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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Nai
gnügen geben, als uns das Gefühl einer jeden
andern Schönheit machen kann. Weil es aber viele
Grade und Arten der Naivete giebt, so wollen wir
diejenige, welche aus der wahren Unschuld entspringt,
das Erhabene Naive nennen. Die übrigen Grade
mögen nach ihrer größern oder kleinern Entfernung
von der schönen Natur abgemessen werden. Denn
es muß auch noch ein Raum für die muthwillige
Galathea des Virgils und den alten rosenbekränz-
ten Anakreon übrig seyn.

Die Minnegesänge aus dem XIII Jahrhundert
sind reich an Beyspielen naiver Passionen und Aus-
drükungen derselben. Die Sitten der damaligen
Zeit müssen, nach allen Urkunden die uns von der
Regierung des vortreflichen Schwäbischen Hauses
übrig geblieben sind, von ihrer ehemaligen Rauhig-
keit und Wildheit gerad so viel verlohren haben,
daß sie bey ihrer Einfalt und Bescheidenheit, Artig-
keit und eine gefällige ungekünstelte Wohlanständig-
keit besizen konnten. Die meisten der Liebesgedichte
werden von dem Geist der sittsamen und inbrünsti-
gen Liebe beseelt. Diese Sänger kennen die Spra-
che der Empfindungen, wie es scheint aus Erfah-
rung. Eigene oft verwundersame Einfälle und
neue anmuthige Wendungen findet man häufig bey
ihnen. Jch glaube daß es Jhnen nicht unangenehm
seyn werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben
davon vorlege:

Vil süße Minne du hast mich betwungen
Das ich muos singen der vil minneklichen
min Herze je hat da her gerungen
Du kan vil suesse dur min Ougen slichen
Al in min Herze lieplich unz ze gerunde
Wand ane Gott nieman erdenken konte
So lieplich lachen von so rotem Munde.
Ich wolde ir gefangen sin gerne unverdrossen
So das si mich dort solde
In blanken Armen baben geschlossen.
Niemer könd ich min leit gerechen
An der truten bas
Ihr Mündel küst ich und wolde
Sprechen
Sich, diner Röte habe du das.
Ich bin also minne wise
Und ist mir so rehte lieb ein Wip
Das ich in dem Paradyse
Niht so gerne wisse minen Lip
[Spaltenumbruch]
Nai
Als da ich der guoten solde sehen
In ir Ougen minneklichen
Da möhte lieblich Wunder mir geschehen.
Ich wande ich iemer solde lachen.
Do ich dich Frouen lachen sah &c.
Ir vil liehten Ougen blig
Wirfet hoher Froeiden vil
Ir gruos der git selde und ere
Ir schone dü leit den strik
Der Gedanke vahen will
Des git ir Gedanke lere
Mit zuht das irs nieman wissen sol
Swes gedenken gegen ir swinget
Minne den so gar betwinget
Das er git gevangen froeiden zol.

Jch gestehe ihnen mit einem jeden Leser, der die fei-
nen Schönheiten der einfältigen Natur empfinden
kann, daß die Fabeln und Erzählungen des Hrn.
Gellert, die Sie so sehr lieben, größtentheils sehr
naiv erzählt sind. Gar ofte entsteht diese Naivete
aus den Gedanken selbst, und der aufrichtigen
kunstlosen Ausbildung derselben; manchmal aber
scheint sie blos in dem Ausdruk oder in der Wen-
dung zu liegen, die aber nicht etwa so neu und son-
derbar ist, wie bey den Minnesingern, sondern bloß
in der genauen Nachahmung der gemeinen und
manchmal pöbelhaften Art zu reden oder zu erzäh-
len besteht, wie man aus der Erzählung vom Bauer
und seinem Sohn, der Mißgeburt, vom betrübten
Wittwer, und einigen andern siehet. Viele halten diese
Fabeln und Erzählungen, vornehmlich um der vie-
len Fragen, Einwürfe, satyrischen Parenthesen,
kleiner lustiger Anmerkungen etc. die in der Erzeh-
lung mit eingeschoben werden, für sehr naiv. Ein
jeder erinnert sich, daß er wizige und lustige Köpfe
in seiner Bekanntschaft gehabt hat, die ohngefehr
so auf diese Art erzählen. Man hält deswegen diese
Art der Erzählung für sehr natürlich. Die Leser
von gesunden Geschmak mögen entscheiden, ob der
Verfasser der Erzählungen, die einfältige, unge-
schmükte, leichte, aber edle Sprache der Erzählung
nicht besser getroffen habe. Man kann übrigens
mit Grunde sagen, daß ein guter Theil der Erzäh-
lung des Hrn. Gellerts von solchem Jnhalt sind,
daß sie dergleichen Zierrathen und Fransen sehr nöthig
haben, und daß der allgemeine Beyfall zu allen Zei-
ten nothwendiger Weise auf seine Seite seyn muß.

Mich

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Nai
gnuͤgen geben, als uns das Gefuͤhl einer jeden
andern Schoͤnheit machen kann. Weil es aber viele
Grade und Arten der Naivete giebt, ſo wollen wir
diejenige, welche aus der wahren Unſchuld entſpringt,
das Erhabene Naive nennen. Die uͤbrigen Grade
moͤgen nach ihrer groͤßern oder kleinern Entfernung
von der ſchoͤnen Natur abgemeſſen werden. Denn
es muß auch noch ein Raum fuͤr die muthwillige
Galathea des Virgils und den alten roſenbekraͤnz-
ten Anakreon uͤbrig ſeyn.

Die Minnegeſaͤnge aus dem XIII Jahrhundert
ſind reich an Beyſpielen naiver Paſſionen und Aus-
druͤkungen derſelben. Die Sitten der damaligen
Zeit muͤſſen, nach allen Urkunden die uns von der
Regierung des vortreflichen Schwaͤbiſchen Hauſes
uͤbrig geblieben ſind, von ihrer ehemaligen Rauhig-
keit und Wildheit gerad ſo viel verlohren haben,
daß ſie bey ihrer Einfalt und Beſcheidenheit, Artig-
keit und eine gefaͤllige ungekuͤnſtelte Wohlanſtaͤndig-
keit beſizen konnten. Die meiſten der Liebesgedichte
werden von dem Geiſt der ſittſamen und inbruͤnſti-
gen Liebe beſeelt. Dieſe Saͤnger kennen die Spra-
che der Empfindungen, wie es ſcheint aus Erfah-
rung. Eigene oft verwunderſame Einfaͤlle und
neue anmuthige Wendungen findet man haͤufig bey
ihnen. Jch glaube daß es Jhnen nicht unangenehm
ſeyn werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben
davon vorlege:

Vil ſüße Minne du haſt mich betwungen
Das ich muos ſingen der vil minneklichen
min Herze je hat da her gerungen
Du kan vil ſueſſe dur min Ougen slichen
Al in min Herze lieplich unz ze gerunde
Wand ane Gott nieman erdenken konte
So lieplich lachen von ſo rotem Munde.
Ich wolde ir gefangen ſin gerne unverdroſſen
So das ſi mich dort ſolde
In blanken Armen baben geſchloſſen.
Niemer könd ich min leit gerechen
An der truten bas
Ihr Mündel küſt ich und wolde
Sprechen
Sich, diner Röte habe du das.
Ich bin alſo minne wiſe
Und iſt mir ſo rehte lieb ein Wip
Das ich in dem Paradyſe
Niht ſo gerne wiſſe minen Lip
[Spaltenumbruch]
Nai
Als da ich der guoten ſolde ſehen
In ir Ougen minneklichen
Da möhte lieblich Wunder mir geſchehen.
Ich wande ich iemer ſolde lachen.
Do ich dich Frouen lachen ſah &c.
Ir vil liehten Ougen blig
Wirfet hoher Froeiden vil
Ir gruos der git ſelde und ere
Ir ſchone dü leit den ſtrik
Der Gedanke vahen will
Des git ir Gedanke lere
Mit zuht das irs nieman wiſſen ſol
Swes gedenken gegen ir ſwinget
Minne den ſo gar betwinget
Das er git gevangen froeiden zol.

Jch geſtehe ihnen mit einem jeden Leſer, der die fei-
nen Schoͤnheiten der einfaͤltigen Natur empfinden
kann, daß die Fabeln und Erzaͤhlungen des Hrn.
Gellert, die Sie ſo ſehr lieben, groͤßtentheils ſehr
naiv erzaͤhlt ſind. Gar ofte entſteht dieſe Naivete
aus den Gedanken ſelbſt, und der aufrichtigen
kunſtloſen Ausbildung derſelben; manchmal aber
ſcheint ſie blos in dem Ausdruk oder in der Wen-
dung zu liegen, die aber nicht etwa ſo neu und ſon-
derbar iſt, wie bey den Minneſingern, ſondern bloß
in der genauen Nachahmung der gemeinen und
manchmal poͤbelhaften Art zu reden oder zu erzaͤh-
len beſteht, wie man aus der Erzaͤhlung vom Bauer
und ſeinem Sohn, der Mißgeburt, vom betruͤbten
Wittwer, und einigen andern ſiehet. Viele halten dieſe
Fabeln und Erzaͤhlungen, vornehmlich um der vie-
len Fragen, Einwuͤrfe, ſatyriſchen Parentheſen,
kleiner luſtiger Anmerkungen ꝛc. die in der Erzeh-
lung mit eingeſchoben werden, fuͤr ſehr naiv. Ein
jeder erinnert ſich, daß er wizige und luſtige Koͤpfe
in ſeiner Bekanntſchaft gehabt hat, die ohngefehr
ſo auf dieſe Art erzaͤhlen. Man haͤlt deswegen dieſe
Art der Erzaͤhlung fuͤr ſehr natuͤrlich. Die Leſer
von geſunden Geſchmak moͤgen entſcheiden, ob der
Verfaſſer der Erzaͤhlungen, die einfaͤltige, unge-
ſchmuͤkte, leichte, aber edle Sprache der Erzaͤhlung
nicht beſſer getroffen habe. Man kann uͤbrigens
mit Grunde ſagen, daß ein guter Theil der Erzaͤh-
lung des Hrn. Gellerts von ſolchem Jnhalt ſind,
daß ſie dergleichen Zierrathen und Franſen ſehr noͤthig
haben, und daß der allgemeine Beyfall zu allen Zei-
ten nothwendiger Weiſe auf ſeine Seite ſeyn muß.

Mich
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[808[790]/0225] Nai Nai gnuͤgen geben, als uns das Gefuͤhl einer jeden andern Schoͤnheit machen kann. Weil es aber viele Grade und Arten der Naivete giebt, ſo wollen wir diejenige, welche aus der wahren Unſchuld entſpringt, das Erhabene Naive nennen. Die uͤbrigen Grade moͤgen nach ihrer groͤßern oder kleinern Entfernung von der ſchoͤnen Natur abgemeſſen werden. Denn es muß auch noch ein Raum fuͤr die muthwillige Galathea des Virgils und den alten roſenbekraͤnz- ten Anakreon uͤbrig ſeyn. Die Minnegeſaͤnge aus dem XIII Jahrhundert ſind reich an Beyſpielen naiver Paſſionen und Aus- druͤkungen derſelben. Die Sitten der damaligen Zeit muͤſſen, nach allen Urkunden die uns von der Regierung des vortreflichen Schwaͤbiſchen Hauſes uͤbrig geblieben ſind, von ihrer ehemaligen Rauhig- keit und Wildheit gerad ſo viel verlohren haben, daß ſie bey ihrer Einfalt und Beſcheidenheit, Artig- keit und eine gefaͤllige ungekuͤnſtelte Wohlanſtaͤndig- keit beſizen konnten. Die meiſten der Liebesgedichte werden von dem Geiſt der ſittſamen und inbruͤnſti- gen Liebe beſeelt. Dieſe Saͤnger kennen die Spra- che der Empfindungen, wie es ſcheint aus Erfah- rung. Eigene oft verwunderſame Einfaͤlle und neue anmuthige Wendungen findet man haͤufig bey ihnen. Jch glaube daß es Jhnen nicht unangenehm ſeyn werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben davon vorlege: Vil ſüße Minne du haſt mich betwungen Das ich muos ſingen der vil minneklichen min Herze je hat da her gerungen Du kan vil ſueſſe dur min Ougen slichen Al in min Herze lieplich unz ze gerunde Wand ane Gott nieman erdenken konte So lieplich lachen von ſo rotem Munde. Ich wolde ir gefangen ſin gerne unverdroſſen So das ſi mich dort ſolde In blanken Armen baben geſchloſſen. Niemer könd ich min leit gerechen An der truten bas Ihr Mündel küſt ich und wolde Sprechen Sich, diner Röte habe du das. Ich bin alſo minne wiſe Und iſt mir ſo rehte lieb ein Wip Das ich in dem Paradyſe Niht ſo gerne wiſſe minen Lip Als da ich der guoten ſolde ſehen In ir Ougen minneklichen Da möhte lieblich Wunder mir geſchehen. Ich wande ich iemer ſolde lachen. Do ich dich Frouen lachen ſah &c. Ir vil liehten Ougen blig Wirfet hoher Froeiden vil Ir gruos der git ſelde und ere Ir ſchone dü leit den ſtrik Der Gedanke vahen will Des git ir Gedanke lere Mit zuht das irs nieman wiſſen ſol Swes gedenken gegen ir ſwinget Minne den ſo gar betwinget Das er git gevangen froeiden zol. Jch geſtehe ihnen mit einem jeden Leſer, der die fei- nen Schoͤnheiten der einfaͤltigen Natur empfinden kann, daß die Fabeln und Erzaͤhlungen des Hrn. Gellert, die Sie ſo ſehr lieben, groͤßtentheils ſehr naiv erzaͤhlt ſind. Gar ofte entſteht dieſe Naivete aus den Gedanken ſelbſt, und der aufrichtigen kunſtloſen Ausbildung derſelben; manchmal aber ſcheint ſie blos in dem Ausdruk oder in der Wen- dung zu liegen, die aber nicht etwa ſo neu und ſon- derbar iſt, wie bey den Minneſingern, ſondern bloß in der genauen Nachahmung der gemeinen und manchmal poͤbelhaften Art zu reden oder zu erzaͤh- len beſteht, wie man aus der Erzaͤhlung vom Bauer und ſeinem Sohn, der Mißgeburt, vom betruͤbten Wittwer, und einigen andern ſiehet. Viele halten dieſe Fabeln und Erzaͤhlungen, vornehmlich um der vie- len Fragen, Einwuͤrfe, ſatyriſchen Parentheſen, kleiner luſtiger Anmerkungen ꝛc. die in der Erzeh- lung mit eingeſchoben werden, fuͤr ſehr naiv. Ein jeder erinnert ſich, daß er wizige und luſtige Koͤpfe in ſeiner Bekanntſchaft gehabt hat, die ohngefehr ſo auf dieſe Art erzaͤhlen. Man haͤlt deswegen dieſe Art der Erzaͤhlung fuͤr ſehr natuͤrlich. Die Leſer von geſunden Geſchmak moͤgen entſcheiden, ob der Verfaſſer der Erzaͤhlungen, die einfaͤltige, unge- ſchmuͤkte, leichte, aber edle Sprache der Erzaͤhlung nicht beſſer getroffen habe. Man kann uͤbrigens mit Grunde ſagen, daß ein guter Theil der Erzaͤh- lung des Hrn. Gellerts von ſolchem Jnhalt ſind, daß ſie dergleichen Zierrathen und Franſen ſehr noͤthig haben, und daß der allgemeine Beyfall zu allen Zei- ten nothwendiger Weiſe auf ſeine Seite ſeyn muß. Mich

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 808[790]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/225>, abgerufen am 21.11.2024.