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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Num
volle Laut der Wörter, die Bewegung, oder das
Schnelle und Langsame, und das Steigen oder Fal-
len der Stimme, jedes das Seinige bey. Bey
derselben Anzahl, Größe und demselben Verhältnis
der Glieder und Einschnitte, kann die Periode sanft
fließen, oder schnell fortrauschen; allmählig im
Ton steigen, oder fallen; und überhaupt jeden sittli-
chen und leidenschaftlichen Ton und Charakter an-
nehmen, der durch Klang und Bewegung kann aus-
gedrükt werden. Jst der Jnhalt ruhig, so muß es
auch der Fluß der Periode seyn; ist jener zärtlich,
oder heftig, so ist es auch dieser.

Dieses sind also die verschiedenen Mittel, wo-
durch der künstliche und volle Numerus einer Periode
kann erhalten werden. Regeln, nach denen der
Redner in besondern Fällen von diesen Mittel den
besten Gebrauch machen könnte, lassen sich nicht ge-
ben; sein Gefühl muß ihm das, was sich schiket,
an die Hand geben. Deshalb aber war es keines-
weges unnöthig, oder überflüßig diese Mittel, von
deren gutem Gebrauch der Numerus abhängt, dem
Redner deutlich vor Augen zu legen; denn wenn er
sie nicht im Gesichte hat, so fällt ihm auch ofte ihr
Gebrauch nicht ein. Es verhält sich damit, wie
mit den Werkzeugen, die zu vollkommener Verfer-
tigung und Ausarbeitung eines Werks der mechani-
schen Kunst dienen. Der Arbeiter muß sie kennen,
und vor sich sehen, weil ihn dieses auf ihren Ge-
brauch führet. Wer ein Werk der mechanischen
Kunst, nach allen seinen Theilen beschreibt, hernach
aber die zu vollkommener Verfertigung und Ausar-
beitung jedes Theiles nöthigen Werkzeuge kennbar
macht, der hat alles gethan, was er thun konnte,
um den Arbeiter, der das Genie seiner Kunst be-
sizet, zu leiten.

Es kann gar wol geschehen, daß dem Redner in
dem Feuer der Begeisterung, ohne daß er daran
denkt, eine Periode von dem vollkommensten Nume-
rus aus der Feder fließt; aber noch öfter wird es
geschehen, daß sie unvollkommen ist, und erst durch
Bearbeitung ihre wahre Schönheit bekommt. Zu
dieser Bearbeitung aber wird Ueberlegung alles des-
sen, was zur Vollkommenheit des Numerus dienet,
nothwendig. Es ist nicht genug, daß man em-
pfinde, der Periode fehle noch etwas zum Numerus;
man muß bestimmt wissen, was ihr fehlet, und
wie es ihr zu geben ist. Man würde dem Redner
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Num
einen schlechten Rath geben, wenn man ihm sagte,
daß er im Feuer der Arbeit auf jede Kleinigkeit des
Numerus acht haben soll; aber eben so schlecht würd
es seyn, ihm die Aufmerksamkeit auf diese Sachen
überall abzurathen. Bey der Ausarbeitung muß er
allerdings Sorgfalt und Fleis auf den Numerus
wenden; weil in der ersten Zusammensezung, da
der Geist und das Herz allein mit der Materie be-
schäftiget sind, gewiß viel dagegen gefehlt, wenig-
stens viel versäumt worden, das mit einiger Auf-
merksamkeit kann verbessert, oder ersezt werden.

Was wir von dem Numerus einzeler Perioden
hier anmerken, läßt sich auf die Folge derselben an-
wenden. Denn es giebt auch einen Numerus, ein
gefälliges Ebenmaaß, das aus dem Zusammenhang
vieler Perioden entsteht; erst alsdenn, wenn auch
dieses Ebenmaaß in allen Haupttheilen der Rede,
folglich zulezt in dem Ganzen derselben beobachtet
worden, ist sie das, was Cicero numerosam et
aptam orationem
nennt. Denn auch Herodotus,
von dem alle Alten sagen, daß er den Numerus
nicht gekennt habe, hat ihn doch hier und da in ein-
zelen Stellen getroffen. Dem Redner könnte die
Einrichtung eines vollkommenen Tonstüks zum besten
Beyspiele einer Rede dienen, um ihr sowol in einzeln
Theilen, als im Ganzen einen guten Numerus zu ge-
ben. Das ganze Tonstük besteht aus wenig Haupt-
theilen, oder Hauptabschnitten, die in Anfehung der
Länge ein gutes Verhältnis unter sich haben. Je-
der Haupttheil besteht aus etlichen Abschnitten, de-
ren einige mehr, andre weniger Takte begreifen,
ebenfalls in guten Verhältnissen der Länge oder
Größe; die Abschnitte bestehen aus kleinen Einschnit-
ten, bald von zwey, bald von drey oder vier Tak-
ten. Dieses dienet zum Muster des Ebenmaaßes.
Denn herrscht im Ganzen nur ein Hauptton, der
gleich von Aufange dem Gehör wol eingepräget wird.
Jeder Haupttheil hat wieder seinen besondern Ton,
der aber gegen den Hauptton nicht zu stark abstechen
muß: in kleinern Abschnitten geht auch dieser, aber
nur auf kurze Zeit, in andere Töne, davon die, wel-
che sich vom Hauptton am meisten entfernen, nur
kurz und vorübergehend vorkommen, so daß bey die-
ser Mannigfaltigkeit der Töne, der Hauptton doch
immer herrschend bleibt. Die Haupttheile endigen
sich durch vollkommene Cadenzen. Die Abschnitte
mit Cadenzen, die das Gehör nicht so völlig beruhi-
gen; die Einschnitte mit noch unvollkommneren,

oder
Zweyter Theil. K k k k k

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Num
volle Laut der Woͤrter, die Bewegung, oder das
Schnelle und Langſame, und das Steigen oder Fal-
len der Stimme, jedes das Seinige bey. Bey
derſelben Anzahl, Groͤße und demſelben Verhaͤltnis
der Glieder und Einſchnitte, kann die Periode ſanft
fließen, oder ſchnell fortrauſchen; allmaͤhlig im
Ton ſteigen, oder fallen; und uͤberhaupt jeden ſittli-
chen und leidenſchaftlichen Ton und Charakter an-
nehmen, der durch Klang und Bewegung kann aus-
gedruͤkt werden. Jſt der Jnhalt ruhig, ſo muß es
auch der Fluß der Periode ſeyn; iſt jener zaͤrtlich,
oder heftig, ſo iſt es auch dieſer.

Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Mittel, wo-
durch der kuͤnſtliche und volle Numerus einer Periode
kann erhalten werden. Regeln, nach denen der
Redner in beſondern Faͤllen von dieſen Mittel den
beſten Gebrauch machen koͤnnte, laſſen ſich nicht ge-
ben; ſein Gefuͤhl muß ihm das, was ſich ſchiket,
an die Hand geben. Deshalb aber war es keines-
weges unnoͤthig, oder uͤberfluͤßig dieſe Mittel, von
deren gutem Gebrauch der Numerus abhaͤngt, dem
Redner deutlich vor Augen zu legen; denn wenn er
ſie nicht im Geſichte hat, ſo faͤllt ihm auch ofte ihr
Gebrauch nicht ein. Es verhaͤlt ſich damit, wie
mit den Werkzeugen, die zu vollkommener Verfer-
tigung und Ausarbeitung eines Werks der mechani-
ſchen Kunſt dienen. Der Arbeiter muß ſie kennen,
und vor ſich ſehen, weil ihn dieſes auf ihren Ge-
brauch fuͤhret. Wer ein Werk der mechaniſchen
Kunſt, nach allen ſeinen Theilen beſchreibt, hernach
aber die zu vollkommener Verfertigung und Ausar-
beitung jedes Theiles noͤthigen Werkzeuge kennbar
macht, der hat alles gethan, was er thun konnte,
um den Arbeiter, der das Genie ſeiner Kunſt be-
ſizet, zu leiten.

Es kann gar wol geſchehen, daß dem Redner in
dem Feuer der Begeiſterung, ohne daß er daran
denkt, eine Periode von dem vollkommenſten Nume-
rus aus der Feder fließt; aber noch oͤfter wird es
geſchehen, daß ſie unvollkommen iſt, und erſt durch
Bearbeitung ihre wahre Schoͤnheit bekommt. Zu
dieſer Bearbeitung aber wird Ueberlegung alles deſ-
ſen, was zur Vollkommenheit des Numerus dienet,
nothwendig. Es iſt nicht genug, daß man em-
pfinde, der Periode fehle noch etwas zum Numerus;
man muß beſtimmt wiſſen, was ihr fehlet, und
wie es ihr zu geben iſt. Man wuͤrde dem Redner
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Num
einen ſchlechten Rath geben, wenn man ihm ſagte,
daß er im Feuer der Arbeit auf jede Kleinigkeit des
Numerus acht haben ſoll; aber eben ſo ſchlecht wuͤrd
es ſeyn, ihm die Aufmerkſamkeit auf dieſe Sachen
uͤberall abzurathen. Bey der Ausarbeitung muß er
allerdings Sorgfalt und Fleis auf den Numerus
wenden; weil in der erſten Zuſammenſezung, da
der Geiſt und das Herz allein mit der Materie be-
ſchaͤftiget ſind, gewiß viel dagegen gefehlt, wenig-
ſtens viel verſaͤumt worden, das mit einiger Auf-
merkſamkeit kann verbeſſert, oder erſezt werden.

Was wir von dem Numerus einzeler Perioden
hier anmerken, laͤßt ſich auf die Folge derſelben an-
wenden. Denn es giebt auch einen Numerus, ein
gefaͤlliges Ebenmaaß, das aus dem Zuſammenhang
vieler Perioden entſteht; erſt alsdenn, wenn auch
dieſes Ebenmaaß in allen Haupttheilen der Rede,
folglich zulezt in dem Ganzen derſelben beobachtet
worden, iſt ſie das, was Cicero numeroſam et
aptam orationem
nennt. Denn auch Herodotus,
von dem alle Alten ſagen, daß er den Numerus
nicht gekennt habe, hat ihn doch hier und da in ein-
zelen Stellen getroffen. Dem Redner koͤnnte die
Einrichtung eines vollkommenen Tonſtuͤks zum beſten
Beyſpiele einer Rede dienen, um ihr ſowol in einzeln
Theilen, als im Ganzen einen guten Numerus zu ge-
ben. Das ganze Tonſtuͤk beſteht aus wenig Haupt-
theilen, oder Hauptabſchnitten, die in Anfehung der
Laͤnge ein gutes Verhaͤltnis unter ſich haben. Je-
der Haupttheil beſteht aus etlichen Abſchnitten, de-
ren einige mehr, andre weniger Takte begreifen,
ebenfalls in guten Verhaͤltniſſen der Laͤnge oder
Groͤße; die Abſchnitte beſtehen aus kleinen Einſchnit-
ten, bald von zwey, bald von drey oder vier Tak-
ten. Dieſes dienet zum Muſter des Ebenmaaßes.
Denn herrſcht im Ganzen nur ein Hauptton, der
gleich von Aufange dem Gehoͤr wol eingepraͤget wird.
Jeder Haupttheil hat wieder ſeinen beſondern Ton,
der aber gegen den Hauptton nicht zu ſtark abſtechen
muß: in kleinern Abſchnitten geht auch dieſer, aber
nur auf kurze Zeit, in andere Toͤne, davon die, wel-
che ſich vom Hauptton am meiſten entfernen, nur
kurz und voruͤbergehend vorkommen, ſo daß bey die-
ſer Mannigfaltigkeit der Toͤne, der Hauptton doch
immer herrſchend bleibt. Die Haupttheile endigen
ſich durch vollkommene Cadenzen. Die Abſchnitte
mit Cadenzen, die das Gehoͤr nicht ſo voͤllig beruhi-
gen; die Einſchnitte mit noch unvollkommneren,

oder
Zweyter Theil. K k k k k
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 827[809]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/244>, abgerufen am 21.11.2024.