Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Rec
tenaccord anschlägt; oder man thut, als ob man
schliessen wollte, und lässet nach dem Accord der
Dominante die erste Verwechslung des Accordes
der Tonica hören. So könnte das erste der gege-
benen Exempel, wenn die Rede noch in derselben
Empfindung fortströmte, ohngeachtet des Schlußes
der Periode, die Begleitung haben, wie bey XXIV+.
Dadurch bewürkt man den Schlußfall der Periode
und zugleich die Erwartung einer folgenden.

Jn dem Beyspiel XXV sind die zwey förmli-
chen Schlußcadenzen nach dem ersten und dritten
Saze völlig unschiklich angebracht. Da die Em-
pfindung der Rede durchgängig gleich ist, so hätten
diese Schlußcadenzen auch vermieden, und angezeig-
termaaßen behandelt werden sollen. Nach den Wor-
ten: sie lagern sich, hat der Tonsezer einen eben so
wesentlichen Fehler begangen, daß er in der Recita-
tivstimme keine Pause gesezt hat. Ramlers erzäh-
lende Recitative sind nicht Erzählungen eines Evan-
gelisten, der gesehen hat, sondern eines empfin-
dungsvollen Christen, der sieht, und bey allem, was
er sieht, stille steht und fühlt. Darum hätten in
dem Recitativ die zwey Säze, die der Dichter aus
guten Ursachen durch ein Punktum von einander ge-
trennet hatte, nicht so, wie veni, vidi, vici ohne
allen Absaz in einander geschlungen seyn sollen.

Ein besseres Beyspiel zur Erläuterung dieser Re-
gel von den Cadenzen ist bey XXVI aus dem Tod
Jesu von Graun. Nach den Worten dein Wille
soll geschehn,
ist, wie es der Absaz der Worte mit
der folgenden Periode erfodert, eine förmliche Schluß-
cadenz angebracht. Die übrigen Schlüsse der Pe-
riode sind, da die Empfindung der Rede gleich bleibt,
nur in der Recitativstimme allein fühlbar gemacht.

Außer den drey angezeigten Arten, den Endfall ei-
ner Periode, die keine förmliche Schlußperiode ist, zu
behandeln, ist noch eine vierte, die zugleich von Aus-
druk und sehr mannig faltig ist. Diese besteht darin,
daß man nach der Cadenz der Recitativstimme, in
der Begleitung den Dominantenaccord anschlägt,
und anstatt nach demselben den Accord der Tonica
hören zu lassen, sogleich eine andere nach Beschaf-
fenheit des Ausdruks mehr oder weniger entlegene
Tonart antritt: Z. E.

[Abbildung] [Spaltenumbruch]
Rec

schreitet man so fort, wie bey XXVII. oder in Moll
statt: [Abbildung]
wie bey XXVIII.

Alle diese Cadenzen sind von leidenschaftlichem Aus-
drük; doch schikt sich eine für der andern mehr
oder weniger zu diesem oder jenem Ausdruk. So
ist z. B.

[Abbildung]

heftig und geschikt zu steigenden Empfindungen;
hingegen ist diese Cadenz
[Abbildung] geschikter in sinkenden Leidenschaften. Matt und
traurig ist diese:
[Abbildung] wenn man nemlich statt des Sextenaccordes von b E,
den C duraccord erwartet hat. Es würde zu
weitläuftig seyn, von jeder angezeigten Fortschrei-
tung Beyspiele zu geben. Die Werle guter Sang-
meister, als Grauns, Händels, Hassens, sind voll
davon. Jn Opern, wo Personen von verschiedenen
Affekten mit einander recitiren, sind dergleichen Ca-
denzen unentbehrlich. Anfänger müssen darauf alle
ihre Aufmerksamkeit wenden, und vornemlich dabey
auf den Sinn der Worte, und auf die wechselseitige
Empfindung der recitirenden Personen Acht haben.

Jn Ansehung der männlichen und weiblichen Ca-
denzen ist noch anzumerken, daß da die erstere z. E.

[Abbildung]

durch den Vortrag einen Vorschlag vor der lezten
Note erhält, als wenn sie so geschrieben wäre:
[Abbildung] leztere hingegen, wenn sie auch, wie einige im Ge-
brauch haben, folgendergestalt geschrieben ist:

[Abbildung]

den-

[Spaltenumbruch]

Rec
tenaccord anſchlaͤgt; oder man thut, als ob man
ſchlieſſen wollte, und laͤſſet nach dem Accord der
Dominante die erſte Verwechslung des Accordes
der Tonica hoͤren. So koͤnnte das erſte der gege-
benen Exempel, wenn die Rede noch in derſelben
Empfindung fortſtroͤmte, ohngeachtet des Schlußes
der Periode, die Begleitung haben, wie bey XXIV†.
Dadurch bewuͤrkt man den Schlußfall der Periode
und zugleich die Erwartung einer folgenden.

Jn dem Beyſpiel XXV ſind die zwey foͤrmli-
chen Schlußcadenzen nach dem erſten und dritten
Saze voͤllig unſchiklich angebracht. Da die Em-
pfindung der Rede durchgaͤngig gleich iſt, ſo haͤtten
dieſe Schlußcadenzen auch vermieden, und angezeig-
termaaßen behandelt werden ſollen. Nach den Wor-
ten: ſie lagern ſich, hat der Tonſezer einen eben ſo
weſentlichen Fehler begangen, daß er in der Recita-
tivſtimme keine Pauſe geſezt hat. Ramlers erzaͤh-
lende Recitative ſind nicht Erzaͤhlungen eines Evan-
geliſten, der geſehen hat, ſondern eines empfin-
dungsvollen Chriſten, der ſieht, und bey allem, was
er ſieht, ſtille ſteht und fuͤhlt. Darum haͤtten in
dem Recitativ die zwey Saͤze, die der Dichter aus
guten Urſachen durch ein Punktum von einander ge-
trennet hatte, nicht ſo, wie veni, vidi, vici ohne
allen Abſaz in einander geſchlungen ſeyn ſollen.

Ein beſſeres Beyſpiel zur Erlaͤuterung dieſer Re-
gel von den Cadenzen iſt bey XXVI aus dem Tod
Jeſu von Graun. Nach den Worten dein Wille
ſoll geſchehn,
iſt, wie es der Abſaz der Worte mit
der folgenden Periode erfodert, eine foͤrmliche Schluß-
cadenz angebracht. Die uͤbrigen Schluͤſſe der Pe-
riode ſind, da die Empfindung der Rede gleich bleibt,
nur in der Recitativſtimme allein fuͤhlbar gemacht.

Außer den drey angezeigten Arten, den Endfall ei-
ner Periode, die keine foͤrmliche Schlußperiode iſt, zu
behandeln, iſt noch eine vierte, die zugleich von Aus-
druk und ſehr mannig faltig iſt. Dieſe beſteht darin,
daß man nach der Cadenz der Recitativſtimme, in
der Begleitung den Dominantenaccord anſchlaͤgt,
und anſtatt nach demſelben den Accord der Tonica
hoͤren zu laſſen, ſogleich eine andere nach Beſchaf-
fenheit des Ausdruks mehr oder weniger entlegene
Tonart antritt: Z. E.

[Abbildung] [Spaltenumbruch]
Rec

ſchreitet man ſo fort, wie bey XXVII. oder in Moll
ſtatt: [Abbildung]
wie bey XXVIII.

Alle dieſe Cadenzen ſind von leidenſchaftlichem Aus-
druͤk; doch ſchikt ſich eine fuͤr der andern mehr
oder weniger zu dieſem oder jenem Ausdruk. So
iſt z. B.

[Abbildung]

heftig und geſchikt zu ſteigenden Empfindungen;
hingegen iſt dieſe Cadenz
[Abbildung] geſchikter in ſinkenden Leidenſchaften. Matt und
traurig iſt dieſe:
[Abbildung] wenn man nemlich ſtatt des Sextenaccordes von b E,
den C duraccord erwartet hat. Es wuͤrde zu
weitlaͤuftig ſeyn, von jeder angezeigten Fortſchrei-
tung Beyſpiele zu geben. Die Werle guter Sang-
meiſter, als Grauns, Haͤndels, Haſſens, ſind voll
davon. Jn Opern, wo Perſonen von verſchiedenen
Affekten mit einander recitiren, ſind dergleichen Ca-
denzen unentbehrlich. Anfaͤnger muͤſſen darauf alle
ihre Aufmerkſamkeit wenden, und vornemlich dabey
auf den Sinn der Worte, und auf die wechſelſeitige
Empfindung der recitirenden Perſonen Acht haben.

Jn Anſehung der maͤnnlichen und weiblichen Ca-
denzen iſt noch anzumerken, daß da die erſtere z. E.

[Abbildung]

durch den Vortrag einen Vorſchlag vor der lezten
Note erhaͤlt, als wenn ſie ſo geſchrieben waͤre:
[Abbildung] leztere hingegen, wenn ſie auch, wie einige im Ge-
brauch haben, folgendergeſtalt geſchrieben iſt:

[Abbildung]

den-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0379" n="950[932]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Rec</hi></fw><lb/>
tenaccord an&#x017F;chla&#x0364;gt; oder man thut, als ob man<lb/>
&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en wollte, und la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et nach dem Accord der<lb/>
Dominante die er&#x017F;te Verwechslung des Accordes<lb/>
der Tonica ho&#x0364;ren. So ko&#x0364;nnte das er&#x017F;te der gege-<lb/>
benen Exempel, wenn die Rede noch in der&#x017F;elben<lb/>
Empfindung fort&#x017F;tro&#x0364;mte, ohngeachtet des Schlußes<lb/>
der Periode, die Begleitung haben, wie bey <hi rendition="#aq">XXIV</hi>&#x2020;.<lb/>
Dadurch bewu&#x0364;rkt man den Schlußfall der Periode<lb/>
und zugleich die Erwartung einer folgenden.</p><lb/>
          <p>Jn dem Bey&#x017F;piel <hi rendition="#aq">XXV</hi> &#x017F;ind die zwey fo&#x0364;rmli-<lb/>
chen Schlußcadenzen nach dem er&#x017F;ten und dritten<lb/>
Saze vo&#x0364;llig un&#x017F;chiklich angebracht. Da die Em-<lb/>
pfindung der Rede durchga&#x0364;ngig gleich i&#x017F;t, &#x017F;o ha&#x0364;tten<lb/>
die&#x017F;e Schlußcadenzen auch vermieden, und angezeig-<lb/>
termaaßen behandelt werden &#x017F;ollen. Nach den Wor-<lb/>
ten: &#x017F;ie <hi rendition="#fr">lagern &#x017F;ich,</hi> hat der Ton&#x017F;ezer einen eben &#x017F;o<lb/>
we&#x017F;entlichen Fehler begangen, daß er in der Recita-<lb/>
tiv&#x017F;timme keine Pau&#x017F;e ge&#x017F;ezt hat. Ramlers erza&#x0364;h-<lb/>
lende Recitative &#x017F;ind nicht Erza&#x0364;hlungen eines Evan-<lb/>
geli&#x017F;ten, der ge&#x017F;ehen hat, &#x017F;ondern eines empfin-<lb/>
dungsvollen Chri&#x017F;ten, der &#x017F;ieht, und bey allem, was<lb/>
er &#x017F;ieht, &#x017F;tille &#x017F;teht und fu&#x0364;hlt. Darum ha&#x0364;tten in<lb/>
dem Recitativ die zwey Sa&#x0364;ze, die der Dichter aus<lb/>
guten Ur&#x017F;achen durch ein Punktum von einander ge-<lb/>
trennet hatte, nicht &#x017F;o, wie <hi rendition="#aq">veni, vidi, vici</hi> ohne<lb/>
allen Ab&#x017F;az in einander ge&#x017F;chlungen &#x017F;eyn &#x017F;ollen.</p><lb/>
          <p>Ein be&#x017F;&#x017F;eres Bey&#x017F;piel zur Erla&#x0364;uterung die&#x017F;er Re-<lb/>
gel von den Cadenzen i&#x017F;t bey <hi rendition="#aq">XXVI</hi> aus dem Tod<lb/>
Je&#x017F;u von Graun. Nach den Worten <hi rendition="#fr">dein Wille<lb/>
&#x017F;oll ge&#x017F;chehn,</hi> i&#x017F;t, wie es der Ab&#x017F;az der Worte mit<lb/>
der folgenden Periode erfodert, eine fo&#x0364;rmliche Schluß-<lb/>
cadenz angebracht. Die u&#x0364;brigen Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e der Pe-<lb/>
riode &#x017F;ind, da die Empfindung der Rede gleich bleibt,<lb/>
nur in der Recitativ&#x017F;timme allein fu&#x0364;hlbar gemacht.</p><lb/>
          <p>Außer den drey angezeigten Arten, den Endfall ei-<lb/>
ner Periode, die keine fo&#x0364;rmliche Schlußperiode i&#x017F;t, zu<lb/>
behandeln, i&#x017F;t noch eine vierte, die zugleich von Aus-<lb/>
druk und &#x017F;ehr mannig faltig i&#x017F;t. Die&#x017F;e be&#x017F;teht darin,<lb/>
daß man nach der Cadenz der Recitativ&#x017F;timme, in<lb/>
der Begleitung den Dominantenaccord an&#x017F;chla&#x0364;gt,<lb/>
und an&#x017F;tatt nach dem&#x017F;elben den Accord der Tonica<lb/>
ho&#x0364;ren zu la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ogleich eine andere nach Be&#x017F;chaf-<lb/>
fenheit des Ausdruks mehr oder weniger entlegene<lb/>
Tonart antritt: Z. E.</p><lb/>
          <figure/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Rec</hi> </fw><lb/>
          <p>&#x017F;chreitet man &#x017F;o fort, wie bey <hi rendition="#aq">XXVII.</hi> oder in Moll<lb/>
&#x017F;tatt: <figure/><lb/>
wie bey <hi rendition="#aq">XXVIII.</hi></p><lb/>
          <p>Alle die&#x017F;e Cadenzen &#x017F;ind von leiden&#x017F;chaftlichem Aus-<lb/>
dru&#x0364;k; doch &#x017F;chikt &#x017F;ich eine fu&#x0364;r der andern mehr<lb/>
oder weniger zu die&#x017F;em oder jenem Ausdruk. So<lb/>
i&#x017F;t z. B.</p><lb/>
          <figure/>
          <p>heftig und ge&#x017F;chikt zu &#x017F;teigenden Empfindungen;<lb/>
hingegen i&#x017F;t die&#x017F;e Cadenz<lb/><figure/> ge&#x017F;chikter in &#x017F;inkenden Leiden&#x017F;chaften. Matt und<lb/>
traurig i&#x017F;t die&#x017F;e:<lb/><figure/> wenn man nemlich &#x017F;tatt des Sextenaccordes von <hi rendition="#aq">b E,</hi><lb/>
den <hi rendition="#aq">C</hi> duraccord erwartet hat. Es wu&#x0364;rde zu<lb/>
weitla&#x0364;uftig &#x017F;eyn, von jeder angezeigten Fort&#x017F;chrei-<lb/>
tung Bey&#x017F;piele zu geben. Die Werle guter Sang-<lb/>
mei&#x017F;ter, als Grauns, Ha&#x0364;ndels, Ha&#x017F;&#x017F;ens, &#x017F;ind voll<lb/>
davon. Jn Opern, wo Per&#x017F;onen von ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Affekten mit einander recitiren, &#x017F;ind dergleichen Ca-<lb/>
denzen unentbehrlich. Anfa&#x0364;nger mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en darauf alle<lb/>
ihre Aufmerk&#x017F;amkeit wenden, und vornemlich dabey<lb/>
auf den Sinn der Worte, und auf die wech&#x017F;el&#x017F;eitige<lb/>
Empfindung der recitirenden Per&#x017F;onen Acht haben.</p><lb/>
          <p>Jn An&#x017F;ehung der ma&#x0364;nnlichen und weiblichen Ca-<lb/>
denzen i&#x017F;t noch anzumerken, daß da die er&#x017F;tere z. E.</p><lb/>
          <figure/>
          <p>durch den Vortrag einen Vor&#x017F;chlag vor der lezten<lb/>
Note erha&#x0364;lt, als wenn &#x017F;ie &#x017F;o ge&#x017F;chrieben wa&#x0364;re:<lb/><figure/> leztere hingegen, wenn &#x017F;ie auch, wie einige im Ge-<lb/>
brauch haben, folgenderge&#x017F;talt ge&#x017F;chrieben i&#x017F;t:<lb/><figure/> <fw place="bottom" type="catch">den-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[950[932]/0379] Rec Rec tenaccord anſchlaͤgt; oder man thut, als ob man ſchlieſſen wollte, und laͤſſet nach dem Accord der Dominante die erſte Verwechslung des Accordes der Tonica hoͤren. So koͤnnte das erſte der gege- benen Exempel, wenn die Rede noch in derſelben Empfindung fortſtroͤmte, ohngeachtet des Schlußes der Periode, die Begleitung haben, wie bey XXIV†. Dadurch bewuͤrkt man den Schlußfall der Periode und zugleich die Erwartung einer folgenden. Jn dem Beyſpiel XXV ſind die zwey foͤrmli- chen Schlußcadenzen nach dem erſten und dritten Saze voͤllig unſchiklich angebracht. Da die Em- pfindung der Rede durchgaͤngig gleich iſt, ſo haͤtten dieſe Schlußcadenzen auch vermieden, und angezeig- termaaßen behandelt werden ſollen. Nach den Wor- ten: ſie lagern ſich, hat der Tonſezer einen eben ſo weſentlichen Fehler begangen, daß er in der Recita- tivſtimme keine Pauſe geſezt hat. Ramlers erzaͤh- lende Recitative ſind nicht Erzaͤhlungen eines Evan- geliſten, der geſehen hat, ſondern eines empfin- dungsvollen Chriſten, der ſieht, und bey allem, was er ſieht, ſtille ſteht und fuͤhlt. Darum haͤtten in dem Recitativ die zwey Saͤze, die der Dichter aus guten Urſachen durch ein Punktum von einander ge- trennet hatte, nicht ſo, wie veni, vidi, vici ohne allen Abſaz in einander geſchlungen ſeyn ſollen. Ein beſſeres Beyſpiel zur Erlaͤuterung dieſer Re- gel von den Cadenzen iſt bey XXVI aus dem Tod Jeſu von Graun. Nach den Worten dein Wille ſoll geſchehn, iſt, wie es der Abſaz der Worte mit der folgenden Periode erfodert, eine foͤrmliche Schluß- cadenz angebracht. Die uͤbrigen Schluͤſſe der Pe- riode ſind, da die Empfindung der Rede gleich bleibt, nur in der Recitativſtimme allein fuͤhlbar gemacht. Außer den drey angezeigten Arten, den Endfall ei- ner Periode, die keine foͤrmliche Schlußperiode iſt, zu behandeln, iſt noch eine vierte, die zugleich von Aus- druk und ſehr mannig faltig iſt. Dieſe beſteht darin, daß man nach der Cadenz der Recitativſtimme, in der Begleitung den Dominantenaccord anſchlaͤgt, und anſtatt nach demſelben den Accord der Tonica hoͤren zu laſſen, ſogleich eine andere nach Beſchaf- fenheit des Ausdruks mehr oder weniger entlegene Tonart antritt: Z. E. [Abbildung] ſchreitet man ſo fort, wie bey XXVII. oder in Moll ſtatt: [Abbildung] wie bey XXVIII. Alle dieſe Cadenzen ſind von leidenſchaftlichem Aus- druͤk; doch ſchikt ſich eine fuͤr der andern mehr oder weniger zu dieſem oder jenem Ausdruk. So iſt z. B. [Abbildung] heftig und geſchikt zu ſteigenden Empfindungen; hingegen iſt dieſe Cadenz [Abbildung] geſchikter in ſinkenden Leidenſchaften. Matt und traurig iſt dieſe: [Abbildung] wenn man nemlich ſtatt des Sextenaccordes von b E, den C duraccord erwartet hat. Es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſeyn, von jeder angezeigten Fortſchrei- tung Beyſpiele zu geben. Die Werle guter Sang- meiſter, als Grauns, Haͤndels, Haſſens, ſind voll davon. Jn Opern, wo Perſonen von verſchiedenen Affekten mit einander recitiren, ſind dergleichen Ca- denzen unentbehrlich. Anfaͤnger muͤſſen darauf alle ihre Aufmerkſamkeit wenden, und vornemlich dabey auf den Sinn der Worte, und auf die wechſelſeitige Empfindung der recitirenden Perſonen Acht haben. Jn Anſehung der maͤnnlichen und weiblichen Ca- denzen iſt noch anzumerken, daß da die erſtere z. E. [Abbildung] durch den Vortrag einen Vorſchlag vor der lezten Note erhaͤlt, als wenn ſie ſo geſchrieben waͤre: [Abbildung] leztere hingegen, wenn ſie auch, wie einige im Ge- brauch haben, folgendergeſtalt geſchrieben iſt: [Abbildung] den-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/379
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 950[932]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/379>, abgerufen am 24.11.2024.