunſt, Muſik und
Tanz ſind offenbar aus der Fuͤlle lebhafter Empfin-
dungen entſtanden, und der Begierde ſie zu aͤußern,
ſich ſelbſt und andere darin zu unterhalten. Die
erſten Dichter, Saͤnger und Taͤnzer haben unſtreitig
wuͤrkliche, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte
Empfindungen ausgedruͤkt. Und wir haben die un-
ſterblichen Werke des Demoſthenes, oder Ciceros
keiner Nachahmung der Natur, ſondern der hefti-
gen Begierde Freyheit und Recht zu vertheidigen,
zu danken. Freylich geſchiehet es ofte, daß der
Kuͤnſtler, der den Ausdruk ſeiner Empfindung, oder
die Erwekung einer Leidenſchaft in andern zum Zwek
hat, ihn dadurch zu erreichen ſucht, daß er Scenen
der Natur ſchildert: aber darin das Weſen der
ſchoͤnen Kuͤnſte zu ſezen, heißt ein einzeles Mittel,
mit der allgemeinen Abſicht verwechſeln.

Daß die Werke der Kunſt wegen der gluͤklichen
Nachahmung gefallen, iſt eben ſo wenig allgemein
wahr. Oſte zwar entſtehet das Vergnuͤgen, das
wir an ſolchen Werken haben, aus der Vollkom-
menheit der Nachahmung; aber wenn das Stoͤh-
nen eines Philoktets, oder das Jammern einer An-
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Nach
dromache uns Thraͤnen auspreßt, ſo denken wir
an das Elend, das ſie fuͤhlen, und nicht an die
Kunſt der Nachahmung. Dieſe kann gefallen, aber
ſie macht uns nicht weinen. Das Erſtaunen das
uns ergreift, wenn wir den Achilles gegen die Ele-
mente ſelbſt ſtreiten ſehen, wie ſollte dieſes aus Ve-
wundrung der Nachahmung entſtehen. Die Sache
ſelbſt ſezt uns in Erſtaunen, die Vollkommenheit
der Nachahmung aber, erwekt blos Wolgefallen.
Nicht Raphael, ſondern Gerhard Dow, oder Tei-
niers, oder ein andrer Hollaͤnder, waͤre der erſte
Mahler der neuern Zeiten, wenn das Weſen der
Kunſt in der Nachahmung beſtuͤnde und das bloße
Vergnuͤgen, das ſie uns macht, aus Aehnlichkeit des
Nachgeahmten herruͤhrte.

Und doch empfehlen alle Kunſtrichter vom Ariſto-
teles an bis auf dieſen Tag, dem Kuͤnſtler die Nach-
ahmung der Natur. Sie haben auch recht, aber
man muß ſie nur recht verſtehen. Wer dem Kuͤnſt-
ler dieſes zur Grundregel vorſchreiben wollte „er ſoll
jeden Gegenſtand, der ihm in der Natur gefaͤllt,
nachahmen, damit er durch Aehnlichkeit ſeines
Werks mit dem nachgeahmten Gegenſtand gefalle“
oder, „er ſoll deswegen ſchildern, weil aͤhnliche
Schilderungen gefallen, ohne ſeine Arbeit auf einen
hoͤhern Zwek zu richten“ der wuͤrde die beſten Werke
des Genies zu bloßen Spiehlereyen machen, die er-
ſten Kuͤnſtler wuͤrden, in dem ſie jenem Grundſaze
folgten, mit der Natur ſpiehlen, wie Kinder ſpieh-
len, indem ſie ernſthafte Handlungen zum Zeitver-
treib nachaͤffen. Der Grundſaz der Nachahmung
der Natur in ſo fern er ein allgemeiner Grundſaz
fuͤr die ſchoͤne Kunſt iſt, muß alſo verſtanden wer-
den. „Da der Kuͤnſtler ein Diener der Natur
iſt (*), und mit ihr einerley Abſicht hat, ſo brau-
che er auch aͤhnliche Mittel zum Zwek zu gelangen.
Da dieſe erſte und vollkommenſte Kuͤnſtlerin zu Er-
reichung ihrer Abſichten ſo vollkommen richtig ver-
faͤhrt, daß es unmoͤglich iſt, etwas beſſeres dazu
auszudenken, ſo ahme er ihr darin nach.“

Zu dieſer Nachahmung der Natur gelanget man
nicht durch unuͤberlegtes Abſchildern einzeler Werke;
ſie iſt die Frucht einer genauen Beobachtung der
ſittlichen Abſichten, die man in der Natur entdeket,
und der Mittel, wodurch ſie erreicht werden. Da-
durch erfaͤhrt der Kuͤnſtler durch was fuͤr Mittel
die Natur Vergnuͤgen und Mißvergnuͤgen in uns
erweket, und wie wunderbar ſie bald die eine, bald

die
(*) S.
Kuͤnſte.
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[796[778]/0213] Nach Nach ſonſt gutes und ſchikliches Werk verderben und laͤ- cherlich machen. Die dritte Art der Nachahmung iſt die freye und verſtaͤndige, die ſchon vorhandene Werke zu einem in einzelen Umſtaͤnden naͤher oder anders beſtimmten Zwek einrichtet. Ein ſolches Werk iſt zwar nicht in ſeiner Anlage aber in der Ausfuͤhrung, und in vielen Theilen ein wahres Original Werk, und lei- ſtet in allen Stuͤken der Abſicht Genuͤge. So ha- ben Plautus und Terenz griechiſche Comoͤdien nach- geahmet. Nach dieſen allgemeinen Anmerkungen uͤber die Natur der Nachahmungen, muͤſſen wir ſie beſon- ders in der Anwendung auf die ſchoͤnen Kuͤnſte be- trachten. Nach dem Urtheil einiger Kunſtrichter iſt in dieſen Kuͤnſten alles Nachahmung; ſie ſind aus Nachahmung entſtanden, und ihr Weſen beſteht in Nachahmung der Natur, ihre Werke aber ge- fallen blos deswegen, weil die Nachahmung gluͤk- lich gerathen iſt, und weil wir ein Wolgefallen an der Achnlichkeit haben, die wir zwiſchen dem Ori- ginal und der Nachahmung entdeken. Jn dieſem Urtheil iſt etwas wahres, aber noch mehr falſches. Die zeichnenden Kuͤnſte ſcheinen die einzigen zu ſeyn, die aus Nachahmung der Natur entſtanden ſind. Aber Beredſamkeit, Dichtkunſt, Muſik und Tanz ſind offenbar aus der Fuͤlle lebhafter Empfin- dungen entſtanden, und der Begierde ſie zu aͤußern, ſich ſelbſt und andere darin zu unterhalten. Die erſten Dichter, Saͤnger und Taͤnzer haben unſtreitig wuͤrkliche, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte Empfindungen ausgedruͤkt. Und wir haben die un- ſterblichen Werke des Demoſthenes, oder Ciceros keiner Nachahmung der Natur, ſondern der hefti- gen Begierde Freyheit und Recht zu vertheidigen, zu danken. Freylich geſchiehet es ofte, daß der Kuͤnſtler, der den Ausdruk ſeiner Empfindung, oder die Erwekung einer Leidenſchaft in andern zum Zwek hat, ihn dadurch zu erreichen ſucht, daß er Scenen der Natur ſchildert: aber darin das Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte zu ſezen, heißt ein einzeles Mittel, mit der allgemeinen Abſicht verwechſeln. Daß die Werke der Kunſt wegen der gluͤklichen Nachahmung gefallen, iſt eben ſo wenig allgemein wahr. Oſte zwar entſtehet das Vergnuͤgen, das wir an ſolchen Werken haben, aus der Vollkom- menheit der Nachahmung; aber wenn das Stoͤh- nen eines Philoktets, oder das Jammern einer An- dromache uns Thraͤnen auspreßt, ſo denken wir an das Elend, das ſie fuͤhlen, und nicht an die Kunſt der Nachahmung. Dieſe kann gefallen, aber ſie macht uns nicht weinen. Das Erſtaunen das uns ergreift, wenn wir den Achilles gegen die Ele- mente ſelbſt ſtreiten ſehen, wie ſollte dieſes aus Ve- wundrung der Nachahmung entſtehen. Die Sache ſelbſt ſezt uns in Erſtaunen, die Vollkommenheit der Nachahmung aber, erwekt blos Wolgefallen. Nicht Raphael, ſondern Gerhard Dow, oder Tei- niers, oder ein andrer Hollaͤnder, waͤre der erſte Mahler der neuern Zeiten, wenn das Weſen der Kunſt in der Nachahmung beſtuͤnde und das bloße Vergnuͤgen, das ſie uns macht, aus Aehnlichkeit des Nachgeahmten herruͤhrte. Und doch empfehlen alle Kunſtrichter vom Ariſto- teles an bis auf dieſen Tag, dem Kuͤnſtler die Nach- ahmung der Natur. Sie haben auch recht, aber man muß ſie nur recht verſtehen. Wer dem Kuͤnſt- ler dieſes zur Grundregel vorſchreiben wollte „er ſoll jeden Gegenſtand, der ihm in der Natur gefaͤllt, nachahmen, damit er durch Aehnlichkeit ſeines Werks mit dem nachgeahmten Gegenſtand gefalle“ oder, „er ſoll deswegen ſchildern, weil aͤhnliche Schilderungen gefallen, ohne ſeine Arbeit auf einen hoͤhern Zwek zu richten“ der wuͤrde die beſten Werke des Genies zu bloßen Spiehlereyen machen, die er- ſten Kuͤnſtler wuͤrden, in dem ſie jenem Grundſaze folgten, mit der Natur ſpiehlen, wie Kinder ſpieh- len, indem ſie ernſthafte Handlungen zum Zeitver- treib nachaͤffen. Der Grundſaz der Nachahmung der Natur in ſo fern er ein allgemeiner Grundſaz fuͤr die ſchoͤne Kunſt iſt, muß alſo verſtanden wer- den. „Da der Kuͤnſtler ein Diener der Natur iſt (*), und mit ihr einerley Abſicht hat, ſo brau- che er auch aͤhnliche Mittel zum Zwek zu gelangen. Da dieſe erſte und vollkommenſte Kuͤnſtlerin zu Er- reichung ihrer Abſichten ſo vollkommen richtig ver- faͤhrt, daß es unmoͤglich iſt, etwas beſſeres dazu auszudenken, ſo ahme er ihr darin nach.“ Zu dieſer Nachahmung der Natur gelanget man nicht durch unuͤberlegtes Abſchildern einzeler Werke; ſie iſt die Frucht einer genauen Beobachtung der ſittlichen Abſichten, die man in der Natur entdeket, und der Mittel, wodurch ſie erreicht werden. Da- durch erfaͤhrt der Kuͤnſtler durch was fuͤr Mittel die Natur Vergnuͤgen und Mißvergnuͤgen in uns erweket, und wie wunderbar ſie bald die eine, bald die (*) S. Kuͤnſte.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 796[778]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/213>, abgerufen am 21.11.2024.