geln haben. Es geschiehet nicht von ungefähr, daß die Füße so und nicht anders gesezt werden, daß jeder Mensch seinen Schritt hat, und daß beym Gehen ein Schritt so weit oder lang ist, als ein an- drer. Was würde es nun, um des Himmels wil- len, für ein unsinniges Unternehmen seyn, wenn man die Theorie dieser Kunst entwikeln, alle Regeln desselben erforschen, und dann die Kinder anhalten wollte, nach diesen Regeln gehen zu lernen?"
"Erstlich ist offenbar, daß dieses völlig unnüz wäre; weil jedes gesunde Kind, von Anfang der Welt an, bis auf diesen Tag, ohne diese Theorie gehen gelernt hat, und weil ein lahmes Kind, durch sie nimmermehr wird gehen lernen. Aber sie wär nicht blos unnüz, sondern schädlich. Denn ohne Zweifel würden sich hier und da pedantische Ammen finden, (denn die Pedanterey ist nicht blos den Gelehrten eigen) die ihr Kind, nach diesen Regeln würde un- terrichten. Wehe denn dem armen Kind; es wird entweder gar nicht, oder sehr viel später, als an- dere gehen lernen. Denn wenn wir auch sezen, es sey schon klug genug alle Regeln des Gehens zu fassen und zu behalten, was für ein jämmerli- ches Gehen wird das nicht seyn, wenn der kleine Fuß keine Bewegung machen und keine Stellung annehmen soll, als bis das arme Kind die Regel davon hergesagt, oder doch der Länge nach, her- gedacht hat?"
"Daß dieses gerade der Fall der Kunsttheorien sey, därf ich dir nicht lang beweisen. Es liegt am Tage, daß Künstler von gesundem Genie, ohne ent- wikelte Theorie fürtrefliche Werke verfertiget haben, und noch izt verfertigen, gerade so, wie die Kinder die Kunst des Gehens gelernt haben, und noch ler- nen. Es liegt ferner am Tage, wie schnell und glüklich der in Begeisterung gesezte Künstler, das was zu seinem Werk nöthig ist, erfindet, und dem Werk einverleibet, und daß es ihm zu unendlicher Beschwerde gereichen würde, nicht eher fortzufahren, bis er die Regeln für jeden Fall in Ueberlegung ge- nommen hätte."
"Und so hoffe ich erwiesen zu haben, daß ent- wikelte Theorien und Regeln dem Künstler nicht blos unnüz, sondern schädlich sind."
So scheinet es: doch müssen wir sehen, ob nicht irgend in deinem Beyspiehle vom Gehen, etwas sey, wodurch die Anwendung auf unsere Frage unschiklich, und der daraus gezogene Schluß unrichtig werde.
[Spaltenumbruch]
Reg
Jch will ohne Sophisterey, und ohne das, was ich behaupte, zu erschleichen, die Kunst des Gehens auch als einen ähnlichen Fall vor mich nehmen.
Wären die schönen Künste eben so genau an die natürlichen und nothwendigsten Bedürfnisse des Men- schen gebunden, als die Kunst des Gehens, so würde die Natur ohne Zweifel jedem Menschen das Genie zu diesen Künsten eben so mildthätig gegeben haben, wie die zum Gehen nöthige Fähigkeiten. Gehörte es so zu den Bedürfnissen der Menschen, daß jeder ein Dichter wäre, wie es dazu gehöret, daß jeder gehen könne, so wären wir alle gute Dichter, die wenigen ausgenommen, die durch Verwahrlosung, oder andere Zufälle an Genie lahm worden, wie einige Menschen an den Schenkeln gelähmt sind. Nun ist offenbar, daß nicht alle Menschen, deren Genie sonst ganz gesund ist, Dichter, oder Mahler, oder Tonkünstler sind. Also möchte es mit dem zum Grunde der Untersuchung angenommenen ähnlichen Fall, nicht so ganz seine Richtigkeit haben.
Vielleicht hätte sich die Kunst der Sprach besser auf unsern Fall anwenden lassen. Das Sprechen ist ohne Zweifel auch eine Kunst. Ein Theil dersel- ben, sich verständlich auszudruken, ist ein so natür- liches Bedürfnis, daß alle Menschen, die nicht ver- unglükt sind, diese Kunst, wie das Gehen, ohne entwikelte Theorie und Regeln, lernen. Es fällt auch der gelehrtesten Amme nicht ein, ihrem Säug- ling die Grammatik zu lehren, um ihm dadurch die Sprache beyzubringen. Und doch hat man die The- orie der Kunst entwikelt, und die Regeln auseinan- dergesezt; und noch ist es, so viel ich weiß, keinem verständigen Menschen eingefallen zu sagen, die Grammatik sey überhaupt unnüz oder schädlich. Nur ihren Mißbrauch, da man Kinder will durch die Grammatik sprechen lehren, wird von allen ver- ständigen Menschen getadelt.
Nämlich das zierliche, reine, angenehme Spre- chen, gehört nicht unter die ersten Bedürfnisse des Menschen. Ohne Theorie und Regeln würde es nicht jederman lernen, wie das Sprechen überhaupt. Darum fand man für gut, diese Theorie zu entwi- keln. Niemand wird wol sagen, daß der, dem die Sprache durch den täglichen Gebrauch geläufig worden, und der nun gerne nicht blos nothdürftig sich auszudruken, sondern mit einer gewissen Zierlich- keit zu reden wünschet, sich vor der Grammatik hüten soll.
Jch
[Spaltenumbruch]
Reg
geln haben. Es geſchiehet nicht von ungefaͤhr, daß die Fuͤße ſo und nicht anders geſezt werden, daß jeder Menſch ſeinen Schritt hat, und daß beym Gehen ein Schritt ſo weit oder lang iſt, als ein an- drer. Was wuͤrde es nun, um des Himmels wil- len, fuͤr ein unſinniges Unternehmen ſeyn, wenn man die Theorie dieſer Kunſt entwikeln, alle Regeln deſſelben erforſchen, und dann die Kinder anhalten wollte, nach dieſen Regeln gehen zu lernen?„
„Erſtlich iſt offenbar, daß dieſes voͤllig unnuͤz waͤre; weil jedes geſunde Kind, von Anfang der Welt an, bis auf dieſen Tag, ohne dieſe Theorie gehen gelernt hat, und weil ein lahmes Kind, durch ſie nimmermehr wird gehen lernen. Aber ſie waͤr nicht blos unnuͤz, ſondern ſchaͤdlich. Denn ohne Zweifel wuͤrden ſich hier und da pedantiſche Ammen finden, (denn die Pedanterey iſt nicht blos den Gelehrten eigen) die ihr Kind, nach dieſen Regeln wuͤrde un- terrichten. Wehe denn dem armen Kind; es wird entweder gar nicht, oder ſehr viel ſpaͤter, als an- dere gehen lernen. Denn wenn wir auch ſezen, es ſey ſchon klug genug alle Regeln des Gehens zu faſſen und zu behalten, was fuͤr ein jaͤmmerli- ches Gehen wird das nicht ſeyn, wenn der kleine Fuß keine Bewegung machen und keine Stellung annehmen ſoll, als bis das arme Kind die Regel davon hergeſagt, oder doch der Laͤnge nach, her- gedacht hat?„
„Daß dieſes gerade der Fall der Kunſttheorien ſey, daͤrf ich dir nicht lang beweiſen. Es liegt am Tage, daß Kuͤnſtler von geſundem Genie, ohne ent- wikelte Theorie fuͤrtrefliche Werke verfertiget haben, und noch izt verfertigen, gerade ſo, wie die Kinder die Kunſt des Gehens gelernt haben, und noch ler- nen. Es liegt ferner am Tage, wie ſchnell und gluͤklich der in Begeiſterung geſezte Kuͤnſtler, das was zu ſeinem Werk noͤthig iſt, erfindet, und dem Werk einverleibet, und daß es ihm zu unendlicher Beſchwerde gereichen wuͤrde, nicht eher fortzufahren, bis er die Regeln fuͤr jeden Fall in Ueberlegung ge- nommen haͤtte.“
„Und ſo hoffe ich erwieſen zu haben, daß ent- wikelte Theorien und Regeln dem Kuͤnſtler nicht blos unnuͤz, ſondern ſchaͤdlich ſind.“
So ſcheinet es: doch muͤſſen wir ſehen, ob nicht irgend in deinem Beyſpiehle vom Gehen, etwas ſey, wodurch die Anwendung auf unſere Frage unſchiklich, und der daraus gezogene Schluß unrichtig werde.
[Spaltenumbruch]
Reg
Jch will ohne Sophiſterey, und ohne das, was ich behaupte, zu erſchleichen, die Kunſt des Gehens auch als einen aͤhnlichen Fall vor mich nehmen.
Waͤren die ſchoͤnen Kuͤnſte eben ſo genau an die natuͤrlichen und nothwendigſten Beduͤrfniſſe des Men- ſchen gebunden, als die Kunſt des Gehens, ſo wuͤrde die Natur ohne Zweifel jedem Menſchen das Genie zu dieſen Kuͤnſten eben ſo mildthaͤtig gegeben haben, wie die zum Gehen noͤthige Faͤhigkeiten. Gehoͤrte es ſo zu den Beduͤrfniſſen der Menſchen, daß jeder ein Dichter waͤre, wie es dazu gehoͤret, daß jeder gehen koͤnne, ſo waͤren wir alle gute Dichter, die wenigen ausgenommen, die durch Verwahrloſung, oder andere Zufaͤlle an Genie lahm worden, wie einige Menſchen an den Schenkeln gelaͤhmt ſind. Nun iſt offenbar, daß nicht alle Menſchen, deren Genie ſonſt ganz geſund iſt, Dichter, oder Mahler, oder Tonkuͤnſtler ſind. Alſo moͤchte es mit dem zum Grunde der Unterſuchung angenommenen aͤhnlichen Fall, nicht ſo ganz ſeine Richtigkeit haben.
Vielleicht haͤtte ſich die Kunſt der Sprach beſſer auf unſern Fall anwenden laſſen. Das Sprechen iſt ohne Zweifel auch eine Kunſt. Ein Theil derſel- ben, ſich verſtaͤndlich auszudruken, iſt ein ſo natuͤr- liches Beduͤrfnis, daß alle Menſchen, die nicht ver- ungluͤkt ſind, dieſe Kunſt, wie das Gehen, ohne entwikelte Theorie und Regeln, lernen. Es faͤllt auch der gelehrteſten Amme nicht ein, ihrem Saͤug- ling die Grammatik zu lehren, um ihm dadurch die Sprache beyzubringen. Und doch hat man die The- orie der Kunſt entwikelt, und die Regeln auseinan- dergeſezt; und noch iſt es, ſo viel ich weiß, keinem verſtaͤndigen Menſchen eingefallen zu ſagen, die Grammatik ſey uͤberhaupt unnuͤz oder ſchaͤdlich. Nur ihren Mißbrauch, da man Kinder will durch die Grammatik ſprechen lehren, wird von allen ver- ſtaͤndigen Menſchen getadelt.
Naͤmlich das zierliche, reine, angenehme Spre- chen, gehoͤrt nicht unter die erſten Beduͤrfniſſe des Menſchen. Ohne Theorie und Regeln wuͤrde es nicht jederman lernen, wie das Sprechen uͤberhaupt. Darum fand man fuͤr gut, dieſe Theorie zu entwi- keln. Niemand wird wol ſagen, daß der, dem die Sprache durch den taͤglichen Gebrauch gelaͤufig worden, und der nun gerne nicht blos nothduͤrftig ſich auszudruken, ſondern mit einer gewiſſen Zierlich- keit zu reden wuͤnſchet, ſich vor der Grammatik huͤten ſoll.
Jch
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[969[951]/0398]
Reg
Reg
geln haben. Es geſchiehet nicht von ungefaͤhr, daß
die Fuͤße ſo und nicht anders geſezt werden, daß
jeder Menſch ſeinen Schritt hat, und daß beym
Gehen ein Schritt ſo weit oder lang iſt, als ein an-
drer. Was wuͤrde es nun, um des Himmels wil-
len, fuͤr ein unſinniges Unternehmen ſeyn, wenn
man die Theorie dieſer Kunſt entwikeln, alle Regeln
deſſelben erforſchen, und dann die Kinder anhalten
wollte, nach dieſen Regeln gehen zu lernen?„
„Erſtlich iſt offenbar, daß dieſes voͤllig unnuͤz
waͤre; weil jedes geſunde Kind, von Anfang der
Welt an, bis auf dieſen Tag, ohne dieſe Theorie
gehen gelernt hat, und weil ein lahmes Kind, durch ſie
nimmermehr wird gehen lernen. Aber ſie waͤr nicht
blos unnuͤz, ſondern ſchaͤdlich. Denn ohne Zweifel
wuͤrden ſich hier und da pedantiſche Ammen finden,
(denn die Pedanterey iſt nicht blos den Gelehrten
eigen) die ihr Kind, nach dieſen Regeln wuͤrde un-
terrichten. Wehe denn dem armen Kind; es wird
entweder gar nicht, oder ſehr viel ſpaͤter, als an-
dere gehen lernen. Denn wenn wir auch ſezen, es
ſey ſchon klug genug alle Regeln des Gehens zu
faſſen und zu behalten, was fuͤr ein jaͤmmerli-
ches Gehen wird das nicht ſeyn, wenn der kleine
Fuß keine Bewegung machen und keine Stellung
annehmen ſoll, als bis das arme Kind die Regel
davon hergeſagt, oder doch der Laͤnge nach, her-
gedacht hat?„
„Daß dieſes gerade der Fall der Kunſttheorien
ſey, daͤrf ich dir nicht lang beweiſen. Es liegt am
Tage, daß Kuͤnſtler von geſundem Genie, ohne ent-
wikelte Theorie fuͤrtrefliche Werke verfertiget haben,
und noch izt verfertigen, gerade ſo, wie die Kinder
die Kunſt des Gehens gelernt haben, und noch ler-
nen. Es liegt ferner am Tage, wie ſchnell und
gluͤklich der in Begeiſterung geſezte Kuͤnſtler, das
was zu ſeinem Werk noͤthig iſt, erfindet, und dem
Werk einverleibet, und daß es ihm zu unendlicher
Beſchwerde gereichen wuͤrde, nicht eher fortzufahren,
bis er die Regeln fuͤr jeden Fall in Ueberlegung ge-
nommen haͤtte.“
„Und ſo hoffe ich erwieſen zu haben, daß ent-
wikelte Theorien und Regeln dem Kuͤnſtler nicht
blos unnuͤz, ſondern ſchaͤdlich ſind.“
So ſcheinet es: doch muͤſſen wir ſehen, ob nicht
irgend in deinem Beyſpiehle vom Gehen, etwas ſey,
wodurch die Anwendung auf unſere Frage unſchiklich,
und der daraus gezogene Schluß unrichtig werde.
Jch will ohne Sophiſterey, und ohne das, was
ich behaupte, zu erſchleichen, die Kunſt des Gehens
auch als einen aͤhnlichen Fall vor mich nehmen.
Waͤren die ſchoͤnen Kuͤnſte eben ſo genau an die
natuͤrlichen und nothwendigſten Beduͤrfniſſe des Men-
ſchen gebunden, als die Kunſt des Gehens, ſo wuͤrde
die Natur ohne Zweifel jedem Menſchen das Genie
zu dieſen Kuͤnſten eben ſo mildthaͤtig gegeben haben,
wie die zum Gehen noͤthige Faͤhigkeiten. Gehoͤrte
es ſo zu den Beduͤrfniſſen der Menſchen, daß jeder
ein Dichter waͤre, wie es dazu gehoͤret, daß jeder
gehen koͤnne, ſo waͤren wir alle gute Dichter, die
wenigen ausgenommen, die durch Verwahrloſung,
oder andere Zufaͤlle an Genie lahm worden, wie
einige Menſchen an den Schenkeln gelaͤhmt ſind.
Nun iſt offenbar, daß nicht alle Menſchen, deren
Genie ſonſt ganz geſund iſt, Dichter, oder Mahler,
oder Tonkuͤnſtler ſind. Alſo moͤchte es mit dem zum
Grunde der Unterſuchung angenommenen aͤhnlichen
Fall, nicht ſo ganz ſeine Richtigkeit haben.
Vielleicht haͤtte ſich die Kunſt der Sprach beſſer
auf unſern Fall anwenden laſſen. Das Sprechen
iſt ohne Zweifel auch eine Kunſt. Ein Theil derſel-
ben, ſich verſtaͤndlich auszudruken, iſt ein ſo natuͤr-
liches Beduͤrfnis, daß alle Menſchen, die nicht ver-
ungluͤkt ſind, dieſe Kunſt, wie das Gehen, ohne
entwikelte Theorie und Regeln, lernen. Es faͤllt
auch der gelehrteſten Amme nicht ein, ihrem Saͤug-
ling die Grammatik zu lehren, um ihm dadurch die
Sprache beyzubringen. Und doch hat man die The-
orie der Kunſt entwikelt, und die Regeln auseinan-
dergeſezt; und noch iſt es, ſo viel ich weiß, keinem
verſtaͤndigen Menſchen eingefallen zu ſagen, die
Grammatik ſey uͤberhaupt unnuͤz oder ſchaͤdlich.
Nur ihren Mißbrauch, da man Kinder will durch
die Grammatik ſprechen lehren, wird von allen ver-
ſtaͤndigen Menſchen getadelt.
Naͤmlich das zierliche, reine, angenehme Spre-
chen, gehoͤrt nicht unter die erſten Beduͤrfniſſe des
Menſchen. Ohne Theorie und Regeln wuͤrde es
nicht jederman lernen, wie das Sprechen uͤberhaupt.
Darum fand man fuͤr gut, dieſe Theorie zu entwi-
keln. Niemand wird wol ſagen, daß der, dem
die Sprache durch den taͤglichen Gebrauch gelaͤufig
worden, und der nun gerne nicht blos nothduͤrftig
ſich auszudruken, ſondern mit einer gewiſſen Zierlich-
keit zu reden wuͤnſchet, ſich vor der Grammatik
huͤten ſoll.
Jch
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 969[951]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/398>, abgerufen am 24.11.2024.
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