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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Rei
auf den Landstraßen aufgerichteten Wegsäulen, nur
dem nüzlich, der noch Kraft hat zu gehen, dem Mü-
den und Lahmen aber nicht die geringste Stärkung
geben.

Was der Künstler in der Hize der Begeisterung,
ohne Bewußtseyn irgend einer Regel erfindet, wäh-
let, anordnet und bearbeitet, das muß er hernach
durch Hülfe der Regeln beurtheilen, und allenfalls
verbessern. Einige Regeln betreffen das Mecha-
nische der Kunst, andre den Geist und den Ge-
schmak. Werden jene beobachtet; so wird das
Werk frey von Fehlern (*). Beobachtet der Künstler
diese, so wird es gut.

Reiff.
(Baukunst.)

Ein kleines Glied zur Verziehrung, welches seinen
Namen von den Reiffen hat, womit die Fässer ge-
bunden werden, weil es schmal, wie solche Reiffen,
und eben wie sie, halb rund ist. Seine Abbildung
ist im Artikel Glieder zu sehen. Eigentlich sind
nur die kleinen, im Profil nach einem halben Zir-
kel geformten Glieder, die um einen runden Kör-
per herumgezogen werden, Reiffen; so gestalltete Glie-
der an gerade laufenden Gesimsen, bekommen den
Namen der Stäbe.

Reim.
(Dichtkunst.)

Der gleiche Laut der lezten, oder der zwey lezten
Sylben in zwey Versen. Er wird männlich genennt,
wenn er nur auf der lezten langen Sylbe jedes der
zwey Verse liegt; wie Macht, Acht: weiblich wenn
er auf den zwey lezten Sylben liegt, wie leben, ge-
ben.
Ehedem nennte man ofte die Verse selbst Rei-
men, und allem Ansehen nach ist diese Bedeutung
älter, als die izt gewöhnliche.

Verschiedene Völker haben in dem Reim eine
Schönheit gefunden, die ihm das Ansehen einer
wesentlichen Eigenschaft der Verse gegeben hat. Die
griechischen und römischen Dichter, haben nicht nur
den Reim nicht gesucht, sondern, als etwas fehler-
[Spaltenumbruch]

Rei
haftes vermieden. (+) Aber in der Poesie aller neue-
rer Völker, wurd er ehedem, und wird zum Theil
noch jezo, als etwas wesentliches angesehen. Doch
haben zuerst die Jtaliäner, hernach die Engländer,
und zulezt die Deutschen sich verschiedentlich von die-
sem Joche befreyt, und den Reim entweder für un-
nüze, oder gar für schädlich gehalten.

Wie überhaupt selten etwas altes ohne Streitig-
keiten kann abgeschaft werden, so ist auch unter uns
vielfältig über den Werth des Reimes gestritten wor-
den. Daß es schöne und wolklingende Verse ohne
Reimen gebe, ist aber durch die Erfahrung so aus-
gemacht, daß hierüber kein Streit mehr seyn kann.

Wem mit einer umständlichen Untersuchung über
die Herkunft des Reims gedient ist, der kann sie
bey einem französischen Schriftsteller finden. (++)
Die Meinung des Bischoffs Hüet, daß die neuern
Abendländer den Reim von den Arabern gelernt
haben, ist nicht ohne Wahrscheinlichkeit. Nach-
dem sich diese in den mittägigen Gegenden Frank-
reichs niedergelassen, nahmen die ersten welschen
Dichter, die sogenannte Troubadours (*) den Reim
von ihnen. Die alten Barden haben, so viel man
aus dem Oßian sehen kann, nicht gereimt. Man
kann aber einen ganz natürlichen Grund von dem
Ursprung des Reims angeben. So bald man kur-
zen Säzen einen guten und für das Gedächtnis vor-
theilhaften Klang geben will, dieser aber durch das
bloße Sylbenmaaß nicht zu erhalten ist, so bleibet
allein der Reim dazu übrig. Daher finden wir
ihn in viel alten aus zwey kurzen Säzen bestehen-
den Sprüchwörtern, als: Glük und Glas, wie
bald bricht das.
Diesem Ursprung zufolge, würde
er sich in Disticha und überhaupt in solche Gedichte,
wo allemal ein Sinn in zwey Verse eingeschlos-
sen ist, am allernatürlichsten schiken. So sollen
noch izt die Gedichte der Araber seyn. Man kann
überhaupt sagen, daß er zu Versen, denen man ent-
weder wegen der allzugroßen Kürze, oder wegen der
Unbiegsamkeit der Sprach keinen Wolklang geben
kann, das einzige Mittel ist, sie wolklingend zu
machen. Daher därf man sich nicht wundern,
wenn er auch, wie Baretti versichert (*), in der

Poesie
(*) S.
Richtig-
keit.
(+) [Spaltenumbruch]
Bey diesem in II Buche der Aeneis vorkommen-
den Verse:
Trojaque nunc staret, Priamique arx alta
maneres.

[Spaltenumbruch] macht Servius die Anmerkung: Stares si legeris, mane-
ret
sequitur, propter
omoioteltuton.
(++) Histoire de la poesie francoise par L'Abbe Massieu.
p.
76 f.
(*) S.
Provenza-
lische Dich-
ter.
(*) Ba-
retti
Reise
nach Ge-
nua 1 Th.
22. Br.
Zweyter Theil. E e e e e e

[Spaltenumbruch]

Rei
auf den Landſtraßen aufgerichteten Wegſaͤulen, nur
dem nuͤzlich, der noch Kraft hat zu gehen, dem Muͤ-
den und Lahmen aber nicht die geringſte Staͤrkung
geben.

Was der Kuͤnſtler in der Hize der Begeiſterung,
ohne Bewußtſeyn irgend einer Regel erfindet, waͤh-
let, anordnet und bearbeitet, das muß er hernach
durch Huͤlfe der Regeln beurtheilen, und allenfalls
verbeſſern. Einige Regeln betreffen das Mecha-
niſche der Kunſt, andre den Geiſt und den Ge-
ſchmak. Werden jene beobachtet; ſo wird das
Werk frey von Fehlern (*). Beobachtet der Kuͤnſtler
dieſe, ſo wird es gut.

Reiff.
(Baukunſt.)

Ein kleines Glied zur Verziehrung, welches ſeinen
Namen von den Reiffen hat, womit die Faͤſſer ge-
bunden werden, weil es ſchmal, wie ſolche Reiffen,
und eben wie ſie, halb rund iſt. Seine Abbildung
iſt im Artikel Glieder zu ſehen. Eigentlich ſind
nur die kleinen, im Profil nach einem halben Zir-
kel geformten Glieder, die um einen runden Koͤr-
per herumgezogen werden, Reiffen; ſo geſtalltete Glie-
der an gerade laufenden Geſimſen, bekommen den
Namen der Staͤbe.

Reim.
(Dichtkunſt.)

Der gleiche Laut der lezten, oder der zwey lezten
Sylben in zwey Verſen. Er wird maͤnnlich genennt,
wenn er nur auf der lezten langen Sylbe jedes der
zwey Verſe liegt; wie Macht, Acht: weiblich wenn
er auf den zwey lezten Sylben liegt, wie leben, ge-
ben.
Ehedem nennte man ofte die Verſe ſelbſt Rei-
men, und allem Anſehen nach iſt dieſe Bedeutung
aͤlter, als die izt gewoͤhnliche.

Verſchiedene Voͤlker haben in dem Reim eine
Schoͤnheit gefunden, die ihm das Anſehen einer
weſentlichen Eigenſchaft der Verſe gegeben hat. Die
griechiſchen und roͤmiſchen Dichter, haben nicht nur
den Reim nicht geſucht, ſondern, als etwas fehler-
[Spaltenumbruch]

Rei
haftes vermieden. (†) Aber in der Poeſie aller neue-
rer Voͤlker, wurd er ehedem, und wird zum Theil
noch jezo, als etwas weſentliches angeſehen. Doch
haben zuerſt die Jtaliaͤner, hernach die Englaͤnder,
und zulezt die Deutſchen ſich verſchiedentlich von die-
ſem Joche befreyt, und den Reim entweder fuͤr un-
nuͤze, oder gar fuͤr ſchaͤdlich gehalten.

Wie uͤberhaupt ſelten etwas altes ohne Streitig-
keiten kann abgeſchaft werden, ſo iſt auch unter uns
vielfaͤltig uͤber den Werth des Reimes geſtritten wor-
den. Daß es ſchoͤne und wolklingende Verſe ohne
Reimen gebe, iſt aber durch die Erfahrung ſo aus-
gemacht, daß hieruͤber kein Streit mehr ſeyn kann.

Wem mit einer umſtaͤndlichen Unterſuchung uͤber
die Herkunft des Reims gedient iſt, der kann ſie
bey einem franzoͤſiſchen Schriftſteller finden. (††)
Die Meinung des Biſchoffs Huͤet, daß die neuern
Abendlaͤnder den Reim von den Arabern gelernt
haben, iſt nicht ohne Wahrſcheinlichkeit. Nach-
dem ſich dieſe in den mittaͤgigen Gegenden Frank-
reichs niedergelaſſen, nahmen die erſten welſchen
Dichter, die ſogenannte Troubadours (*) den Reim
von ihnen. Die alten Barden haben, ſo viel man
aus dem Oßian ſehen kann, nicht gereimt. Man
kann aber einen ganz natuͤrlichen Grund von dem
Urſprung des Reims angeben. So bald man kur-
zen Saͤzen einen guten und fuͤr das Gedaͤchtnis vor-
theilhaften Klang geben will, dieſer aber durch das
bloße Sylbenmaaß nicht zu erhalten iſt, ſo bleibet
allein der Reim dazu uͤbrig. Daher finden wir
ihn in viel alten aus zwey kurzen Saͤzen beſtehen-
den Spruͤchwoͤrtern, als: Gluͤk und Glas, wie
bald bricht das.
Dieſem Urſprung zufolge, wuͤrde
er ſich in Diſticha und uͤberhaupt in ſolche Gedichte,
wo allemal ein Sinn in zwey Verſe eingeſchloſ-
ſen iſt, am allernatuͤrlichſten ſchiken. So ſollen
noch izt die Gedichte der Araber ſeyn. Man kann
uͤberhaupt ſagen, daß er zu Verſen, denen man ent-
weder wegen der allzugroßen Kuͤrze, oder wegen der
Unbiegſamkeit der Sprach keinen Wolklang geben
kann, das einzige Mittel iſt, ſie wolklingend zu
machen. Daher daͤrf man ſich nicht wundern,
wenn er auch, wie Baretti verſichert (*), in der

Poeſie
(*) S.
Richtig-
keit.
(†) [Spaltenumbruch]
Bey dieſem in II Buche der Aeneis vorkommen-
den Verſe:
Trojaque nunc ſtaret, Priamique arx alta
maneres.

[Spaltenumbruch] macht Servius die Anmerkung: Stares ſi legeris, mane-
ret
ſequitur, propter
ὁμοιοτελτυτον.
(††) Hiſtoire de la poeſie françoiſe par L’Abbé Maſſieu.
p.
76 f.
(*) S.
Provenza-
liſche Dich-
ter.
(*) Ba-
retti
Reiſe
nach Ge-
nua 1 Th.
22. Br.
Zweyter Theil. E e e e e e
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[971[953]/0400] Rei Rei auf den Landſtraßen aufgerichteten Wegſaͤulen, nur dem nuͤzlich, der noch Kraft hat zu gehen, dem Muͤ- den und Lahmen aber nicht die geringſte Staͤrkung geben. Was der Kuͤnſtler in der Hize der Begeiſterung, ohne Bewußtſeyn irgend einer Regel erfindet, waͤh- let, anordnet und bearbeitet, das muß er hernach durch Huͤlfe der Regeln beurtheilen, und allenfalls verbeſſern. Einige Regeln betreffen das Mecha- niſche der Kunſt, andre den Geiſt und den Ge- ſchmak. Werden jene beobachtet; ſo wird das Werk frey von Fehlern (*). Beobachtet der Kuͤnſtler dieſe, ſo wird es gut. Reiff. (Baukunſt.) Ein kleines Glied zur Verziehrung, welches ſeinen Namen von den Reiffen hat, womit die Faͤſſer ge- bunden werden, weil es ſchmal, wie ſolche Reiffen, und eben wie ſie, halb rund iſt. Seine Abbildung iſt im Artikel Glieder zu ſehen. Eigentlich ſind nur die kleinen, im Profil nach einem halben Zir- kel geformten Glieder, die um einen runden Koͤr- per herumgezogen werden, Reiffen; ſo geſtalltete Glie- der an gerade laufenden Geſimſen, bekommen den Namen der Staͤbe. Reim. (Dichtkunſt.) Der gleiche Laut der lezten, oder der zwey lezten Sylben in zwey Verſen. Er wird maͤnnlich genennt, wenn er nur auf der lezten langen Sylbe jedes der zwey Verſe liegt; wie Macht, Acht: weiblich wenn er auf den zwey lezten Sylben liegt, wie leben, ge- ben. Ehedem nennte man ofte die Verſe ſelbſt Rei- men, und allem Anſehen nach iſt dieſe Bedeutung aͤlter, als die izt gewoͤhnliche. Verſchiedene Voͤlker haben in dem Reim eine Schoͤnheit gefunden, die ihm das Anſehen einer weſentlichen Eigenſchaft der Verſe gegeben hat. Die griechiſchen und roͤmiſchen Dichter, haben nicht nur den Reim nicht geſucht, ſondern, als etwas fehler- haftes vermieden. (†) Aber in der Poeſie aller neue- rer Voͤlker, wurd er ehedem, und wird zum Theil noch jezo, als etwas weſentliches angeſehen. Doch haben zuerſt die Jtaliaͤner, hernach die Englaͤnder, und zulezt die Deutſchen ſich verſchiedentlich von die- ſem Joche befreyt, und den Reim entweder fuͤr un- nuͤze, oder gar fuͤr ſchaͤdlich gehalten. Wie uͤberhaupt ſelten etwas altes ohne Streitig- keiten kann abgeſchaft werden, ſo iſt auch unter uns vielfaͤltig uͤber den Werth des Reimes geſtritten wor- den. Daß es ſchoͤne und wolklingende Verſe ohne Reimen gebe, iſt aber durch die Erfahrung ſo aus- gemacht, daß hieruͤber kein Streit mehr ſeyn kann. Wem mit einer umſtaͤndlichen Unterſuchung uͤber die Herkunft des Reims gedient iſt, der kann ſie bey einem franzoͤſiſchen Schriftſteller finden. (††) Die Meinung des Biſchoffs Huͤet, daß die neuern Abendlaͤnder den Reim von den Arabern gelernt haben, iſt nicht ohne Wahrſcheinlichkeit. Nach- dem ſich dieſe in den mittaͤgigen Gegenden Frank- reichs niedergelaſſen, nahmen die erſten welſchen Dichter, die ſogenannte Troubadours (*) den Reim von ihnen. Die alten Barden haben, ſo viel man aus dem Oßian ſehen kann, nicht gereimt. Man kann aber einen ganz natuͤrlichen Grund von dem Urſprung des Reims angeben. So bald man kur- zen Saͤzen einen guten und fuͤr das Gedaͤchtnis vor- theilhaften Klang geben will, dieſer aber durch das bloße Sylbenmaaß nicht zu erhalten iſt, ſo bleibet allein der Reim dazu uͤbrig. Daher finden wir ihn in viel alten aus zwey kurzen Saͤzen beſtehen- den Spruͤchwoͤrtern, als: Gluͤk und Glas, wie bald bricht das. Dieſem Urſprung zufolge, wuͤrde er ſich in Diſticha und uͤberhaupt in ſolche Gedichte, wo allemal ein Sinn in zwey Verſe eingeſchloſ- ſen iſt, am allernatuͤrlichſten ſchiken. So ſollen noch izt die Gedichte der Araber ſeyn. Man kann uͤberhaupt ſagen, daß er zu Verſen, denen man ent- weder wegen der allzugroßen Kuͤrze, oder wegen der Unbiegſamkeit der Sprach keinen Wolklang geben kann, das einzige Mittel iſt, ſie wolklingend zu machen. Daher daͤrf man ſich nicht wundern, wenn er auch, wie Baretti verſichert (*), in der Poeſie (*) S. Richtig- keit. (†) Bey dieſem in II Buche der Aeneis vorkommen- den Verſe: Trojaque nunc ſtaret, Priamique arx alta maneres. macht Servius die Anmerkung: Stares ſi legeris, mane- ret ſequitur, propter ὁμοιοτελτυτον. (††) Hiſtoire de la poeſie françoiſe par L’Abbé Maſſieu. p. 76 f. (*) S. Provenza- liſche Dich- ter. (*) Ba- retti Reiſe nach Ge- nua 1 Th. 22. Br. Zweyter Theil. E e e e e e

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 971[953]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/400>, abgerufen am 24.11.2024.