einzigen untheilbaren Punkt der Zeit vor; deutliche Begriffe kann man nicht anders, als allmählig be- kommen, in dem man das Einzele darin Stükweis betrachtet, und gleichsam aufzählt.
Hieraus entstehet nun ein merkwürdiger Unter- schied zwischen sinnlichem und wissenschaftlichem Denken, in Absicht auf die Würkung.
Weil wir den sinnlichen Begriff schnell und ohne Anstrengung der Aufmerksamkeit fassen, so können wir uns sogleich dem Eindruk, den er auf uns macht, überlassen, und ihn ganz empfinden. Der Begriff, den wir deutlich zu fassen bemühet sind, würket gar nichts in uns, als ein bloßes Bestreben, das Ein- zele darin zu sehen, oder zu fassen. Dort empfin- den wir alles Einzele auf einmal, ohne es zu erken- nen, oder zu unterscheiden; hier aber sehen, oder empfinden wir nur einen einzigen, einfachen Theil auf einmal, und sind so stark beschäftiget, diesen zu fassen, daß wir das Ganze darüber aus dem Ge- sichte verliehren, und keine Würkung davon in uns spühren. Derjenige, der einem Taschenspiehler, oder Seiltänzer zusieht, und alle Augenblik etwas unbegreifliches, wiedersprechend scheinendes, oder gefährliches wahrnihmt, genießt die Eindrüke da- von, er wird in beständiger Bewundrung, Erwar- tung und Furcht unterhalten: wer aber dabey sein Nachdenken anstrenget, um zu entdeken, wie alles zugeht, wie das unmöglich scheinende möglich ist, u. s. f. fühlt nichts von jenen Eindrüken; seine ganze Aufmerksamkeit ist auf das Erkennen der Sache ge- richtet; er sieht nicht ein ganzes Kunststük auf ein- mal, sondern immer nur eine sehr kleine Bewegung und gleichsam nur einen Punkt. Man sehe auch zu leichterm Begriff dieser Sache die Anmerkung nach, die wir an einem andern Orte (*) hierüber gemacht haben.
Und nun begreift man leichte, warum den reden- den Künsten dieses als eine Grundmaxime vorge- schrieben wird, sie sollen überall sinnlich sprechen. Denn da ihr Zwek ist, stark und lebhaft zu rühren, dieses aber durch Entwiklung der Begriffe nicht ge- schehen kann; weil dabey alle Aufmerksamkeit nur auf das Erkennen der Sachen gerichtet ist; so müssen sie sich dessen völlig enthalten. Je sinnlicher der Redner oder Dichter spricht, je schneller wird er gefaßt, und je mehr Würkung thut das, was er sagt. Dieses kann als eine Grundlage dessen, was [Spaltenumbruch]
Sin
wir hier noch zum Behuf des Künstlers zu sagen haben, hinlänglich seyn.
Wie das sinnliche Denken vor dem speculativen einen großen Vorzug hat, wenn es auf praktische Kenntnis, und auf ein Wissen, das auf Handeln ein- fließen soll, ankommt; so ist auch ein denkendes Empfinden, in manchem Falle dem gedankenlosen Ge- fühl vorzuziehen. Dieses Gefühl würket weiter nichts, als die damit unmittelbar verbundene Lust, oder Un- lust, und läßt, nachdem diese vorbey sind, weiter keine Spuhr in der Seele. Hingegen sind die Empfin- dungen, die zugleich mit klaren Vorstellungen ihrer Ursachen und Würkungen verbunden sind, von gros- ser Wichtigkeit. Sie sind es, die uns Kenntnis des sittlichen Guten und Bösen geben, Neigung zu jenem, und Scheuh für dieses einpflanzen.
Jenes gedankenlose Gefühl liegt blos in der thie- rischen Natur, beziehet sich nur auf körperliche Be- dürfnisse, und ist deswegen kein Gegenstand der schö- nen Künste. Für die Erhaltung, Vervollkommnung und Fortpflanzung der animalischen Natur, ist ohne unser Nachdenken gesorget; aber die allmählige Er- hebung des sittlichen Menschen, die Ausbreitung und Fortpflanzung des höheren sittlichen Lebens, ist der rühmlichen Bemühung edlerer Seelen überlassen. Diese machen die Seele für das sittliche Gute em- pfindsam, wie die Natur dem Körper für das phy- sische Gute ein Gefühl gegeben hat. Und darin besteht der höchste und edelste Zwek der schönen Künste. Sie reizen die Empfindung zwar vermit- telst der äußern Sinnen, aber nicht durch blos sinn- liche Gegenstände. Sie legen der Vorstellungskraft Gegenstände der klaren Erkenntnis vor, und in diese legen sie den Reiz zu angenehmen und wiedrigen Empfindungen, damit der nicht blos thierische, son- dern vernünftige Mensch das Gute und Böse ken- nen, jenes suchen und dieses vermeiden lerne.
Dieses ist nun alles, was der Künstler von der Theorie des Sinnlichen zu wissen nöthig hat. Nun kommen wir auf die Anwendung desselben.
Hier würde nun zuerst anzumerken seyn, mit wel- cher Sorgfalt der Künstler sich des Sinnlichen be- dienen müsse, um das Angenehme und Unangeneh- me, womit es insgemein begleitet ist, nicht am un- rechten Ort anzubringen; davon aber ist bereits an so viel Stellen dieses Werks und so hinlänglich ge- sprochen worden, daß wir diesen Punkt hier überge- hen können. Es bleibet uns also nur noch übrig
zu
(*) S. Leh- rende Re- de. S. 685.
[Spaltenumbruch]
Sin
einzigen untheilbaren Punkt der Zeit vor; deutliche Begriffe kann man nicht anders, als allmaͤhlig be- kommen, in dem man das Einzele darin Stuͤkweis betrachtet, und gleichſam aufzaͤhlt.
Hieraus entſtehet nun ein merkwuͤrdiger Unter- ſchied zwiſchen ſinnlichem und wiſſenſchaftlichem Denken, in Abſicht auf die Wuͤrkung.
Weil wir den ſinnlichen Begriff ſchnell und ohne Anſtrengung der Aufmerkſamkeit faſſen, ſo koͤnnen wir uns ſogleich dem Eindruk, den er auf uns macht, uͤberlaſſen, und ihn ganz empfinden. Der Begriff, den wir deutlich zu faſſen bemuͤhet ſind, wuͤrket gar nichts in uns, als ein bloßes Beſtreben, das Ein- zele darin zu ſehen, oder zu faſſen. Dort empfin- den wir alles Einzele auf einmal, ohne es zu erken- nen, oder zu unterſcheiden; hier aber ſehen, oder empfinden wir nur einen einzigen, einfachen Theil auf einmal, und ſind ſo ſtark beſchaͤftiget, dieſen zu faſſen, daß wir das Ganze daruͤber aus dem Ge- ſichte verliehren, und keine Wuͤrkung davon in uns ſpuͤhren. Derjenige, der einem Taſchenſpiehler, oder Seiltaͤnzer zuſieht, und alle Augenblik etwas unbegreifliches, wiederſprechend ſcheinendes, oder gefaͤhrliches wahrnihmt, genießt die Eindruͤke da- von, er wird in beſtaͤndiger Bewundrung, Erwar- tung und Furcht unterhalten: wer aber dabey ſein Nachdenken anſtrenget, um zu entdeken, wie alles zugeht, wie das unmoͤglich ſcheinende moͤglich iſt, u. ſ. f. fuͤhlt nichts von jenen Eindruͤken; ſeine ganze Aufmerkſamkeit iſt auf das Erkennen der Sache ge- richtet; er ſieht nicht ein ganzes Kunſtſtuͤk auf ein- mal, ſondern immer nur eine ſehr kleine Bewegung und gleichſam nur einen Punkt. Man ſehe auch zu leichterm Begriff dieſer Sache die Anmerkung nach, die wir an einem andern Orte (*) hieruͤber gemacht haben.
Und nun begreift man leichte, warum den reden- den Kuͤnſten dieſes als eine Grundmaxime vorge- ſchrieben wird, ſie ſollen uͤberall ſinnlich ſprechen. Denn da ihr Zwek iſt, ſtark und lebhaft zu ruͤhren, dieſes aber durch Entwiklung der Begriffe nicht ge- ſchehen kann; weil dabey alle Aufmerkſamkeit nur auf das Erkennen der Sachen gerichtet iſt; ſo muͤſſen ſie ſich deſſen voͤllig enthalten. Je ſinnlicher der Redner oder Dichter ſpricht, je ſchneller wird er gefaßt, und je mehr Wuͤrkung thut das, was er ſagt. Dieſes kann als eine Grundlage deſſen, was [Spaltenumbruch]
Sin
wir hier noch zum Behuf des Kuͤnſtlers zu ſagen haben, hinlaͤnglich ſeyn.
Wie das ſinnliche Denken vor dem ſpeculativen einen großen Vorzug hat, wenn es auf praktiſche Kenntnis, und auf ein Wiſſen, das auf Handeln ein- fließen ſoll, ankommt; ſo iſt auch ein denkendes Empfinden, in manchem Falle dem gedankenloſen Ge- fuͤhl vorzuziehen. Dieſes Gefuͤhl wuͤrket weiter nichts, als die damit unmittelbar verbundene Luſt, oder Un- luſt, und laͤßt, nachdem dieſe vorbey ſind, weiter keine Spuhr in der Seele. Hingegen ſind die Empfin- dungen, die zugleich mit klaren Vorſtellungen ihrer Urſachen und Wuͤrkungen verbunden ſind, von groſ- ſer Wichtigkeit. Sie ſind es, die uns Kenntnis des ſittlichen Guten und Boͤſen geben, Neigung zu jenem, und Scheuh fuͤr dieſes einpflanzen.
Jenes gedankenloſe Gefuͤhl liegt blos in der thie- riſchen Natur, beziehet ſich nur auf koͤrperliche Be- duͤrfniſſe, und iſt deswegen kein Gegenſtand der ſchoͤ- nen Kuͤnſte. Fuͤr die Erhaltung, Vervollkommnung und Fortpflanzung der animaliſchen Natur, iſt ohne unſer Nachdenken geſorget; aber die allmaͤhlige Er- hebung des ſittlichen Menſchen, die Ausbreitung und Fortpflanzung des hoͤheren ſittlichen Lebens, iſt der ruͤhmlichen Bemuͤhung edlerer Seelen uͤberlaſſen. Dieſe machen die Seele fuͤr das ſittliche Gute em- pfindſam, wie die Natur dem Koͤrper fuͤr das phy- ſiſche Gute ein Gefuͤhl gegeben hat. Und darin beſteht der hoͤchſte und edelſte Zwek der ſchoͤnen Kuͤnſte. Sie reizen die Empfindung zwar vermit- telſt der aͤußern Sinnen, aber nicht durch blos ſinn- liche Gegenſtaͤnde. Sie legen der Vorſtellungskraft Gegenſtaͤnde der klaren Erkenntnis vor, und in dieſe legen ſie den Reiz zu angenehmen und wiedrigen Empfindungen, damit der nicht blos thieriſche, ſon- dern vernuͤnftige Menſch das Gute und Boͤſe ken- nen, jenes ſuchen und dieſes vermeiden lerne.
Dieſes iſt nun alles, was der Kuͤnſtler von der Theorie des Sinnlichen zu wiſſen noͤthig hat. Nun kommen wir auf die Anwendung deſſelben.
Hier wuͤrde nun zuerſt anzumerken ſeyn, mit wel- cher Sorgfalt der Kuͤnſtler ſich des Sinnlichen be- dienen muͤſſe, um das Angenehme und Unangeneh- me, womit es insgemein begleitet iſt, nicht am un- rechten Ort anzubringen; davon aber iſt bereits an ſo viel Stellen dieſes Werks und ſo hinlaͤnglich ge- ſprochen worden, daß wir dieſen Punkt hier uͤberge- hen koͤnnen. Es bleibet uns alſo nur noch uͤbrig
zu
(*) S. Leh- rende Re- de. S. 685.
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[1086[1068]/0515]
Sin
Sin
einzigen untheilbaren Punkt der Zeit vor; deutliche
Begriffe kann man nicht anders, als allmaͤhlig be-
kommen, in dem man das Einzele darin Stuͤkweis
betrachtet, und gleichſam aufzaͤhlt.
Hieraus entſtehet nun ein merkwuͤrdiger Unter-
ſchied zwiſchen ſinnlichem und wiſſenſchaftlichem
Denken, in Abſicht auf die Wuͤrkung.
Weil wir den ſinnlichen Begriff ſchnell und ohne
Anſtrengung der Aufmerkſamkeit faſſen, ſo koͤnnen
wir uns ſogleich dem Eindruk, den er auf uns macht,
uͤberlaſſen, und ihn ganz empfinden. Der Begriff,
den wir deutlich zu faſſen bemuͤhet ſind, wuͤrket gar
nichts in uns, als ein bloßes Beſtreben, das Ein-
zele darin zu ſehen, oder zu faſſen. Dort empfin-
den wir alles Einzele auf einmal, ohne es zu erken-
nen, oder zu unterſcheiden; hier aber ſehen, oder
empfinden wir nur einen einzigen, einfachen Theil
auf einmal, und ſind ſo ſtark beſchaͤftiget, dieſen zu
faſſen, daß wir das Ganze daruͤber aus dem Ge-
ſichte verliehren, und keine Wuͤrkung davon in uns
ſpuͤhren. Derjenige, der einem Taſchenſpiehler,
oder Seiltaͤnzer zuſieht, und alle Augenblik etwas
unbegreifliches, wiederſprechend ſcheinendes, oder
gefaͤhrliches wahrnihmt, genießt die Eindruͤke da-
von, er wird in beſtaͤndiger Bewundrung, Erwar-
tung und Furcht unterhalten: wer aber dabey ſein
Nachdenken anſtrenget, um zu entdeken, wie alles
zugeht, wie das unmoͤglich ſcheinende moͤglich iſt,
u. ſ. f. fuͤhlt nichts von jenen Eindruͤken; ſeine ganze
Aufmerkſamkeit iſt auf das Erkennen der Sache ge-
richtet; er ſieht nicht ein ganzes Kunſtſtuͤk auf ein-
mal, ſondern immer nur eine ſehr kleine Bewegung
und gleichſam nur einen Punkt. Man ſehe auch
zu leichterm Begriff dieſer Sache die Anmerkung
nach, die wir an einem andern Orte (*) hieruͤber
gemacht haben.
Und nun begreift man leichte, warum den reden-
den Kuͤnſten dieſes als eine Grundmaxime vorge-
ſchrieben wird, ſie ſollen uͤberall ſinnlich ſprechen.
Denn da ihr Zwek iſt, ſtark und lebhaft zu ruͤhren,
dieſes aber durch Entwiklung der Begriffe nicht ge-
ſchehen kann; weil dabey alle Aufmerkſamkeit nur
auf das Erkennen der Sachen gerichtet iſt; ſo
muͤſſen ſie ſich deſſen voͤllig enthalten. Je ſinnlicher
der Redner oder Dichter ſpricht, je ſchneller wird er
gefaßt, und je mehr Wuͤrkung thut das, was er
ſagt. Dieſes kann als eine Grundlage deſſen, was
wir hier noch zum Behuf des Kuͤnſtlers zu ſagen
haben, hinlaͤnglich ſeyn.
Wie das ſinnliche Denken vor dem ſpeculativen
einen großen Vorzug hat, wenn es auf praktiſche
Kenntnis, und auf ein Wiſſen, das auf Handeln ein-
fließen ſoll, ankommt; ſo iſt auch ein denkendes
Empfinden, in manchem Falle dem gedankenloſen Ge-
fuͤhl vorzuziehen. Dieſes Gefuͤhl wuͤrket weiter nichts,
als die damit unmittelbar verbundene Luſt, oder Un-
luſt, und laͤßt, nachdem dieſe vorbey ſind, weiter keine
Spuhr in der Seele. Hingegen ſind die Empfin-
dungen, die zugleich mit klaren Vorſtellungen ihrer
Urſachen und Wuͤrkungen verbunden ſind, von groſ-
ſer Wichtigkeit. Sie ſind es, die uns Kenntnis
des ſittlichen Guten und Boͤſen geben, Neigung zu
jenem, und Scheuh fuͤr dieſes einpflanzen.
Jenes gedankenloſe Gefuͤhl liegt blos in der thie-
riſchen Natur, beziehet ſich nur auf koͤrperliche Be-
duͤrfniſſe, und iſt deswegen kein Gegenſtand der ſchoͤ-
nen Kuͤnſte. Fuͤr die Erhaltung, Vervollkommnung
und Fortpflanzung der animaliſchen Natur, iſt ohne
unſer Nachdenken geſorget; aber die allmaͤhlige Er-
hebung des ſittlichen Menſchen, die Ausbreitung
und Fortpflanzung des hoͤheren ſittlichen Lebens, iſt
der ruͤhmlichen Bemuͤhung edlerer Seelen uͤberlaſſen.
Dieſe machen die Seele fuͤr das ſittliche Gute em-
pfindſam, wie die Natur dem Koͤrper fuͤr das phy-
ſiſche Gute ein Gefuͤhl gegeben hat. Und darin
beſteht der hoͤchſte und edelſte Zwek der ſchoͤnen
Kuͤnſte. Sie reizen die Empfindung zwar vermit-
telſt der aͤußern Sinnen, aber nicht durch blos ſinn-
liche Gegenſtaͤnde. Sie legen der Vorſtellungskraft
Gegenſtaͤnde der klaren Erkenntnis vor, und in dieſe
legen ſie den Reiz zu angenehmen und wiedrigen
Empfindungen, damit der nicht blos thieriſche, ſon-
dern vernuͤnftige Menſch das Gute und Boͤſe ken-
nen, jenes ſuchen und dieſes vermeiden lerne.
Dieſes iſt nun alles, was der Kuͤnſtler von der
Theorie des Sinnlichen zu wiſſen noͤthig hat. Nun
kommen wir auf die Anwendung deſſelben.
Hier wuͤrde nun zuerſt anzumerken ſeyn, mit wel-
cher Sorgfalt der Kuͤnſtler ſich des Sinnlichen be-
dienen muͤſſe, um das Angenehme und Unangeneh-
me, womit es insgemein begleitet iſt, nicht am un-
rechten Ort anzubringen; davon aber iſt bereits an
ſo viel Stellen dieſes Werks und ſo hinlaͤnglich ge-
ſprochen worden, daß wir dieſen Punkt hier uͤberge-
hen koͤnnen. Es bleibet uns alſo nur noch uͤbrig
zu
(*) S. Leh-
rende Re-
de. S. 685.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1086[1068]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/515>, abgerufen am 24.11.2024.
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