Die übermäßige Sexte ist von so großem Wolklange, daß zu vermuthen ist, daß man allezeit das Ver- hältniß 7 : 12, welches aus dem umgekehrten Ver- hältniß 6 : 7 (*) entsteht, zu vernehmen glaube. Warum aber das Gehör bey der übermäßigen Sexte nachgiebt, bey ihrer Umkehrung, nemlich der ver- minderten Terz, aber nicht, rührt vermuthlich da- her, weil die Sexte in einer gewissen Entfernung von ihrem Grundton liegt, und gegen ihn nicht so genau verglichen werden kann, als bey der vermin- derten Terz, die ihrem Grundton so nahe liegt, und in unserm heutigen System insgemein nur eine reine Secunde, folglich gar nicht zu gebrauchen ist. Daher ist die übermäßige Sexte im contrapunctischen Styl, wo die Stimmen sich umkehren lassen müssen, gänzlich verboten; in der freyeren Schreibart aber ist sie von großer Schönheit, und oft von Ausdruk, wenn sie mäßig gebraucht wird. Sie tritt, wie alle übermäßigen Jntervalle einen Grad über sich. (*)
Bey halben Cadenzen läßt man bisweilen in einer Stimme des vorlezten Accordes die große Sexte durch- gehen, wie hier:
[Abbildung]
Die Franzosen haben diese durchgehende Sexte zu einer dissonirenden Hauptnote gemacht, und daraus einen Grundaccord formiret, den sie l'Accord de Sixte-ajoutee benennen. Daß dieser Grundaccord aber sehr überflüßig und eine bloße Chimäre sey, hat Hr. Kirnberger in seinem Zusaz zu der Kunst des reinen Sazes außer allen Zweifel gesezt.
Sextenaccord. (Musik.)
Er entsteht aus der ersten Verwechslung des Drey- klanges, nämlich wenn die Terz desselben zum Grundton genommen wird; die Quinte wird als- denn zur Terz, und die Octave zur Sexte: Von diesen wird nach Beschaffenheit der Umstände bald die Terz, bald die Sexte, bald die Octave in der vierten Stimme verdoppelt. Man sehe die dem Artikel Dreyklang angehängte Tabelle, wo diese Ver- [Spaltenumbruch]
Sex
doppelungen bey dem Sextenaccord unter den Buch- staben h, i, k, ausgesezt sind. Diese Verwechs- lung, oder Umkehrung des Dreyklanges hat allemal eine Verminderung, oder Schwächung des vollkom- menen Consonirens zum Grund, wird also vornehm- lich da gebraucht, wo man die Octav, oder die Quinte in der Hauptstimme mitten im Zusammen- hang nöthig hat. Da benihmt man diesen vollkom- menen Consonanzen, durch Verwechslung des Baß- tones ihre befriedigende Kraft, hebt den Ruhepunkt, den sie verursachen würden, auf, und bringt folglich mehr Zusammenhang in die Melodie.
Jm vierstimmigen Saz kommt es hauptsächlich darauf an, welches Jntervall bey diesem Accord am schiklichsten verdoppelt werde, damit nicht verbotene oder unmelodische Fortschreitungen entstehen. Um hierin nicht zu fehlen, darf man nur darauf mer- ken, daß kein Leitton (*) verdoppelt werden müsse; folglich kann weder bey dem Sextenaccord, der aus dem Dreyklang der Dominante entsteht, noch über- haupt bey dem Sextenaccord, wo der Baßton einen halben Ton über sich in den Dreyklang steigt, die Octave verdoppelt werden, weil der Baßton als ein Leitton, nämlich als das Semitonium von dem fol- genden Ton anzusehen ist. So kann auch keine Sexte oder Terz, die ein Leitton eines folgenden Tones ist, oder durch ein zufälliges Versezungszei- chen dazu gemacht worden, verdoppelt werden. Jn allen benannten Fällen würden entweder Octaven, oder sonst eine unsangbare Fortschreitung entstehen. Es sind aber so wohl in der Dur- als in der aufstei- genden Molltonleiter nur zwey Stufen, auf denen der Sextenaccord einen natürlichen leitton in sich be- greift, nämlich wenn er auf der Septime oder auf der Secunde der Tonica vorkommt. Jm ersten Falle liegt der Leitton im Basse, im andern ist die Sexte dieser Leitton. Von diesem lezten Sextenaccord wird aber hernach noch besonders gesprochen werden. Alle übrigen Sextenaccorde auf den andern Stufen der Tonleiter sind ohne Leittöne, und vertragen daher jede Verdoppelung, wovon doch diejenige die beste ist, die in der Fortschreitung gegen die übrigen Stim- men nichts fehlerhaftes enthält, und am natürlich- sten den Gesang befördert. Doch verdoppelt man bey keinem Sextenaccord ohne Noth die Octave in der Oberstimme, weil diese Verdoppelung in den äußersten Stimmen auch bey der vollesten Harmo- nie leer klingt.
Es
(*) S. Consonanz. Terz.
(*) S. Uebermäs- sig.
(*) S. Leitton.
[Spaltenumbruch]
Sex
Die uͤbermaͤßige Sexte iſt von ſo großem Wolklange, daß zu vermuthen iſt, daß man allezeit das Ver- haͤltniß 7 : 12, welches aus dem umgekehrten Ver- haͤltniß 6 : 7 (*) entſteht, zu vernehmen glaube. Warum aber das Gehoͤr bey der uͤbermaͤßigen Sexte nachgiebt, bey ihrer Umkehrung, nemlich der ver- minderten Terz, aber nicht, ruͤhrt vermuthlich da- her, weil die Sexte in einer gewiſſen Entfernung von ihrem Grundton liegt, und gegen ihn nicht ſo genau verglichen werden kann, als bey der vermin- derten Terz, die ihrem Grundton ſo nahe liegt, und in unſerm heutigen Syſtem insgemein nur eine reine Secunde, folglich gar nicht zu gebrauchen iſt. Daher iſt die uͤbermaͤßige Sexte im contrapunctiſchen Styl, wo die Stimmen ſich umkehren laſſen muͤſſen, gaͤnzlich verboten; in der freyeren Schreibart aber iſt ſie von großer Schoͤnheit, und oft von Ausdruk, wenn ſie maͤßig gebraucht wird. Sie tritt, wie alle uͤbermaͤßigen Jntervalle einen Grad uͤber ſich. (*)
Bey halben Cadenzen laͤßt man bisweilen in einer Stimme des vorlezten Accordes die große Sexte durch- gehen, wie hier:
[Abbildung]
Die Franzoſen haben dieſe durchgehende Sexte zu einer diſſonirenden Hauptnote gemacht, und daraus einen Grundaccord formiret, den ſie l’Accord de Sixte-ajoutée benennen. Daß dieſer Grundaccord aber ſehr uͤberfluͤßig und eine bloße Chimaͤre ſey, hat Hr. Kirnberger in ſeinem Zuſaz zu der Kunſt des reinen Sazes außer allen Zweifel geſezt.
Sextenaccord. (Muſik.)
Er entſteht aus der erſten Verwechslung des Drey- klanges, naͤmlich wenn die Terz deſſelben zum Grundton genommen wird; die Quinte wird als- denn zur Terz, und die Octave zur Sexte: Von dieſen wird nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde bald die Terz, bald die Sexte, bald die Octave in der vierten Stimme verdoppelt. Man ſehe die dem Artikel Dreyklang angehaͤngte Tabelle, wo dieſe Ver- [Spaltenumbruch]
Sex
doppelungen bey dem Sextenaccord unter den Buch- ſtaben h, i, k, ausgeſezt ſind. Dieſe Verwechs- lung, oder Umkehrung des Dreyklanges hat allemal eine Verminderung, oder Schwaͤchung des vollkom- menen Conſonirens zum Grund, wird alſo vornehm- lich da gebraucht, wo man die Octav, oder die Quinte in der Hauptſtimme mitten im Zuſammen- hang noͤthig hat. Da benihmt man dieſen vollkom- menen Conſonanzen, durch Verwechslung des Baß- tones ihre befriedigende Kraft, hebt den Ruhepunkt, den ſie verurſachen wuͤrden, auf, und bringt folglich mehr Zuſammenhang in die Melodie.
Jm vierſtimmigen Saz kommt es hauptſaͤchlich darauf an, welches Jntervall bey dieſem Accord am ſchiklichſten verdoppelt werde, damit nicht verbotene oder unmelodiſche Fortſchreitungen entſtehen. Um hierin nicht zu fehlen, darf man nur darauf mer- ken, daß kein Leitton (*) verdoppelt werden muͤſſe; folglich kann weder bey dem Sextenaccord, der aus dem Dreyklang der Dominante entſteht, noch uͤber- haupt bey dem Sextenaccord, wo der Baßton einen halben Ton uͤber ſich in den Dreyklang ſteigt, die Octave verdoppelt werden, weil der Baßton als ein Leitton, naͤmlich als das Semitonium von dem fol- genden Ton anzuſehen iſt. So kann auch keine Sexte oder Terz, die ein Leitton eines folgenden Tones iſt, oder durch ein zufaͤlliges Verſezungszei- chen dazu gemacht worden, verdoppelt werden. Jn allen benannten Faͤllen wuͤrden entweder Octaven, oder ſonſt eine unſangbare Fortſchreitung entſtehen. Es ſind aber ſo wohl in der Dur- als in der aufſtei- genden Molltonleiter nur zwey Stufen, auf denen der Sextenaccord einen natuͤrlichen leitton in ſich be- greift, naͤmlich wenn er auf der Septime oder auf der Secunde der Tonica vorkommt. Jm erſten Falle liegt der Leitton im Baſſe, im andern iſt die Sexte dieſer Leitton. Von dieſem lezten Sextenaccord wird aber hernach noch beſonders geſprochen werden. Alle uͤbrigen Sextenaccorde auf den andern Stufen der Tonleiter ſind ohne Leittoͤne, und vertragen daher jede Verdoppelung, wovon doch diejenige die beſte iſt, die in der Fortſchreitung gegen die uͤbrigen Stim- men nichts fehlerhaftes enthaͤlt, und am natuͤrlich- ſten den Geſang befoͤrdert. Doch verdoppelt man bey keinem Sextenaccord ohne Noth die Octave in der Oberſtimme, weil dieſe Verdoppelung in den aͤußerſten Stimmen auch bey der volleſten Harmo- nie leer klingt.
Es
(*) S. Conſonanz. Terz.
(*) S. Uebermaͤſ- ſig.
(*) S. Leitton.
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[1073[1055]/0502]
Sex
Sex
Die uͤbermaͤßige Sexte iſt von ſo großem Wolklange,
daß zu vermuthen iſt, daß man allezeit das Ver-
haͤltniß 7 : 12, welches aus dem umgekehrten Ver-
haͤltniß 6 : 7 (*) entſteht, zu vernehmen glaube.
Warum aber das Gehoͤr bey der uͤbermaͤßigen Sexte
nachgiebt, bey ihrer Umkehrung, nemlich der ver-
minderten Terz, aber nicht, ruͤhrt vermuthlich da-
her, weil die Sexte in einer gewiſſen Entfernung
von ihrem Grundton liegt, und gegen ihn nicht ſo
genau verglichen werden kann, als bey der vermin-
derten Terz, die ihrem Grundton ſo nahe liegt,
und in unſerm heutigen Syſtem insgemein nur eine
reine Secunde, folglich gar nicht zu gebrauchen iſt.
Daher iſt die uͤbermaͤßige Sexte im contrapunctiſchen
Styl, wo die Stimmen ſich umkehren laſſen muͤſſen,
gaͤnzlich verboten; in der freyeren Schreibart aber
iſt ſie von großer Schoͤnheit, und oft von Ausdruk,
wenn ſie maͤßig gebraucht wird. Sie tritt, wie alle
uͤbermaͤßigen Jntervalle einen Grad uͤber ſich. (*)
Bey halben Cadenzen laͤßt man bisweilen in einer
Stimme des vorlezten Accordes die große Sexte durch-
gehen, wie hier:
[Abbildung]
Die Franzoſen haben dieſe durchgehende Sexte zu
einer diſſonirenden Hauptnote gemacht, und daraus
einen Grundaccord formiret, den ſie l’Accord de
Sixte-ajoutée benennen. Daß dieſer Grundaccord
aber ſehr uͤberfluͤßig und eine bloße Chimaͤre ſey, hat
Hr. Kirnberger in ſeinem Zuſaz zu der Kunſt des
reinen Sazes außer allen Zweifel geſezt.
Sextenaccord.
(Muſik.)
Er entſteht aus der erſten Verwechslung des Drey-
klanges, naͤmlich wenn die Terz deſſelben zum
Grundton genommen wird; die Quinte wird als-
denn zur Terz, und die Octave zur Sexte: Von
dieſen wird nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde bald
die Terz, bald die Sexte, bald die Octave in der
vierten Stimme verdoppelt. Man ſehe die dem
Artikel Dreyklang angehaͤngte Tabelle, wo dieſe Ver-
doppelungen bey dem Sextenaccord unter den Buch-
ſtaben h, i, k, ausgeſezt ſind. Dieſe Verwechs-
lung, oder Umkehrung des Dreyklanges hat allemal
eine Verminderung, oder Schwaͤchung des vollkom-
menen Conſonirens zum Grund, wird alſo vornehm-
lich da gebraucht, wo man die Octav, oder die
Quinte in der Hauptſtimme mitten im Zuſammen-
hang noͤthig hat. Da benihmt man dieſen vollkom-
menen Conſonanzen, durch Verwechslung des Baß-
tones ihre befriedigende Kraft, hebt den Ruhepunkt,
den ſie verurſachen wuͤrden, auf, und bringt folglich
mehr Zuſammenhang in die Melodie.
Jm vierſtimmigen Saz kommt es hauptſaͤchlich
darauf an, welches Jntervall bey dieſem Accord am
ſchiklichſten verdoppelt werde, damit nicht verbotene
oder unmelodiſche Fortſchreitungen entſtehen. Um
hierin nicht zu fehlen, darf man nur darauf mer-
ken, daß kein Leitton (*) verdoppelt werden muͤſſe;
folglich kann weder bey dem Sextenaccord, der aus
dem Dreyklang der Dominante entſteht, noch uͤber-
haupt bey dem Sextenaccord, wo der Baßton einen
halben Ton uͤber ſich in den Dreyklang ſteigt, die
Octave verdoppelt werden, weil der Baßton als ein
Leitton, naͤmlich als das Semitonium von dem fol-
genden Ton anzuſehen iſt. So kann auch keine
Sexte oder Terz, die ein Leitton eines folgenden
Tones iſt, oder durch ein zufaͤlliges Verſezungszei-
chen dazu gemacht worden, verdoppelt werden. Jn
allen benannten Faͤllen wuͤrden entweder Octaven,
oder ſonſt eine unſangbare Fortſchreitung entſtehen.
Es ſind aber ſo wohl in der Dur- als in der aufſtei-
genden Molltonleiter nur zwey Stufen, auf denen
der Sextenaccord einen natuͤrlichen leitton in ſich be-
greift, naͤmlich wenn er auf der Septime oder auf
der Secunde der Tonica vorkommt. Jm erſten Falle
liegt der Leitton im Baſſe, im andern iſt die Sexte
dieſer Leitton. Von dieſem lezten Sextenaccord wird
aber hernach noch beſonders geſprochen werden. Alle
uͤbrigen Sextenaccorde auf den andern Stufen der
Tonleiter ſind ohne Leittoͤne, und vertragen daher jede
Verdoppelung, wovon doch diejenige die beſte iſt,
die in der Fortſchreitung gegen die uͤbrigen Stim-
men nichts fehlerhaftes enthaͤlt, und am natuͤrlich-
ſten den Geſang befoͤrdert. Doch verdoppelt man
bey keinem Sextenaccord ohne Noth die Octave in
der Oberſtimme, weil dieſe Verdoppelung in den
aͤußerſten Stimmen auch bey der volleſten Harmo-
nie leer klingt.
Es
(*) S.
Conſonanz.
Terz.
(*) S.
Uebermaͤſ-
ſig.
(*) S.
Leitton.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1073[1055]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/502>, abgerufen am 24.11.2024.
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