Dieser Theil würde den eigentlichen Redner zu seinem Augenmerk haben, blos in so fern er förm- liche Reden, deren Art im vorhergehenden Artikel bestimmt worden, zu verfertigen hat. Dieser Theil enthielte blos die Theorie solcher Reden. Der Plan dieses Theiles wäre nun nach den angenommenen Einschränkungen leicht zu machen.
Nämlich, zu jeder Rede gehören, wie viele der Alten richtig angemerkt haben, folgende Din- ge. 1. Die Erfindung der Gedanken; 2. die An- ordnung; 3. der Ausdruk derselben; 4. in ge- wissen Fällen die Einprägung der Rede in das Ge- dächtnis, und 5. der mündliche Vortrag derselben. Wenn diese Dinge vollkommen sind, so ist es auch die Rede.
Also hat die Rhetorik dem Redner Anweisung zu geben, wie er als Redner in jedem dieser Punkte zur Vollkommenheit gelange. Dabey muß man ihn aber in Ansehung jedes besondern Punkts, auf der einen Seite von dem gemeinen Sprecher, und von dem, der nur Wolredenheit fucht; auf der an- dern Seite von dem Dichter, genau unterscheiden. Man muß über jeden Punkt das, was der Redner mit jenen gemein hat, voraussezen und übergehen, und das, was der Dichter für sich allein voraus hat, nicht berühren, sondern gerade das betreiben, was dem Redner eigen ist.
Nachdem man ihm also so bestimmt, als es sich thun läßt, gezeiget hat, wodurch seine Rede sich von jeder andern auszeichnet, und was sie eigenes hat, muß auch bey jedem zur Rede gehörigen Punkt, blos über dieses ihm eigene, gesprochen werden. Jn An- sehung der Erfindung, oder Auswahl der Gedanken, hat man nicht nöthig ihm die Logik zu wiederholen, die ihn lehret, wie er zu klaren oder zu deutlichen Begriffen, zu einem richtigen Urtheil und zu gründ- lichem Schlüßen gelange; noch weniger därf man ihn in allen Wissenschaften unterrichten, damit er eine Kenntnis der Sachen, über die er zu reden hat, bekomme; dieses hat er mit jedem andern Menschen, der zu reden hat, gemein. Man muß also voraus- sezen, daß der Redner gelernt habe, sich bestimmte, klare oder deutliche Begriffe von Dingen zu machen, daß er richtig zu urtheilen, und zu schließen im Stande sey, daß er Kenntnis von den Dingen habe, über die er reden will. Aber wie er als Redner, wo es nöthig ist, Begriffe, Urtheile und Schlüsse, auf die ihm eigene Art zu bilden habe, und wie er über [Spaltenumbruch]
Red
seine Materie, das, was er, als Redner zu sagen hat, erfinden, oder wählen soll, muß die Rhetorik ihn lehren. Der Redner hat eine eigene Art an- dern Begriffe beyzubringen, und eine eigene Art Urtheile zu bestätigen, und Säze zu erweisen. Da- bey allein hält sich die Rhetorik auf.
Eben so verfährt sie über die andern zur Rede ge- hörigen Punkte. Wann z. B. vom Ausdruk die Red ist, so braucht man ihm nicht zu sagen, wie er grammatisch rein, und verständlich sprechen soll; man hat nicht nöthig ihm alle Figuren und Tropen der Rede, alle Formen des Redesazes vorzuzählen und zu erklären, diese Kenntnisse hat er mit dem, der die Kunst der gemeinen Rede, und dem der blos die Wolredenheit gründlich verstehen will, gemein. Aber was für Figuren und Tropen ihm bey Gelegen- heit vorzüglich dienen, wie er die ihm eigenen Pe- rioden zu bearbeiten habe; was zu dem eigentlichen rednerischen oder oratorischen Stil- und Ton erfodert werde, und wie er überall den schiklichsten treffen soll, dies alles gehört in die Rhetorik. Und so müßte jeder der fünf angezeigten Punkte für den Redner besonders behandelt werden. Dieses ist, wie ich glaube hinlänglich, um den Weg zu zeigen, wie man zu einem gründlichen und bestimmten Plan der Redekunst kommen könne.
Wer dieses Feld aufs neue nach einem durch die angegebenen Grundsäze bestimmten Plan zu bearbei- ten Lust hätte, der würde in dem, was Aristoteles, Dionysius von Halicarnaß, Hermogenes, Longinus, der Verfasser des kleinen Werks, das insgemein den Namen des Demetrius Phaleräus trägt, und denn in den verschiedenen Werken des Cicero über die Theorie der Kunst, und der fürtreflichen Institutione Oratoria des Quintilians, beynahe jeden Punkt gründ- lich behandelt finden. Der lezte der angeführten Schriftsteller ist allein, beynahe vollständig; von den andern hat jeder wenigstens einige Punkte mit großer Gründlichkeit behandelt. Also käm es haupt- sächlich nur auf ein wolüberlegtes Zusammentragen, der schon vorhandenen Lehren an.
Schon lange vor den Zeiten des Sokrates waren Rednerschulen in Athen; weil seit der Zeit, da sich die Regierungsform dieses Staates gegen die De- mokratie lenkte, die Beredsamkeit das sicherste Mit- tel war, sich zu den höchsten Staatsbedienungen heraufzuschwingen, und den großen Einfluß auf öffentliche Geschäfte zu haben. Alles, was in Athen
vor-
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Dieſer Theil wuͤrde den eigentlichen Redner zu ſeinem Augenmerk haben, blos in ſo fern er foͤrm- liche Reden, deren Art im vorhergehenden Artikel beſtimmt worden, zu verfertigen hat. Dieſer Theil enthielte blos die Theorie ſolcher Reden. Der Plan dieſes Theiles waͤre nun nach den angenommenen Einſchraͤnkungen leicht zu machen.
Naͤmlich, zu jeder Rede gehoͤren, wie viele der Alten richtig angemerkt haben, folgende Din- ge. 1. Die Erfindung der Gedanken; 2. die An- ordnung; 3. der Ausdruk derſelben; 4. in ge- wiſſen Faͤllen die Einpraͤgung der Rede in das Ge- daͤchtnis, und 5. der muͤndliche Vortrag derſelben. Wenn dieſe Dinge vollkommen ſind, ſo iſt es auch die Rede.
Alſo hat die Rhetorik dem Redner Anweiſung zu geben, wie er als Redner in jedem dieſer Punkte zur Vollkommenheit gelange. Dabey muß man ihn aber in Anſehung jedes beſondern Punkts, auf der einen Seite von dem gemeinen Sprecher, und von dem, der nur Wolredenheit fucht; auf der an- dern Seite von dem Dichter, genau unterſcheiden. Man muß uͤber jeden Punkt das, was der Redner mit jenen gemein hat, vorausſezen und uͤbergehen, und das, was der Dichter fuͤr ſich allein voraus hat, nicht beruͤhren, ſondern gerade das betreiben, was dem Redner eigen iſt.
Nachdem man ihm alſo ſo beſtimmt, als es ſich thun laͤßt, gezeiget hat, wodurch ſeine Rede ſich von jeder andern auszeichnet, und was ſie eigenes hat, muß auch bey jedem zur Rede gehoͤrigen Punkt, blos uͤber dieſes ihm eigene, geſprochen werden. Jn An- ſehung der Erfindung, oder Auswahl der Gedanken, hat man nicht noͤthig ihm die Logik zu wiederholen, die ihn lehret, wie er zu klaren oder zu deutlichen Begriffen, zu einem richtigen Urtheil und zu gruͤnd- lichem Schluͤßen gelange; noch weniger daͤrf man ihn in allen Wiſſenſchaften unterrichten, damit er eine Kenntnis der Sachen, uͤber die er zu reden hat, bekomme; dieſes hat er mit jedem andern Menſchen, der zu reden hat, gemein. Man muß alſo voraus- ſezen, daß der Redner gelernt habe, ſich beſtimmte, klare oder deutliche Begriffe von Dingen zu machen, daß er richtig zu urtheilen, und zu ſchließen im Stande ſey, daß er Kenntnis von den Dingen habe, uͤber die er reden will. Aber wie er als Redner, wo es noͤthig iſt, Begriffe, Urtheile und Schluͤſſe, auf die ihm eigene Art zu bilden habe, und wie er uͤber [Spaltenumbruch]
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ſeine Materie, das, was er, als Redner zu ſagen hat, erfinden, oder waͤhlen ſoll, muß die Rhetorik ihn lehren. Der Redner hat eine eigene Art an- dern Begriffe beyzubringen, und eine eigene Art Urtheile zu beſtaͤtigen, und Saͤze zu erweiſen. Da- bey allein haͤlt ſich die Rhetorik auf.
Eben ſo verfaͤhrt ſie uͤber die andern zur Rede ge- hoͤrigen Punkte. Wann z. B. vom Ausdruk die Red iſt, ſo braucht man ihm nicht zu ſagen, wie er grammatiſch rein, und verſtaͤndlich ſprechen ſoll; man hat nicht noͤthig ihm alle Figuren und Tropen der Rede, alle Formen des Redeſazes vorzuzaͤhlen und zu erklaͤren, dieſe Kenntniſſe hat er mit dem, der die Kunſt der gemeinen Rede, und dem der blos die Wolredenheit gruͤndlich verſtehen will, gemein. Aber was fuͤr Figuren und Tropen ihm bey Gelegen- heit vorzuͤglich dienen, wie er die ihm eigenen Pe- rioden zu bearbeiten habe; was zu dem eigentlichen redneriſchen oder oratoriſchen Stil- und Ton erfodert werde, und wie er uͤberall den ſchiklichſten treffen ſoll, dies alles gehoͤrt in die Rhetorik. Und ſo muͤßte jeder der fuͤnf angezeigten Punkte fuͤr den Redner beſonders behandelt werden. Dieſes iſt, wie ich glaube hinlaͤnglich, um den Weg zu zeigen, wie man zu einem gruͤndlichen und beſtimmten Plan der Redekunſt kommen koͤnne.
Wer dieſes Feld aufs neue nach einem durch die angegebenen Grundſaͤze beſtimmten Plan zu bearbei- ten Luſt haͤtte, der wuͤrde in dem, was Ariſtoteles, Dionyſius von Halicarnaß, Hermogenes, Longinus, der Verfaſſer des kleinen Werks, das insgemein den Namen des Demetrius Phaleraͤus traͤgt, und denn in den verſchiedenen Werken des Cicero uͤber die Theorie der Kunſt, und der fuͤrtreflichen Inſtitutione Oratoria des Quintilians, beynahe jeden Punkt gruͤnd- lich behandelt finden. Der lezte der angefuͤhrten Schriftſteller iſt allein, beynahe vollſtaͤndig; von den andern hat jeder wenigſtens einige Punkte mit großer Gruͤndlichkeit behandelt. Alſo kaͤm es haupt- ſaͤchlich nur auf ein woluͤberlegtes Zuſammentragen, der ſchon vorhandenen Lehren an.
Schon lange vor den Zeiten des Sokrates waren Rednerſchulen in Athen; weil ſeit der Zeit, da ſich die Regierungsform dieſes Staates gegen die De- mokratie lenkte, die Beredſamkeit das ſicherſte Mit- tel war, ſich zu den hoͤchſten Staatsbedienungen heraufzuſchwingen, und den großen Einfluß auf oͤffentliche Geſchaͤfte zu haben. Alles, was in Athen
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liche Reden, deren Art im vorhergehenden Artikel
beſtimmt worden, zu verfertigen hat. Dieſer Theil
enthielte blos die Theorie ſolcher Reden. Der Plan
dieſes Theiles waͤre nun nach den angenommenen
Einſchraͤnkungen leicht zu machen.
Naͤmlich, zu jeder Rede gehoͤren, wie viele
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ge. 1. Die Erfindung der Gedanken; 2. die An-
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daͤchtnis, und 5. der muͤndliche Vortrag derſelben.
Wenn dieſe Dinge vollkommen ſind, ſo iſt es auch
die Rede.
Alſo hat die Rhetorik dem Redner Anweiſung zu
geben, wie er als Redner in jedem dieſer Punkte
zur Vollkommenheit gelange. Dabey muß man
ihn aber in Anſehung jedes beſondern Punkts, auf
der einen Seite von dem gemeinen Sprecher, und
von dem, der nur Wolredenheit fucht; auf der an-
dern Seite von dem Dichter, genau unterſcheiden.
Man muß uͤber jeden Punkt das, was der Redner
mit jenen gemein hat, vorausſezen und uͤbergehen,
und das, was der Dichter fuͤr ſich allein voraus hat,
nicht beruͤhren, ſondern gerade das betreiben, was
dem Redner eigen iſt.
Nachdem man ihm alſo ſo beſtimmt, als es ſich
thun laͤßt, gezeiget hat, wodurch ſeine Rede ſich von
jeder andern auszeichnet, und was ſie eigenes hat,
muß auch bey jedem zur Rede gehoͤrigen Punkt, blos
uͤber dieſes ihm eigene, geſprochen werden. Jn An-
ſehung der Erfindung, oder Auswahl der Gedanken,
hat man nicht noͤthig ihm die Logik zu wiederholen,
die ihn lehret, wie er zu klaren oder zu deutlichen
Begriffen, zu einem richtigen Urtheil und zu gruͤnd-
lichem Schluͤßen gelange; noch weniger daͤrf man
ihn in allen Wiſſenſchaften unterrichten, damit er
eine Kenntnis der Sachen, uͤber die er zu reden hat,
bekomme; dieſes hat er mit jedem andern Menſchen,
der zu reden hat, gemein. Man muß alſo voraus-
ſezen, daß der Redner gelernt habe, ſich beſtimmte,
klare oder deutliche Begriffe von Dingen zu machen,
daß er richtig zu urtheilen, und zu ſchließen im Stande
ſey, daß er Kenntnis von den Dingen habe, uͤber
die er reden will. Aber wie er als Redner, wo es
noͤthig iſt, Begriffe, Urtheile und Schluͤſſe, auf die
ihm eigene Art zu bilden habe, und wie er uͤber
ſeine Materie, das, was er, als Redner zu ſagen
hat, erfinden, oder waͤhlen ſoll, muß die Rhetorik
ihn lehren. Der Redner hat eine eigene Art an-
dern Begriffe beyzubringen, und eine eigene Art
Urtheile zu beſtaͤtigen, und Saͤze zu erweiſen. Da-
bey allein haͤlt ſich die Rhetorik auf.
Eben ſo verfaͤhrt ſie uͤber die andern zur Rede ge-
hoͤrigen Punkte. Wann z. B. vom Ausdruk die
Red iſt, ſo braucht man ihm nicht zu ſagen, wie er
grammatiſch rein, und verſtaͤndlich ſprechen ſoll;
man hat nicht noͤthig ihm alle Figuren und Tropen
der Rede, alle Formen des Redeſazes vorzuzaͤhlen
und zu erklaͤren, dieſe Kenntniſſe hat er mit dem,
der die Kunſt der gemeinen Rede, und dem der blos
die Wolredenheit gruͤndlich verſtehen will, gemein.
Aber was fuͤr Figuren und Tropen ihm bey Gelegen-
heit vorzuͤglich dienen, wie er die ihm eigenen Pe-
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redneriſchen oder oratoriſchen Stil- und Ton erfodert
werde, und wie er uͤberall den ſchiklichſten treffen
ſoll, dies alles gehoͤrt in die Rhetorik. Und ſo
muͤßte jeder der fuͤnf angezeigten Punkte fuͤr den
Redner beſonders behandelt werden. Dieſes iſt,
wie ich glaube hinlaͤnglich, um den Weg zu zeigen,
wie man zu einem gruͤndlichen und beſtimmten Plan
der Redekunſt kommen koͤnne.
Wer dieſes Feld aufs neue nach einem durch die
angegebenen Grundſaͤze beſtimmten Plan zu bearbei-
ten Luſt haͤtte, der wuͤrde in dem, was Ariſtoteles,
Dionyſius von Halicarnaß, Hermogenes, Longinus,
der Verfaſſer des kleinen Werks, das insgemein den
Namen des Demetrius Phaleraͤus traͤgt, und denn
in den verſchiedenen Werken des Cicero uͤber die
Theorie der Kunſt, und der fuͤrtreflichen Inſtitutione
Oratoria des Quintilians, beynahe jeden Punkt gruͤnd-
lich behandelt finden. Der lezte der angefuͤhrten
Schriftſteller iſt allein, beynahe vollſtaͤndig; von
den andern hat jeder wenigſtens einige Punkte mit
großer Gruͤndlichkeit behandelt. Alſo kaͤm es haupt-
ſaͤchlich nur auf ein woluͤberlegtes Zuſammentragen,
der ſchon vorhandenen Lehren an.
Schon lange vor den Zeiten des Sokrates waren
Rednerſchulen in Athen; weil ſeit der Zeit, da ſich
die Regierungsform dieſes Staates gegen die De-
mokratie lenkte, die Beredſamkeit das ſicherſte Mit-
tel war, ſich zu den hoͤchſten Staatsbedienungen
heraufzuſchwingen, und den großen Einfluß auf
oͤffentliche Geſchaͤfte zu haben. Alles, was in Athen
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 961[943]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/390>, abgerufen am 24.11.2024.
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