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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ori

Man könnte das Wort auch noch in einer dritten
Bedeutung nehmen, um dadurch die Werke zu be-
zeichnen, die aus wahren Trieb des Kunstgenies,
aus würklicher, nicht nachgeahmter, oder verstellter
Empfindung entstanden sind. Nämlich, die wah-
ren Originalkünstler arbeiten gemeiniglich aus Fülle
der Empfindung; weil sie einen unwiederstehlichen
Trieb fühlen, das was sie würklich in der Phantasie
haben, oder was sie lebhaft empfinden, durch ein
Werk der Kunst an den Tag zu legen. Hingegen
geschiehet es auch, das ein Werk nicht durch die
Empfindung des Künstlers, sondern durch fremde
Vorstellung veranlasset wird, ein Werk des Vorsa-
zes, der Ueberlegung, und nicht ein Werk der Be-
geisterung ist. Jene könnte man im Gegensaz dieser
Originalwerke nennen.

Man siehet leicht, wieviel Vorzüge diese Originale
vor den Werken, die es nicht sind, haben müssen:
sie sind wahre Aeußerungen des Genies; da die an-
dern Schilderungen verstellter nicht würklich vorhan-
dener Empfindungen sind. Jene lassen uns allemal
die Natur, diese nur die Kunst sehen. Ein Dichter
der von einem Gegenstand bis zur lyrischen Begei-
sterung gerührt worden, und denn singt, weil er
der Begierde das was er fühlt auszudrüken, nicht
wiederstehen kann, dichtet eine Originalode, die ein
wahrer Abdruk des Zustandes seines Gemüths ist.
Ein andermal aber fodern außer der Kunst liegende
Veranlassungen eine Ode; oder er selbst stellt sich
vor, er sey in einem Fall, in eine Lage, darin
er nicht ist, sucht Empfindungen hervor, die dem
Fall natürlich sind, die er aber nicht würklich hat,
und in dieser angenommenen Stellung dichtet er.
Da muß freylich ein ganz anderes Werk entstehen,
das uns mehr die Kunst, als die Natur sehen läßt.
Ein solches Werk ist etwas betrügerisches, damit man
uns, blos um die Kunst zu zeigen, hintergehen will.

Auch große Originalgeister machen bisweilen sol-
che Werke; die denn freylich weit unter den wahren
Originalen sind, die aus dem vollen Gefühl aus-
ströhmen. Der schlaue Künstler sucht den Betrug
zu verbergen, aber man merkt ihn doch. So fühlt
man bey der Horazischen Ode auf den Baum, und
an der Ramlerischen auf das Geschüz, Kunst und
nicht Ergießung der Natur. Es war Horazens
Ernst nicht so gar sehr auf den Pflanzer des Bau-
mes zu schimpfen, wie er sich anstellt: hier ist mehr
Spaß, denn Ernst. Mit völliger Heiterkeit des
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Ori
Gemüthes, nahm der Dichter sich vor, sich anzu-
stellen, als wenn der gehabte Schreken ihm solche
Empfindungen verursachet hätte; weil er uns zeigen
wollte, daß er ein guter Odendichter sey.

Auf die Originalwerke der erstern Art, können
die Betrachtungen und Anmerkungen des nächst
vorhergehenden Artikels angewendet werden. Da-
rum brauchen wir uns hier nicht in umständliche
Betrachtung derselben einzulassen. Wir wollen nur
noch anmerken, daß ein Werk von mehr als einer
Seite Original seyn könne. Der ganze Stoff kann
entlehnt und die Behandlung desselben kann Original
seyn. So ist in redenden Künsten ein Werk biswei-
len blos im Ausdruk Original, und der Stoff selbst
hat eben nichts besonderes. Jndessen, wie gering
auch der Theil der Kunst, darin das Werk Original
ist, seyn mag; so ist ein solches Werk immer schäz-
bar, weil es wenigstens etwas von der Kunst er-
weitert.

Wir müssen noch besonders von den Originalen
der zweyten Art in den Werken der zeichnenden
Künste sprechen. Die Gewinnsucht hat eine Menge
Copeyen unter Originale gestellt.

Es ist also für Kenner und Liebhaber eine wichtige
Frage, ob es allemal möglich ist, oder ob man es
wenigstens durch fleißige Beobachtung und Erfah-
rung dahin bringen kann, mit Gewißheit zu ent-
scheiden, ob ein Werk ein Original ist, oder nicht?

Die Erfahrung hat diese Frage noch nicht entschei-
dend beantwortet, da man gewisse Zeugnisse hat, daß
würklich Kenner vom ersten Rang sind betrogen
worden. Es ist vielleicht keine beträchtliche Samm-
lung von Gemählden, oder geschnittenen Steinen,
wo nicht Copeyen für Originale gehalten werden.
Man ist so gar über einige Werke der ersten Art un-
gewiß, welche von zwey Gallerien, deren Besizer
sich schmeicheln das Original zu haben, es würklich
besizet. Vasari versichert, daß Jalius Romanus
eine Copie nach Raphael für das Original gehalten
habe, ob gleich er selbst an den Gewändern des wah-
ren Originals gearbeitet hatte.

Die Regeln, die Originale zu kennen, lassen sich
nicht wol angeben. Denn, was man von der Frey-
heit der Bearbeitung, die das Original zeiget, und
von dem furchtsamen und gesuchten in der Copie
sagt, ist weder sicher noch hinlänglich genug. Es
kommt hier auf ein sehr seines Gefühl an, dessen
Gründe und Regeln sich nicht beschreiben lassen.

Mit
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Ori

Man koͤnnte das Wort auch noch in einer dritten
Bedeutung nehmen, um dadurch die Werke zu be-
zeichnen, die aus wahren Trieb des Kunſtgenies,
aus wuͤrklicher, nicht nachgeahmter, oder verſtellter
Empfindung entſtanden ſind. Naͤmlich, die wah-
ren Originalkuͤnſtler arbeiten gemeiniglich aus Fuͤlle
der Empfindung; weil ſie einen unwiederſtehlichen
Trieb fuͤhlen, das was ſie wuͤrklich in der Phantaſie
haben, oder was ſie lebhaft empfinden, durch ein
Werk der Kunſt an den Tag zu legen. Hingegen
geſchiehet es auch, das ein Werk nicht durch die
Empfindung des Kuͤnſtlers, ſondern durch fremde
Vorſtellung veranlaſſet wird, ein Werk des Vorſa-
zes, der Ueberlegung, und nicht ein Werk der Be-
geiſterung iſt. Jene koͤnnte man im Gegenſaz dieſer
Originalwerke nennen.

Man ſiehet leicht, wieviel Vorzuͤge dieſe Originale
vor den Werken, die es nicht ſind, haben muͤſſen:
ſie ſind wahre Aeußerungen des Genies; da die an-
dern Schilderungen verſtellter nicht wuͤrklich vorhan-
dener Empfindungen ſind. Jene laſſen uns allemal
die Natur, dieſe nur die Kunſt ſehen. Ein Dichter
der von einem Gegenſtand bis zur lyriſchen Begei-
ſterung geruͤhrt worden, und denn ſingt, weil er
der Begierde das was er fuͤhlt auszudruͤken, nicht
wiederſtehen kann, dichtet eine Originalode, die ein
wahrer Abdruk des Zuſtandes ſeines Gemuͤths iſt.
Ein andermal aber fodern außer der Kunſt liegende
Veranlaſſungen eine Ode; oder er ſelbſt ſtellt ſich
vor, er ſey in einem Fall, in eine Lage, darin
er nicht iſt, ſucht Empfindungen hervor, die dem
Fall natuͤrlich ſind, die er aber nicht wuͤrklich hat,
und in dieſer angenommenen Stellung dichtet er.
Da muß freylich ein ganz anderes Werk entſtehen,
das uns mehr die Kunſt, als die Natur ſehen laͤßt.
Ein ſolches Werk iſt etwas betruͤgeriſches, damit man
uns, blos um die Kunſt zu zeigen, hintergehen will.

Auch große Originalgeiſter machen bisweilen ſol-
che Werke; die denn freylich weit unter den wahren
Originalen ſind, die aus dem vollen Gefuͤhl aus-
ſtroͤhmen. Der ſchlaue Kuͤnſtler ſucht den Betrug
zu verbergen, aber man merkt ihn doch. So fuͤhlt
man bey der Horaziſchen Ode auf den Baum, und
an der Ramleriſchen auf das Geſchuͤz, Kunſt und
nicht Ergießung der Natur. Es war Horazens
Ernſt nicht ſo gar ſehr auf den Pflanzer des Bau-
mes zu ſchimpfen, wie er ſich anſtellt: hier iſt mehr
Spaß, denn Ernſt. Mit voͤlliger Heiterkeit des
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Ori
Gemuͤthes, nahm der Dichter ſich vor, ſich anzu-
ſtellen, als wenn der gehabte Schreken ihm ſolche
Empfindungen verurſachet haͤtte; weil er uns zeigen
wollte, daß er ein guter Odendichter ſey.

Auf die Originalwerke der erſtern Art, koͤnnen
die Betrachtungen und Anmerkungen des naͤchſt
vorhergehenden Artikels angewendet werden. Da-
rum brauchen wir uns hier nicht in umſtaͤndliche
Betrachtung derſelben einzulaſſen. Wir wollen nur
noch anmerken, daß ein Werk von mehr als einer
Seite Original ſeyn koͤnne. Der ganze Stoff kann
entlehnt und die Behandlung deſſelben kann Original
ſeyn. So iſt in redenden Kuͤnſten ein Werk biswei-
len blos im Ausdruk Original, und der Stoff ſelbſt
hat eben nichts beſonderes. Jndeſſen, wie gering
auch der Theil der Kunſt, darin das Werk Original
iſt, ſeyn mag; ſo iſt ein ſolches Werk immer ſchaͤz-
bar, weil es wenigſtens etwas von der Kunſt er-
weitert.

Wir muͤſſen noch beſonders von den Originalen
der zweyten Art in den Werken der zeichnenden
Kuͤnſte ſprechen. Die Gewinnſucht hat eine Menge
Copeyen unter Originale geſtellt.

Es iſt alſo fuͤr Kenner und Liebhaber eine wichtige
Frage, ob es allemal moͤglich iſt, oder ob man es
wenigſtens durch fleißige Beobachtung und Erfah-
rung dahin bringen kann, mit Gewißheit zu ent-
ſcheiden, ob ein Werk ein Original iſt, oder nicht?

Die Erfahrung hat dieſe Frage noch nicht entſchei-
dend beantwortet, da man gewiſſe Zeugniſſe hat, daß
wuͤrklich Kenner vom erſten Rang ſind betrogen
worden. Es iſt vielleicht keine betraͤchtliche Samm-
lung von Gemaͤhlden, oder geſchnittenen Steinen,
wo nicht Copeyen fuͤr Originale gehalten werden.
Man iſt ſo gar uͤber einige Werke der erſten Art un-
gewiß, welche von zwey Gallerien, deren Beſizer
ſich ſchmeicheln das Original zu haben, es wuͤrklich
beſizet. Vaſari verſichert, daß Jalius Romanus
eine Copie nach Raphael fuͤr das Original gehalten
habe, ob gleich er ſelbſt an den Gewaͤndern des wah-
ren Originals gearbeitet hatte.

Die Regeln, die Originale zu kennen, laſſen ſich
nicht wol angeben. Denn, was man von der Frey-
heit der Bearbeitung, die das Original zeiget, und
von dem furchtſamen und geſuchten in der Copie
ſagt, iſt weder ſicher noch hinlaͤnglich genug. Es
kommt hier auf ein ſehr ſeines Gefuͤhl an, deſſen
Gruͤnde und Regeln ſich nicht beſchreiben laſſen.

Mit
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[864[846]/0281] Ori Ori Man koͤnnte das Wort auch noch in einer dritten Bedeutung nehmen, um dadurch die Werke zu be- zeichnen, die aus wahren Trieb des Kunſtgenies, aus wuͤrklicher, nicht nachgeahmter, oder verſtellter Empfindung entſtanden ſind. Naͤmlich, die wah- ren Originalkuͤnſtler arbeiten gemeiniglich aus Fuͤlle der Empfindung; weil ſie einen unwiederſtehlichen Trieb fuͤhlen, das was ſie wuͤrklich in der Phantaſie haben, oder was ſie lebhaft empfinden, durch ein Werk der Kunſt an den Tag zu legen. Hingegen geſchiehet es auch, das ein Werk nicht durch die Empfindung des Kuͤnſtlers, ſondern durch fremde Vorſtellung veranlaſſet wird, ein Werk des Vorſa- zes, der Ueberlegung, und nicht ein Werk der Be- geiſterung iſt. Jene koͤnnte man im Gegenſaz dieſer Originalwerke nennen. Man ſiehet leicht, wieviel Vorzuͤge dieſe Originale vor den Werken, die es nicht ſind, haben muͤſſen: ſie ſind wahre Aeußerungen des Genies; da die an- dern Schilderungen verſtellter nicht wuͤrklich vorhan- dener Empfindungen ſind. Jene laſſen uns allemal die Natur, dieſe nur die Kunſt ſehen. Ein Dichter der von einem Gegenſtand bis zur lyriſchen Begei- ſterung geruͤhrt worden, und denn ſingt, weil er der Begierde das was er fuͤhlt auszudruͤken, nicht wiederſtehen kann, dichtet eine Originalode, die ein wahrer Abdruk des Zuſtandes ſeines Gemuͤths iſt. Ein andermal aber fodern außer der Kunſt liegende Veranlaſſungen eine Ode; oder er ſelbſt ſtellt ſich vor, er ſey in einem Fall, in eine Lage, darin er nicht iſt, ſucht Empfindungen hervor, die dem Fall natuͤrlich ſind, die er aber nicht wuͤrklich hat, und in dieſer angenommenen Stellung dichtet er. Da muß freylich ein ganz anderes Werk entſtehen, das uns mehr die Kunſt, als die Natur ſehen laͤßt. Ein ſolches Werk iſt etwas betruͤgeriſches, damit man uns, blos um die Kunſt zu zeigen, hintergehen will. Auch große Originalgeiſter machen bisweilen ſol- che Werke; die denn freylich weit unter den wahren Originalen ſind, die aus dem vollen Gefuͤhl aus- ſtroͤhmen. Der ſchlaue Kuͤnſtler ſucht den Betrug zu verbergen, aber man merkt ihn doch. So fuͤhlt man bey der Horaziſchen Ode auf den Baum, und an der Ramleriſchen auf das Geſchuͤz, Kunſt und nicht Ergießung der Natur. Es war Horazens Ernſt nicht ſo gar ſehr auf den Pflanzer des Bau- mes zu ſchimpfen, wie er ſich anſtellt: hier iſt mehr Spaß, denn Ernſt. Mit voͤlliger Heiterkeit des Gemuͤthes, nahm der Dichter ſich vor, ſich anzu- ſtellen, als wenn der gehabte Schreken ihm ſolche Empfindungen verurſachet haͤtte; weil er uns zeigen wollte, daß er ein guter Odendichter ſey. Auf die Originalwerke der erſtern Art, koͤnnen die Betrachtungen und Anmerkungen des naͤchſt vorhergehenden Artikels angewendet werden. Da- rum brauchen wir uns hier nicht in umſtaͤndliche Betrachtung derſelben einzulaſſen. Wir wollen nur noch anmerken, daß ein Werk von mehr als einer Seite Original ſeyn koͤnne. Der ganze Stoff kann entlehnt und die Behandlung deſſelben kann Original ſeyn. So iſt in redenden Kuͤnſten ein Werk biswei- len blos im Ausdruk Original, und der Stoff ſelbſt hat eben nichts beſonderes. Jndeſſen, wie gering auch der Theil der Kunſt, darin das Werk Original iſt, ſeyn mag; ſo iſt ein ſolches Werk immer ſchaͤz- bar, weil es wenigſtens etwas von der Kunſt er- weitert. Wir muͤſſen noch beſonders von den Originalen der zweyten Art in den Werken der zeichnenden Kuͤnſte ſprechen. Die Gewinnſucht hat eine Menge Copeyen unter Originale geſtellt. Es iſt alſo fuͤr Kenner und Liebhaber eine wichtige Frage, ob es allemal moͤglich iſt, oder ob man es wenigſtens durch fleißige Beobachtung und Erfah- rung dahin bringen kann, mit Gewißheit zu ent- ſcheiden, ob ein Werk ein Original iſt, oder nicht? Die Erfahrung hat dieſe Frage noch nicht entſchei- dend beantwortet, da man gewiſſe Zeugniſſe hat, daß wuͤrklich Kenner vom erſten Rang ſind betrogen worden. Es iſt vielleicht keine betraͤchtliche Samm- lung von Gemaͤhlden, oder geſchnittenen Steinen, wo nicht Copeyen fuͤr Originale gehalten werden. Man iſt ſo gar uͤber einige Werke der erſten Art un- gewiß, welche von zwey Gallerien, deren Beſizer ſich ſchmeicheln das Original zu haben, es wuͤrklich beſizet. Vaſari verſichert, daß Jalius Romanus eine Copie nach Raphael fuͤr das Original gehalten habe, ob gleich er ſelbſt an den Gewaͤndern des wah- ren Originals gearbeitet hatte. Die Regeln, die Originale zu kennen, laſſen ſich nicht wol angeben. Denn, was man von der Frey- heit der Bearbeitung, die das Original zeiget, und von dem furchtſamen und geſuchten in der Copie ſagt, iſt weder ſicher noch hinlaͤnglich genug. Es kommt hier auf ein ſehr ſeines Gefuͤhl an, deſſen Gruͤnde und Regeln ſich nicht beſchreiben laſſen. Mit

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 864[846]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/281>, abgerufen am 16.07.2024.