So nennen einige deutsche Baumeister die klei- nen Glieder, die gewöhnlich in den zierli- chen Ordnungen den untersten Theil des Kranzes ausmachen, und also gerade über dem Fries einer Reyhe etwas von einander abstehender Zähne glei- chen. (*) Schiklicher ist der Name Zahnschnitt, den Goldmann ihnen gegeben, unter welchem Wort sie näher beschrieben werden.
Kalt. (Schöne Künste.)
Dieses Wort wird in den schönen Künsten, bey mehrern Gelegenheiten in figürlichem Sinn genöm- men. Am gewöhnlichsten bedeutet es eine ruhige und gelassene Gemüthsfassung bey leidenschaftlichen Gegenständen. Man sagt von einem Menschen, er sey von kaltem Charakter; (er habe ein kaltes Geblüt) wenn er bey solchen Gelegenheiten, da fast alle Menschen in Leidenschaft gerathen, ruhig und gelassen, ohne merkliche Lebhaftigkeit ist. Eine solche Fassung ist, so gut als die Leidenschaft selbst, ein Gegenstand der schönen Künste. Denn ob sie gleich auf Erwekung lebhafter Empfindungen, die man auch warme Empfindungen nennt, abziehlen, und in so fern gebraucht werden, dem menschlichen Gemüthe eine heilsame Würksamkeit zu geben, und seine Triebfedern zu spannen; so kann doch [Spaltenumbruch]
die kalte Gemüthsfassung auf mancherley Weise der Gegenstand, oder das Ziel der Werke des Geschmaks seyn. Aber alsdenn muß sie nicht eine natürliche Trägheit und Unempfindlichkeit, sondern eine unge- wöhnliche Stärke der Vernunft zum Grund haben. Denn ein unempfindlicher Mensch, ist fast immer ein armes, unbrauchbares Geschöpf; aber der durch die Stärke der Vernunft bey leidenschaftli- chen Gegenständen kalt bleibende Mensch, verdienet überall unsre Aufmerksamkeit.
Es scheinet um so mehr der Mühe werth, die Dichter und dem Redner auf diesen Gegenstand aufmerksam zu machen, da er gewöhnlich ganz übersehen wird. Die meisten Kunstrichter spre- chen von warmen, lebhaften Empfindungen, als wenn sie die einzigen wären, worauf die reden- den Künste zielen: und selten trift man in Wer- ken der Kunst merkwürdige Charaktere von kalter Art an.
Sollte der durch die Stärke der Vernunft bey lei- denschaftlichen Gegenständen kalt bleibende Mensch, für den Künstler ein weniger vortheilhafter Ge- genstand seyn, als der durch Leidenschaft aufge- brachte? Dieses werden nur die Künstler behaupten, denen es selbst an einem gewissen Grad der Stärke des Geistes fehlet. Nur diese werden allemal einen aufbrennenden Achilles, einem kalten Regulus vor- ziehen. Freylich ist es sehr viel leichter jenen, als diesen nach seinem Charakter reden und handeln zu lassen. Der leidenschaftliche Zustand ist dem Men-
schen
(*) S. die Figur im Art. Gebälk S. 426. wo diese Glie- der gerade über der Li- nie c f ste- hen.
Zweyter Theil.
C c c c
K.
[Spaltenumbruch]
Kaͤlberzaͤhne. (Baukunſt.)
So nennen einige deutſche Baumeiſter die klei- nen Glieder, die gewoͤhnlich in den zierli- chen Ordnungen den unterſten Theil des Kranzes ausmachen, und alſo gerade uͤber dem Fries einer Reyhe etwas von einander abſtehender Zaͤhne glei- chen. (*) Schiklicher iſt der Name Zahnſchnitt, den Goldmann ihnen gegeben, unter welchem Wort ſie naͤher beſchrieben werden.
Kalt. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Dieſes Wort wird in den ſchoͤnen Kuͤnſten, bey mehrern Gelegenheiten in figuͤrlichem Sinn genoͤm- men. Am gewoͤhnlichſten bedeutet es eine ruhige und gelaſſene Gemuͤthsfaſſung bey leidenſchaftlichen Gegenſtaͤnden. Man ſagt von einem Menſchen, er ſey von kaltem Charakter; (er habe ein kaltes Gebluͤt) wenn er bey ſolchen Gelegenheiten, da faſt alle Menſchen in Leidenſchaft gerathen, ruhig und gelaſſen, ohne merkliche Lebhaftigkeit iſt. Eine ſolche Faſſung iſt, ſo gut als die Leidenſchaft ſelbſt, ein Gegenſtand der ſchoͤnen Kuͤnſte. Denn ob ſie gleich auf Erwekung lebhafter Empfindungen, die man auch warme Empfindungen nennt, abziehlen, und in ſo fern gebraucht werden, dem menſchlichen Gemuͤthe eine heilſame Wuͤrkſamkeit zu geben, und ſeine Triebfedern zu ſpannen; ſo kann doch [Spaltenumbruch]
die kalte Gemuͤthsfaſſung auf mancherley Weiſe der Gegenſtand, oder das Ziel der Werke des Geſchmaks ſeyn. Aber alsdenn muß ſie nicht eine natuͤrliche Traͤgheit und Unempfindlichkeit, ſondern eine unge- woͤhnliche Staͤrke der Vernunft zum Grund haben. Denn ein unempfindlicher Menſch, iſt faſt immer ein armes, unbrauchbares Geſchoͤpf; aber der durch die Staͤrke der Vernunft bey leidenſchaftli- chen Gegenſtaͤnden kalt bleibende Menſch, verdienet uͤberall unſre Aufmerkſamkeit.
Es ſcheinet um ſo mehr der Muͤhe werth, die Dichter und dem Redner auf dieſen Gegenſtand aufmerkſam zu machen, da er gewoͤhnlich ganz uͤberſehen wird. Die meiſten Kunſtrichter ſpre- chen von warmen, lebhaften Empfindungen, als wenn ſie die einzigen waͤren, worauf die reden- den Kuͤnſte zielen: und ſelten trift man in Wer- ken der Kunſt merkwuͤrdige Charaktere von kalter Art an.
Sollte der durch die Staͤrke der Vernunft bey lei- denſchaftlichen Gegenſtaͤnden kalt bleibende Menſch, fuͤr den Kuͤnſtler ein weniger vortheilhafter Ge- genſtand ſeyn, als der durch Leidenſchaft aufge- brachte? Dieſes werden nur die Kuͤnſtler behaupten, denen es ſelbſt an einem gewiſſen Grad der Staͤrke des Geiſtes fehlet. Nur dieſe werden allemal einen aufbrennenden Achilles, einem kalten Regulus vor- ziehen. Freylich iſt es ſehr viel leichter jenen, als dieſen nach ſeinem Charakter reden und handeln zu laſſen. Der leidenſchaftliche Zuſtand iſt dem Men-
ſchen
(*) S. die Figur im Art. Gebaͤlk S. 426. wo dieſe Glie- der gerade uͤber der Li- nie c f ſte- hen.
Zweyter Theil.
C c c c
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[[569]/0004]
K.
Kaͤlberzaͤhne.
(Baukunſt.)
So nennen einige deutſche Baumeiſter die klei-
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chen Ordnungen den unterſten Theil des Kranzes
ausmachen, und alſo gerade uͤber dem Fries einer
Reyhe etwas von einander abſtehender Zaͤhne glei-
chen. (*) Schiklicher iſt der Name Zahnſchnitt, den
Goldmann ihnen gegeben, unter welchem Wort
ſie naͤher beſchrieben werden.
Kalt.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Dieſes Wort wird in den ſchoͤnen Kuͤnſten, bey
mehrern Gelegenheiten in figuͤrlichem Sinn genoͤm-
men. Am gewoͤhnlichſten bedeutet es eine ruhige
und gelaſſene Gemuͤthsfaſſung bey leidenſchaftlichen
Gegenſtaͤnden. Man ſagt von einem Menſchen,
er ſey von kaltem Charakter; (er habe ein kaltes
Gebluͤt) wenn er bey ſolchen Gelegenheiten, da
faſt alle Menſchen in Leidenſchaft gerathen, ruhig
und gelaſſen, ohne merkliche Lebhaftigkeit iſt. Eine
ſolche Faſſung iſt, ſo gut als die Leidenſchaft ſelbſt,
ein Gegenſtand der ſchoͤnen Kuͤnſte. Denn ob ſie
gleich auf Erwekung lebhafter Empfindungen, die
man auch warme Empfindungen nennt, abziehlen,
und in ſo fern gebraucht werden, dem menſchlichen
Gemuͤthe eine heilſame Wuͤrkſamkeit zu geben,
und ſeine Triebfedern zu ſpannen; ſo kann doch
die kalte Gemuͤthsfaſſung auf mancherley Weiſe der
Gegenſtand, oder das Ziel der Werke des Geſchmaks
ſeyn. Aber alsdenn muß ſie nicht eine natuͤrliche
Traͤgheit und Unempfindlichkeit, ſondern eine unge-
woͤhnliche Staͤrke der Vernunft zum Grund haben.
Denn ein unempfindlicher Menſch, iſt faſt immer
ein armes, unbrauchbares Geſchoͤpf; aber der
durch die Staͤrke der Vernunft bey leidenſchaftli-
chen Gegenſtaͤnden kalt bleibende Menſch, verdienet
uͤberall unſre Aufmerkſamkeit.
Es ſcheinet um ſo mehr der Muͤhe werth, die
Dichter und dem Redner auf dieſen Gegenſtand
aufmerkſam zu machen, da er gewoͤhnlich ganz
uͤberſehen wird. Die meiſten Kunſtrichter ſpre-
chen von warmen, lebhaften Empfindungen, als
wenn ſie die einzigen waͤren, worauf die reden-
den Kuͤnſte zielen: und ſelten trift man in Wer-
ken der Kunſt merkwuͤrdige Charaktere von kalter
Art an.
Sollte der durch die Staͤrke der Vernunft bey lei-
denſchaftlichen Gegenſtaͤnden kalt bleibende Menſch,
fuͤr den Kuͤnſtler ein weniger vortheilhafter Ge-
genſtand ſeyn, als der durch Leidenſchaft aufge-
brachte? Dieſes werden nur die Kuͤnſtler behaupten,
denen es ſelbſt an einem gewiſſen Grad der Staͤrke
des Geiſtes fehlet. Nur dieſe werden allemal einen
aufbrennenden Achilles, einem kalten Regulus vor-
ziehen. Freylich iſt es ſehr viel leichter jenen, als
dieſen nach ſeinem Charakter reden und handeln zu
laſſen. Der leidenſchaftliche Zuſtand iſt dem Men-
ſchen
(*) S. die
Figur im
Art. Gebaͤlk
S. 426. wo
dieſe Glie-
der gerade
uͤber der Li-
nie c f ſte-
hen.
Zweyter Theil.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. [569]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/4>, abgerufen am 21.11.2024.
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