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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Sat
serliche Wolseyn eines Volkes abzielende Anstalten
vorstellt; so werden wir bey genauerm Nachdenken
über menschliche Angelegenheiten allemal finden, daß
innere Zerrüttungen, sie herrschen in dem Verstand
oder in dem Willen, sehr fürchterliche Uebel sind, die
so bald sie eine gewisse Größe und Ausbreitung ge-
wonnen haben, ein ganzes Volk unwiederbringlich
ins Verderben stürzen. Gar ofte hat das, was
man blos für lächerlich hält, die schweeresten Folgen
für ein ganzes Volk gehabt. Diese Wahrheit wird
keinem nachdenkenden Beobachter der Menschen, bey
der Geschichte verschiedener Völker unbemerkt geblie-
ben seyn. Wer demnach ein Volk, oder nur einen
Stand in der bürgerlichen Gesellschaft, von einer
Thorheit, oder irgend einer andern verderblichen
Abweichung von dem geraden Weg der Natur und
Vernunft, zurüke bringen kann, hat ihm eine sehr
wichtige Wolthat erzeiget. Aber von der Würkung
der Satire wird hernach gesprochen werden, wenn
wir ihre Art und ihren Charakter näher werden be-
trachtet haben.

Der Satirenschreiber hat mit dem moralischen
Philosophen das gemein, daß er wie dieser, einge-
rissene, oder einreissende Schäden des sittlichen Men-
schen zu heilen sucht; aber in den Mitteln sind sie
verschieden. Dieser nihmt den ernsthaften lehrenden,
vermahnenden, warnenden Ton an, stellt das Uebel
bisweilen nach seinem Ursprung, bisweilen in seiner
allgemeinen Beschaffenheit, oft in seinen schädlichen
Folgen, aber allezeit unmittelbar in dem Ton des
Lehrers, vor. Ganz anders verfährt gemeiniglich
der Satiriste. Jhn selbst hat sein Stoff entweder
in verdrießliche, oder in spottende, oder blos lustig
scheinende Laune gesezt, und diese theilet er seinem
Leser mit. Das Uebel, welches er angreift, kommt
ihm in gewisser Gestalt und Farbe vor, die jene
Laune veranlassen; also schimpft, oder spottet, oder
lacht er, und beschreibet seinen Gegenstand nach dem
was darin für seine Laune am meisten auffallend
ist. Er verfährt dabey, wie jeder Künstler, sinn-
lich, nihmt statt allgemeiner Vorstellungen besondere;
es ist nicht seine Art die Thorheit, oder das Laster
zu entwikeln, sondern er schildert den Thoren und
Lasterhaften nach der Absicht, in welcher er die wie-
drigste, oder seltsameste, oder lächerlichste Gestalt
bekommt. Der Satiriker macht sich auch nicht zum
Gesez, sich sehr genau an die Richtigkeit der Zeichnung
zu binden, sondern übertreibet auch wol die Sach ein
[Spaltenumbruch]

Sat
wenig, und giebt ofte eine seiner Laune gemäße Car-
rikatur, statt der genauen Zeichnung. Dadurch
sucht er durch die Laune, in die er seinen Leser versezet,
ihn über die Ausschweifung die er schildert, verdrieß-
lich zu machen, oder ihn zu Verspottung und Bela-
chung derselben zu bringen. So unterscheiden sich
der Satiriker und der Moralist, bey einerley rühm-
licher Absicht, durch die Art der Ausführung.

Freylich sind sie nicht durchaus, in jeder Aeuße-
rung einzeler Gedanken von einander so verschieden,
daß sie gar nie, einer des andern Bahne beträten.
Der Satirenschreiber wird bisweilen in einzelen
Stellen ein Moraliste, und dieser geräth bisweilen
in das Fach der Satire. So wenig aber dieser,
wenn er auch etwas unwillig wird, sich feindseelig
zeiget, so wenig nihmt jener den Ton eines väter-
lichen Lehrers an; auch da wo er den Thoren beleh-
ret, thut er es als ein Zuchtmeister. Die Satire fährt
nicht nothwendig in einem Ton durchaus fort; Un-
willen, Spott und Lachen wechseln bisweilen darinn
mit einander ab; doch scheinet es, daß der lachende
und spottende Ton ihr vorzüglich eigen sey. Der
schiklichste Wahlspruch des Satiristen ist: Ridendo
dicere verum.
Nur dieses bleibt immer herrschend,
daß die Angriffe auf Unverstand Thorheit und Laster
würklich feindseelig seyen, und daß diese in ihrer
wiedrigen, oder lächerlichen oder schimpflichen Ge-
stallt dargestellt werden. Der Satiriker verfährt
wie ein Feind, der seinem Wiedersacher den Tod ge-
schwohren hat, und es so genau nicht nihmt, ob
er ihm durch einen geraden Angrif, oder durch Fech-
terstreiche beykomme.

Dieses mag hier hinlänglich seyn, den Charak-
ter der Satire überhaupt zu bestimmen.

Diese Gattung erfodert sowol einen starken Den-
ker, als einen Mann von warmen Gefühle. Gros-
ser Verstand und Scharfsinn helfen ihm jede Abwei-
chung von der Natur genau zu bemerken, und rich-
tig zu beurtheilen; sie heben ihn in die Höhe, von der
er die Menschen übersehen, und auf ihren Wegen
genau beobachten kann. Sein scharfes Aug ent-
deket die Folgen der Abweichungen, und ihre Wich-
tigkeit; er siehet das noch nicht vorhandene Verder-
ben, und wiedersezet sich ihm noch zu rechter Zeit.
Seine höhern Einsichten sezen ihn im Stande seinen
Mitbürgern die Gefahr die ihnen droht, und das
Uebel, das schon an ihrer Wolfarth wie ein Wurm
im Verborgenen naget, deutlich vor Augen zu legen;

er

[Spaltenumbruch]

Sat
ſerliche Wolſeyn eines Volkes abzielende Anſtalten
vorſtellt; ſo werden wir bey genauerm Nachdenken
uͤber menſchliche Angelegenheiten allemal finden, daß
innere Zerruͤttungen, ſie herrſchen in dem Verſtand
oder in dem Willen, ſehr fuͤrchterliche Uebel ſind, die
ſo bald ſie eine gewiſſe Groͤße und Ausbreitung ge-
wonnen haben, ein ganzes Volk unwiederbringlich
ins Verderben ſtuͤrzen. Gar ofte hat das, was
man blos fuͤr laͤcherlich haͤlt, die ſchweereſten Folgen
fuͤr ein ganzes Volk gehabt. Dieſe Wahrheit wird
keinem nachdenkenden Beobachter der Menſchen, bey
der Geſchichte verſchiedener Voͤlker unbemerkt geblie-
ben ſeyn. Wer demnach ein Volk, oder nur einen
Stand in der buͤrgerlichen Geſellſchaft, von einer
Thorheit, oder irgend einer andern verderblichen
Abweichung von dem geraden Weg der Natur und
Vernunft, zuruͤke bringen kann, hat ihm eine ſehr
wichtige Wolthat erzeiget. Aber von der Wuͤrkung
der Satire wird hernach geſprochen werden, wenn
wir ihre Art und ihren Charakter naͤher werden be-
trachtet haben.

Der Satirenſchreiber hat mit dem moraliſchen
Philoſophen das gemein, daß er wie dieſer, einge-
riſſene, oder einreiſſende Schaͤden des ſittlichen Men-
ſchen zu heilen ſucht; aber in den Mitteln ſind ſie
verſchieden. Dieſer nihmt den ernſthaften lehrenden,
vermahnenden, warnenden Ton an, ſtellt das Uebel
bisweilen nach ſeinem Urſprung, bisweilen in ſeiner
allgemeinen Beſchaffenheit, oft in ſeinen ſchaͤdlichen
Folgen, aber allezeit unmittelbar in dem Ton des
Lehrers, vor. Ganz anders verfaͤhrt gemeiniglich
der Satiriſte. Jhn ſelbſt hat ſein Stoff entweder
in verdrießliche, oder in ſpottende, oder blos luſtig
ſcheinende Laune geſezt, und dieſe theilet er ſeinem
Leſer mit. Das Uebel, welches er angreift, kommt
ihm in gewiſſer Geſtalt und Farbe vor, die jene
Laune veranlaſſen; alſo ſchimpft, oder ſpottet, oder
lacht er, und beſchreibet ſeinen Gegenſtand nach dem
was darin fuͤr ſeine Laune am meiſten auffallend
iſt. Er verfaͤhrt dabey, wie jeder Kuͤnſtler, ſinn-
lich, nihmt ſtatt allgemeiner Vorſtellungen beſondere;
es iſt nicht ſeine Art die Thorheit, oder das Laſter
zu entwikeln, ſondern er ſchildert den Thoren und
Laſterhaften nach der Abſicht, in welcher er die wie-
drigſte, oder ſeltſameſte, oder laͤcherlichſte Geſtalt
bekommt. Der Satiriker macht ſich auch nicht zum
Geſez, ſich ſehr genau an die Richtigkeit der Zeichnung
zu binden, ſondern uͤbertreibet auch wol die Sach ein
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Sat
wenig, und giebt ofte eine ſeiner Laune gemaͤße Car-
rikatur, ſtatt der genauen Zeichnung. Dadurch
ſucht er durch die Laune, in die er ſeinen Leſer verſezet,
ihn uͤber die Ausſchweifung die er ſchildert, verdrieß-
lich zu machen, oder ihn zu Verſpottung und Bela-
chung derſelben zu bringen. So unterſcheiden ſich
der Satiriker und der Moraliſt, bey einerley ruͤhm-
licher Abſicht, durch die Art der Ausfuͤhrung.

Freylich ſind ſie nicht durchaus, in jeder Aeuße-
rung einzeler Gedanken von einander ſo verſchieden,
daß ſie gar nie, einer des andern Bahne betraͤten.
Der Satirenſchreiber wird bisweilen in einzelen
Stellen ein Moraliſte, und dieſer geraͤth bisweilen
in das Fach der Satire. So wenig aber dieſer,
wenn er auch etwas unwillig wird, ſich feindſeelig
zeiget, ſo wenig nihmt jener den Ton eines vaͤter-
lichen Lehrers an; auch da wo er den Thoren beleh-
ret, thut er es als ein Zuchtmeiſter. Die Satire faͤhrt
nicht nothwendig in einem Ton durchaus fort; Un-
willen, Spott und Lachen wechſeln bisweilen darinn
mit einander ab; doch ſcheinet es, daß der lachende
und ſpottende Ton ihr vorzuͤglich eigen ſey. Der
ſchiklichſte Wahlſpruch des Satiriſten iſt: Ridendo
dicere verum.
Nur dieſes bleibt immer herrſchend,
daß die Angriffe auf Unverſtand Thorheit und Laſter
wuͤrklich feindſeelig ſeyen, und daß dieſe in ihrer
wiedrigen, oder laͤcherlichen oder ſchimpflichen Ge-
ſtallt dargeſtellt werden. Der Satiriker verfaͤhrt
wie ein Feind, der ſeinem Wiederſacher den Tod ge-
ſchwohren hat, und es ſo genau nicht nihmt, ob
er ihm durch einen geraden Angrif, oder durch Fech-
terſtreiche beykomme.

Dieſes mag hier hinlaͤnglich ſeyn, den Charak-
ter der Satire uͤberhaupt zu beſtimmen.

Dieſe Gattung erfodert ſowol einen ſtarken Den-
ker, als einen Mann von warmen Gefuͤhle. Groſ-
ſer Verſtand und Scharfſinn helfen ihm jede Abwei-
chung von der Natur genau zu bemerken, und rich-
tig zu beurtheilen; ſie heben ihn in die Hoͤhe, von der
er die Menſchen uͤberſehen, und auf ihren Wegen
genau beobachten kann. Sein ſcharfes Aug ent-
deket die Folgen der Abweichungen, und ihre Wich-
tigkeit; er ſiehet das noch nicht vorhandene Verder-
ben, und wiederſezet ſich ihm noch zu rechter Zeit.
Seine hoͤhern Einſichten ſezen ihn im Stande ſeinen
Mitbuͤrgern die Gefahr die ihnen droht, und das
Uebel, das ſchon an ihrer Wolfarth wie ein Wurm
im Verborgenen naget, deutlich vor Augen zu legen;

er
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 998[980]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/427>, abgerufen am 27.11.2024.