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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kür
geben erleichtert. Diesen Vortheil drükt Horaz
sehr wol aus:

-- -- ut cito dicta
Percipiant animi dociles tencantque fideles.

Man muß die Kürze der Gedanken, von der Kürze
des Ausdruks unterscheiden. Jene besteht in dem
Reichthum der Begriffe; diese kommt von einer
klugen Sparsamkeit der Wörter und der Redensar-
ten her. Als Cäsar dem Brutus, den er unter
seinen Mördern erblikt hatte, zuruffte: auch du mein
Sohn!
mußte dieser einzige Gedanken, erstaunlich
viel Vorstellungen in dem Brutus erweken. Hier
liegt die Kürze in dem Gedanken; denn wenn man
auch diesen Gedanken in mehr Worten ausdrükte,
und so weit, als möglich ist, ausdähnte; so wird er
doch immer noch sehr viel sagen. Eben diese Kürze
der Gedanken treffen wir in der Anmerkung an, die
beym Terenz jemand über einen Jüngling macht, dem
seine Vergehungen vorgehalten werden: er wird
roth; alles ist gewonnen.
(+) Der Ausdruk ist na-
türlich, und gar nicht zusammengepreßt; aber der
Gedanken enthält die halbe Sittenlehre.

Es giebt auch eine Kürze, die blos von der Wen-
dung der Gedanken herkommt. Von dieser Art ist
folgendes aus der Rede für den Milo. Würde
man auch dieses nicht erzählen, sondern vormahlen;
so würd es dennoch offenbar seyn, welcher von
beyden der Nachsteller sey, und welcher von bey-
den nichts Arges im Sinne hatte.
(++) Hier ist
das, was Cicero sagen wollte, durch eine glükliche
Wendung, wunderbar abgekürzt. Er will sagen,
daß durch die richtigste und einfachste Erzählung der
Sache, die ohne Anmerkungen oder Auslegungen
wäre, die Unschuld des einen und die Boßheit des
andern sich offenbar zeigen würden. Um kurz zu
seyn, stellt er jene einfache Erzählung als eine Mah-
lerey vor; welche die Wahrheit geschehener Sachen
durch keine falsche Auslegung verstellen kann.

Die Kürze liegt blos im Ausdruk, wenn weder
die Begriffe reich an Jnhalt, noch die Wendung
der Gedanken vortheilhaft ist, sondern blos die we-
nigsten Worte zum Ausdruk gewählt worden. Von
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Kür
dieser Art ist der Ausdruk des Xenophons von dem
Flus Thelaoba; welcher zwar nicht groß, aber
schön war.
(+++) Ein Erzähler, der die Kürze we-
niger als Xenophon liebte, würde vielleicht gesagt
haben: dieser war zwar in Ansehung seiner Größe
nicht merkwürdig; aber an Schönheit übertraf er
andre Flüsse.

Da die Kürze, es sey in Gedanken, oder im Aus-
druk, nur denn vortheilhaft wird, wenn sie mit
hinlänglicher Klarheit verbunden ist, so muß man
sich dieser dabey äusserst befleißen. Horaz sagt viel
in diesen wenigen Worten.

Paulum sepultae distat inertiae
Celata Virtus.
(++++)

Aber diese Kürze nüzet dem, der einer Auslegung
dieser Worte bedarf, nichts.

Die Kürze in Gedanken erreicht nur der, der im
Stand ist viel Wahrheiten auf einen allgemeinen
Saz, eine an Begriffen sehr reiche Vorstellung auf
einen einzigen Begriff zu bringen; wie Haller, wenn
er den gegenwärtigen Zustand des Menschen, in
Vergleichung des künftigen, einen Raupenstand
nennt. Jn beyden Fällen thun die Bilder und
bisweilen auch die Metonymien sehr großen Dienst.
Auch können viel Gedanken in einen zusammenge-
drängt werden, wenn man aus der Menge der
Vorstellungen nur eine aussucht, die natürlicher
Weise, auf die übrigen leitet; wie wenn Horaz von
den fatalen Folgen der bürgerlichen Kriege sagt:

Ferisque rurfus occupabitur solum. (*)

Dieser einzige Umstand, daß Jtalien wieder eine
Wohnung wilder Thiere werden wird, schließt tau-
send andre Vorstellungen nothwendig in sich.

Will man durch eine glükliche Wendung, mit
wenigem viel sagen, so muß man seinen Gegenstand
von der Seite vorstellen, von welcher er am schnel-
lesten übersehen werden kann. Um jemanden von
der gänzlichen Verheerung eines Landes einen recht
lebhaften Begriff zu machen, kann sehr viel gesagt
werden; aber von keiner Seite läßt sich alles ge-
schwinder übersehen, als von der, die Horaz durch
diese Worte zeiget:

Et campos ubi Troja suit.
Die
(+) Erubuit; salva res est. Terent. Adelpli.
(++) Si haec non gesta audiretis, sed picta videretis: ta-
men appareret uter esset insidiator, uter nihil cogitaret
mali. Cicero pro Milone.
(+++) outos de en megas on kal[o]s d[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt].
(++++) D. i. Es ist ein geringer Unterschied zwischen dem,
der wegen seiner Unthätigkeit im Grabe der Vergessenheit
liegt, und dem, dessen Thaten nicht mehr bekannt sind.
(*) Epod.
XVI.

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Kuͤr
geben erleichtert. Dieſen Vortheil druͤkt Horaz
ſehr wol aus:

— — ut cito dicta
Percipiant animi dociles tencantque fideles.

Man muß die Kuͤrze der Gedanken, von der Kuͤrze
des Ausdruks unterſcheiden. Jene beſteht in dem
Reichthum der Begriffe; dieſe kommt von einer
klugen Sparſamkeit der Woͤrter und der Redensar-
ten her. Als Caͤſar dem Brutus, den er unter
ſeinen Moͤrdern erblikt hatte, zuruffte: auch du mein
Sohn!
mußte dieſer einzige Gedanken, erſtaunlich
viel Vorſtellungen in dem Brutus erweken. Hier
liegt die Kuͤrze in dem Gedanken; denn wenn man
auch dieſen Gedanken in mehr Worten ausdruͤkte,
und ſo weit, als moͤglich iſt, ausdaͤhnte; ſo wird er
doch immer noch ſehr viel ſagen. Eben dieſe Kuͤrze
der Gedanken treffen wir in der Anmerkung an, die
beym Terenz jemand uͤber einen Juͤngling macht, dem
ſeine Vergehungen vorgehalten werden: er wird
roth; alles iſt gewonnen.
(†) Der Ausdruk iſt na-
tuͤrlich, und gar nicht zuſammengepreßt; aber der
Gedanken enthaͤlt die halbe Sittenlehre.

Es giebt auch eine Kuͤrze, die blos von der Wen-
dung der Gedanken herkommt. Von dieſer Art iſt
folgendes aus der Rede fuͤr den Milo. Wuͤrde
man auch dieſes nicht erzaͤhlen, ſondern vormahlen;
ſo wuͤrd es dennoch offenbar ſeyn, welcher von
beyden der Nachſteller ſey, und welcher von bey-
den nichts Arges im Sinne hatte.
(††) Hier iſt
das, was Cicero ſagen wollte, durch eine gluͤkliche
Wendung, wunderbar abgekuͤrzt. Er will ſagen,
daß durch die richtigſte und einfachſte Erzaͤhlung der
Sache, die ohne Anmerkungen oder Auslegungen
waͤre, die Unſchuld des einen und die Boßheit des
andern ſich offenbar zeigen wuͤrden. Um kurz zu
ſeyn, ſtellt er jene einfache Erzaͤhlung als eine Mah-
lerey vor; welche die Wahrheit geſchehener Sachen
durch keine falſche Auslegung verſtellen kann.

Die Kuͤrze liegt blos im Ausdruk, wenn weder
die Begriffe reich an Jnhalt, noch die Wendung
der Gedanken vortheilhaft iſt, ſondern blos die we-
nigſten Worte zum Ausdruk gewaͤhlt worden. Von
[Spaltenumbruch]

Kuͤr
dieſer Art iſt der Ausdruk des Xenophons von dem
Flus Thelaoba; welcher zwar nicht groß, aber
ſchoͤn war.
(†††) Ein Erzaͤhler, der die Kuͤrze we-
niger als Xenophon liebte, wuͤrde vielleicht geſagt
haben: dieſer war zwar in Anſehung ſeiner Groͤße
nicht merkwuͤrdig; aber an Schoͤnheit uͤbertraf er
andre Fluͤſſe.

Da die Kuͤrze, es ſey in Gedanken, oder im Aus-
druk, nur denn vortheilhaft wird, wenn ſie mit
hinlaͤnglicher Klarheit verbunden iſt, ſo muß man
ſich dieſer dabey aͤuſſerſt befleißen. Horaz ſagt viel
in dieſen wenigen Worten.

Paulum ſepultæ diſtat inertiæ
Celata Virtus.
(††††)

Aber dieſe Kuͤrze nuͤzet dem, der einer Auslegung
dieſer Worte bedarf, nichts.

Die Kuͤrze in Gedanken erreicht nur der, der im
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Saz, eine an Begriffen ſehr reiche Vorſtellung auf
einen einzigen Begriff zu bringen; wie Haller, wenn
er den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Menſchen, in
Vergleichung des kuͤnftigen, einen Raupenſtand
nennt. Jn beyden Faͤllen thun die Bilder und
bisweilen auch die Metonymien ſehr großen Dienſt.
Auch koͤnnen viel Gedanken in einen zuſammenge-
draͤngt werden, wenn man aus der Menge der
Vorſtellungen nur eine ausſucht, die natuͤrlicher
Weiſe, auf die uͤbrigen leitet; wie wenn Horaz von
den fatalen Folgen der buͤrgerlichen Kriege ſagt:

Ferisque rurfus occupabitur ſolum. (*)

Dieſer einzige Umſtand, daß Jtalien wieder eine
Wohnung wilder Thiere werden wird, ſchließt tau-
ſend andre Vorſtellungen nothwendig in ſich.

Will man durch eine gluͤkliche Wendung, mit
wenigem viel ſagen, ſo muß man ſeinen Gegenſtand
von der Seite vorſtellen, von welcher er am ſchnel-
leſten uͤberſehen werden kann. Um jemanden von
der gaͤnzlichen Verheerung eines Landes einen recht
lebhaften Begriff zu machen, kann ſehr viel geſagt
werden; aber von keiner Seite laͤßt ſich alles ge-
ſchwinder uͤberſehen, als von der, die Horaz durch
dieſe Worte zeiget:

Et campos ubi Troja ſuit.
Die
(†) Erubuit; ſalva res eſt. Terent. Adelpli.
(††) Si hæc non geſta audiretis, ſed picta videretis: ta-
men appareret uter eſſet inſidiator, uter nihil cogitaret
mali. Cicero pro Milone.
(†††) ὀυτος δε ἠν μεγας ὀν καλ[ο]ς δ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt].
(††††) D. i. Es iſt ein geringer Unterſchied zwiſchen dem,
der wegen ſeiner Unthaͤtigkeit im Grabe der Vergeſſenheit
liegt, und dem, deſſen Thaten nicht mehr bekannt ſind.
(*) Epod.
XVI.
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[642/0077] Kuͤr Kuͤr geben erleichtert. Dieſen Vortheil druͤkt Horaz ſehr wol aus: — — ut cito dicta Percipiant animi dociles tencantque fideles. Man muß die Kuͤrze der Gedanken, von der Kuͤrze des Ausdruks unterſcheiden. Jene beſteht in dem Reichthum der Begriffe; dieſe kommt von einer klugen Sparſamkeit der Woͤrter und der Redensar- ten her. Als Caͤſar dem Brutus, den er unter ſeinen Moͤrdern erblikt hatte, zuruffte: auch du mein Sohn! mußte dieſer einzige Gedanken, erſtaunlich viel Vorſtellungen in dem Brutus erweken. Hier liegt die Kuͤrze in dem Gedanken; denn wenn man auch dieſen Gedanken in mehr Worten ausdruͤkte, und ſo weit, als moͤglich iſt, ausdaͤhnte; ſo wird er doch immer noch ſehr viel ſagen. Eben dieſe Kuͤrze der Gedanken treffen wir in der Anmerkung an, die beym Terenz jemand uͤber einen Juͤngling macht, dem ſeine Vergehungen vorgehalten werden: er wird roth; alles iſt gewonnen. (†) Der Ausdruk iſt na- tuͤrlich, und gar nicht zuſammengepreßt; aber der Gedanken enthaͤlt die halbe Sittenlehre. Es giebt auch eine Kuͤrze, die blos von der Wen- dung der Gedanken herkommt. Von dieſer Art iſt folgendes aus der Rede fuͤr den Milo. Wuͤrde man auch dieſes nicht erzaͤhlen, ſondern vormahlen; ſo wuͤrd es dennoch offenbar ſeyn, welcher von beyden der Nachſteller ſey, und welcher von bey- den nichts Arges im Sinne hatte. (††) Hier iſt das, was Cicero ſagen wollte, durch eine gluͤkliche Wendung, wunderbar abgekuͤrzt. Er will ſagen, daß durch die richtigſte und einfachſte Erzaͤhlung der Sache, die ohne Anmerkungen oder Auslegungen waͤre, die Unſchuld des einen und die Boßheit des andern ſich offenbar zeigen wuͤrden. Um kurz zu ſeyn, ſtellt er jene einfache Erzaͤhlung als eine Mah- lerey vor; welche die Wahrheit geſchehener Sachen durch keine falſche Auslegung verſtellen kann. Die Kuͤrze liegt blos im Ausdruk, wenn weder die Begriffe reich an Jnhalt, noch die Wendung der Gedanken vortheilhaft iſt, ſondern blos die we- nigſten Worte zum Ausdruk gewaͤhlt worden. Von dieſer Art iſt der Ausdruk des Xenophons von dem Flus Thelaoba; welcher zwar nicht groß, aber ſchoͤn war. (†††) Ein Erzaͤhler, der die Kuͤrze we- niger als Xenophon liebte, wuͤrde vielleicht geſagt haben: dieſer war zwar in Anſehung ſeiner Groͤße nicht merkwuͤrdig; aber an Schoͤnheit uͤbertraf er andre Fluͤſſe. Da die Kuͤrze, es ſey in Gedanken, oder im Aus- druk, nur denn vortheilhaft wird, wenn ſie mit hinlaͤnglicher Klarheit verbunden iſt, ſo muß man ſich dieſer dabey aͤuſſerſt befleißen. Horaz ſagt viel in dieſen wenigen Worten. Paulum ſepultæ diſtat inertiæ Celata Virtus. (††††) Aber dieſe Kuͤrze nuͤzet dem, der einer Auslegung dieſer Worte bedarf, nichts. Die Kuͤrze in Gedanken erreicht nur der, der im Stand iſt viel Wahrheiten auf einen allgemeinen Saz, eine an Begriffen ſehr reiche Vorſtellung auf einen einzigen Begriff zu bringen; wie Haller, wenn er den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Menſchen, in Vergleichung des kuͤnftigen, einen Raupenſtand nennt. Jn beyden Faͤllen thun die Bilder und bisweilen auch die Metonymien ſehr großen Dienſt. Auch koͤnnen viel Gedanken in einen zuſammenge- draͤngt werden, wenn man aus der Menge der Vorſtellungen nur eine ausſucht, die natuͤrlicher Weiſe, auf die uͤbrigen leitet; wie wenn Horaz von den fatalen Folgen der buͤrgerlichen Kriege ſagt: Ferisque rurfus occupabitur ſolum. (*) Dieſer einzige Umſtand, daß Jtalien wieder eine Wohnung wilder Thiere werden wird, ſchließt tau- ſend andre Vorſtellungen nothwendig in ſich. Will man durch eine gluͤkliche Wendung, mit wenigem viel ſagen, ſo muß man ſeinen Gegenſtand von der Seite vorſtellen, von welcher er am ſchnel- leſten uͤberſehen werden kann. Um jemanden von der gaͤnzlichen Verheerung eines Landes einen recht lebhaften Begriff zu machen, kann ſehr viel geſagt werden; aber von keiner Seite laͤßt ſich alles ge- ſchwinder uͤberſehen, als von der, die Horaz durch dieſe Worte zeiget: Et campos ubi Troja ſuit. Die (†) Erubuit; ſalva res eſt. Terent. Adelpli. (††) Si hæc non geſta audiretis, ſed picta videretis: ta- men appareret uter eſſet inſidiator, uter nihil cogitaret mali. Cicero pro Milone. (†††) ὀυτος δε ἠν μεγας ὀν καλος δ_. (††††) D. i. Es iſt ein geringer Unterſchied zwiſchen dem, der wegen ſeiner Unthaͤtigkeit im Grabe der Vergeſſenheit liegt, und dem, deſſen Thaten nicht mehr bekannt ſind. (*) Epod. XVI.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/77>, abgerufen am 28.11.2024.