Daher sollten die übrigen alten Tonarten, in Kirchenmusiken nicht so gar aus der Acht gelassen, sondern wenigstens mit den unsrigen verbunden wer- den. Da wir durch unser erweitertes System, und durch die den Alten unbekannten Semitonien im Stande sind, jede Tonart in zwölf Töne zu ver- sezen, und dem Gesange eine der Tonart gemäße volle harmonische Begleitung zu geben, so wür- den die Kirchentöne dadurch noch eine vollkommnere Gestalt gewinnen, und von der größten Kraft seyn. Die vortreflichen Präludien vor den Cate- chismusgesängen des alten Bachs, und viele Kir- chenstüke dieses großen Tonkünstlers zeugen, wel- cher mannigfaltigen Behandlung und großen Aus- druks die alten Tonarten fähig seyn.
Viele Neuere, die keine andere als unsere Dur- oder Molltonart kennen, oder doch nicht für gültig erkennen wollen, mögen versuchen, ob sie im Stan- de seyn, eine einzige so vollkommene, ausdruksvolle und herzangreifende Choralmelodie in unseren Ton- arten zu sezen, als es deren eine Menge in den al- ten giebt. Unmöglich können die melodischen Fort- schreitungen, Modulationen und Cadenzen, die man in Opernarien und Tanzstüken zu hören ge- wohnt ist, in der Kirche von Kraft und Anstand, und zu jedem Ausdruk der Kirche schiklich seyn. Hin- gegen gewinnt der Choralgesang in den alten Tonar- ten durch die Mannigfaltigkeit der Modulationen, die in unseren Tonarten fremd und fehlerhaft sind, ein ganz anderes Ansehen, und die Aufmerksamkeit, die bey so einförmigen Melodien sowol in Ansehung der Fortschreitung der Töne, als der Bewegung und der rhythmischen Schritte leicht unterbrochen werden könnte, wird beständig durch das Unerwartete und Fremde des Gesanges und der Modulation unter- halten. Man halte folgenden Choral in der dori- schen Tonart gegen den unter ihm stehenden näm- lichen Choral aus dem D moll:
[Abbildung]
[Spaltenumbruch]
Ton
[Abbildung]
Statt daß in der untersten Melodie keine andere Modulation als in dem Hauptton, seiner Mediante, und bey dem zweyten Saz ein halber Schluß in de- ren Dominante, der doch viel zu unkräftig in der Kirche ist, vernommen wird, wodurch die Melodie bey der ersten Wiederholung schleppend und lang- weilig wird, reizt der obere Gesang die Aufmerk- samkeit bey jeder Wiederholung durch die reiche Mo- dulation, indem der erste Saz desselben gleich von dem Hauptton nach C dur ausweicht, der zweyte nach G dur, der dritte nach A moll, der vierte nach F dur, und der lezte wieder in den Hauptton zurükkehrt.
Dieses kann hinlänglich seyn, den Werth und die Nothwendigkeit der alten Tonarten vornehmlich in dem Choralgesang zu erweisen. Wer übrigens von der Beschaffenheit und Behandlung dieser Tonarten näher unterrichtet seyn will, kann darüber die Werke des P. Mersenne, Kircher, Murschhauser, Prinz, Fux etc. und die Sing-Spiel- und Dicht- kunst des Salomon von Tyl nachschlagen.
Tonica. (Musik.)
Mit diesem Wort wird der Grundton der diatoni- schen Tonleiter angedeutet, der in jedem Saz eines Stüks der Hauptton ist, in welchem der Gesang und die Harmonie fortgehen, und den Saz schließen. Die Tonica ist daher von dem eigentlichen Haupt- ton darinn unterschieden, daß sie mit jeder Aus- weichung ihren Plaz verändert, da dieser hingegen durchs ganze Stük derselbe bleibt. (*) Doch wird sie auch in der Bedeutung des Haupttones genom- men, wenn man sagt, der erste Theil eines Stüks habe in der Dominante geschlossen.
Der
(*) S. Hauptton.
[Spaltenumbruch]
Ton
Daher ſollten die uͤbrigen alten Tonarten, in Kirchenmuſiken nicht ſo gar aus der Acht gelaſſen, ſondern wenigſtens mit den unſrigen verbunden wer- den. Da wir durch unſer erweitertes Syſtem, und durch die den Alten unbekannten Semitonien im Stande ſind, jede Tonart in zwoͤlf Toͤne zu ver- ſezen, und dem Geſange eine der Tonart gemaͤße volle harmoniſche Begleitung zu geben, ſo wuͤr- den die Kirchentoͤne dadurch noch eine vollkommnere Geſtalt gewinnen, und von der groͤßten Kraft ſeyn. Die vortreflichen Praͤludien vor den Cate- chismusgeſaͤngen des alten Bachs, und viele Kir- chenſtuͤke dieſes großen Tonkuͤnſtlers zeugen, wel- cher mannigfaltigen Behandlung und großen Aus- druks die alten Tonarten faͤhig ſeyn.
Viele Neuere, die keine andere als unſere Dur- oder Molltonart kennen, oder doch nicht fuͤr guͤltig erkennen wollen, moͤgen verſuchen, ob ſie im Stan- de ſeyn, eine einzige ſo vollkommene, ausdruksvolle und herzangreifende Choralmelodie in unſeren Ton- arten zu ſezen, als es deren eine Menge in den al- ten giebt. Unmoͤglich koͤnnen die melodiſchen Fort- ſchreitungen, Modulationen und Cadenzen, die man in Opernarien und Tanzſtuͤken zu hoͤren ge- wohnt iſt, in der Kirche von Kraft und Anſtand, und zu jedem Ausdruk der Kirche ſchiklich ſeyn. Hin- gegen gewinnt der Choralgeſang in den alten Tonar- ten durch die Mannigfaltigkeit der Modulationen, die in unſeren Tonarten fremd und fehlerhaft ſind, ein ganz anderes Anſehen, und die Aufmerkſamkeit, die bey ſo einfoͤrmigen Melodien ſowol in Anſehung der Fortſchreitung der Toͤne, als der Bewegung und der rhythmiſchen Schritte leicht unterbrochen werden koͤnnte, wird beſtaͤndig durch das Unerwartete und Fremde des Geſanges und der Modulation unter- halten. Man halte folgenden Choral in der dori- ſchen Tonart gegen den unter ihm ſtehenden naͤm- lichen Choral aus dem D moll:
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Ton
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Statt daß in der unterſten Melodie keine andere Modulation als in dem Hauptton, ſeiner Mediante, und bey dem zweyten Saz ein halber Schluß in de- ren Dominante, der doch viel zu unkraͤftig in der Kirche iſt, vernommen wird, wodurch die Melodie bey der erſten Wiederholung ſchleppend und lang- weilig wird, reizt der obere Geſang die Aufmerk- ſamkeit bey jeder Wiederholung durch die reiche Mo- dulation, indem der erſte Saz deſſelben gleich von dem Hauptton nach C dur ausweicht, der zweyte nach G dur, der dritte nach A moll, der vierte nach F dur, und der lezte wieder in den Hauptton zuruͤkkehrt.
Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn, den Werth und die Nothwendigkeit der alten Tonarten vornehmlich in dem Choralgeſang zu erweiſen. Wer uͤbrigens von der Beſchaffenheit und Behandlung dieſer Tonarten naͤher unterrichtet ſeyn will, kann daruͤber die Werke des P. Merſenne, Kircher, Murſchhauſer, Prinz, Fux ꝛc. und die Sing-Spiel- und Dicht- kunſt des Salomon von Tyl nachſchlagen.
Tonica. (Muſik.)
Mit dieſem Wort wird der Grundton der diatoni- ſchen Tonleiter angedeutet, der in jedem Saz eines Stuͤks der Hauptton iſt, in welchem der Geſang und die Harmonie fortgehen, und den Saz ſchließen. Die Tonica iſt daher von dem eigentlichen Haupt- ton darinn unterſchieden, daß ſie mit jeder Aus- weichung ihren Plaz veraͤndert, da dieſer hingegen durchs ganze Stuͤk derſelbe bleibt. (*) Doch wird ſie auch in der Bedeutung des Haupttones genom- men, wenn man ſagt, der erſte Theil eines Stuͤks habe in der Dominante geſchloſſen.
Der
(*) S. Hauptton.
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[1164[1146]/0593]
Ton
Ton
Daher ſollten die uͤbrigen alten Tonarten, in
Kirchenmuſiken nicht ſo gar aus der Acht gelaſſen,
ſondern wenigſtens mit den unſrigen verbunden wer-
den. Da wir durch unſer erweitertes Syſtem, und
durch die den Alten unbekannten Semitonien im
Stande ſind, jede Tonart in zwoͤlf Toͤne zu ver-
ſezen, und dem Geſange eine der Tonart gemaͤße
volle harmoniſche Begleitung zu geben, ſo wuͤr-
den die Kirchentoͤne dadurch noch eine vollkommnere
Geſtalt gewinnen, und von der groͤßten Kraft
ſeyn. Die vortreflichen Praͤludien vor den Cate-
chismusgeſaͤngen des alten Bachs, und viele Kir-
chenſtuͤke dieſes großen Tonkuͤnſtlers zeugen, wel-
cher mannigfaltigen Behandlung und großen Aus-
druks die alten Tonarten faͤhig ſeyn.
Viele Neuere, die keine andere als unſere Dur-
oder Molltonart kennen, oder doch nicht fuͤr guͤltig
erkennen wollen, moͤgen verſuchen, ob ſie im Stan-
de ſeyn, eine einzige ſo vollkommene, ausdruksvolle
und herzangreifende Choralmelodie in unſeren Ton-
arten zu ſezen, als es deren eine Menge in den al-
ten giebt. Unmoͤglich koͤnnen die melodiſchen Fort-
ſchreitungen, Modulationen und Cadenzen, die
man in Opernarien und Tanzſtuͤken zu hoͤren ge-
wohnt iſt, in der Kirche von Kraft und Anſtand,
und zu jedem Ausdruk der Kirche ſchiklich ſeyn. Hin-
gegen gewinnt der Choralgeſang in den alten Tonar-
ten durch die Mannigfaltigkeit der Modulationen, die
in unſeren Tonarten fremd und fehlerhaft ſind, ein
ganz anderes Anſehen, und die Aufmerkſamkeit, die
bey ſo einfoͤrmigen Melodien ſowol in Anſehung der
Fortſchreitung der Toͤne, als der Bewegung und der
rhythmiſchen Schritte leicht unterbrochen werden
koͤnnte, wird beſtaͤndig durch das Unerwartete und
Fremde des Geſanges und der Modulation unter-
halten. Man halte folgenden Choral in der dori-
ſchen Tonart gegen den unter ihm ſtehenden naͤm-
lichen Choral aus dem D moll:
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Statt daß in der unterſten Melodie keine andere
Modulation als in dem Hauptton, ſeiner Mediante,
und bey dem zweyten Saz ein halber Schluß in de-
ren Dominante, der doch viel zu unkraͤftig in der
Kirche iſt, vernommen wird, wodurch die Melodie
bey der erſten Wiederholung ſchleppend und lang-
weilig wird, reizt der obere Geſang die Aufmerk-
ſamkeit bey jeder Wiederholung durch die reiche Mo-
dulation, indem der erſte Saz deſſelben gleich von dem
Hauptton nach C dur ausweicht, der zweyte nach
G dur, der dritte nach A moll, der vierte nach F dur,
und der lezte wieder in den Hauptton zuruͤkkehrt.
Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn, den Werth und die
Nothwendigkeit der alten Tonarten vornehmlich in
dem Choralgeſang zu erweiſen. Wer uͤbrigens von
der Beſchaffenheit und Behandlung dieſer Tonarten
naͤher unterrichtet ſeyn will, kann daruͤber die
Werke des P. Merſenne, Kircher, Murſchhauſer,
Prinz, Fux ꝛc. und die Sing-Spiel- und Dicht-
kunſt des Salomon von Tyl nachſchlagen.
Tonica.
(Muſik.)
Mit dieſem Wort wird der Grundton der diatoni-
ſchen Tonleiter angedeutet, der in jedem Saz eines
Stuͤks der Hauptton iſt, in welchem der Geſang
und die Harmonie fortgehen, und den Saz ſchließen.
Die Tonica iſt daher von dem eigentlichen Haupt-
ton darinn unterſchieden, daß ſie mit jeder Aus-
weichung ihren Plaz veraͤndert, da dieſer hingegen
durchs ganze Stuͤk derſelbe bleibt. (*) Doch wird
ſie auch in der Bedeutung des Haupttones genom-
men, wenn man ſagt, der erſte Theil eines Stuͤks
habe in der Dominante geſchloſſen.
Der
(*) S.
Hauptton.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1164[1146]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/593>, abgerufen am 24.11.2024.
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