Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

früh mehrere Bauersleute von jenseits der Oder nach Stettin. Als sie nun den langen Damm durch die Oderwiesen passirten, hörten sie auf einmal unten aus der Wiese ein Kind rufen: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! Die Bauern stiegen ab, und fanden im Grase ein ganz nacktes, so eben gebornes Kind liegen. Sie erbarmten sich des armen Würmchens, bei dem Niemand war, und legten es auf den Wagen. Sie beriethen dann unter einander, was sie mit dem Kinde machen wollten, und sie kamen dahin überein, daß sie es zuerst wollten taufen lassen. Sie gingen also damit zu einem Prediger in Stettin, und baten diesen, daß er die Taufe verrichten möge, wozu er auch bereit war. Als er aber die Taufhandlung eben begonnen hatte, begab sich auf einmal ein großes Wunder, denn das Kind verwandelte sich plötzlich in ein Stück blutigen Fleisches. Darüber entsetzten sich Alle, und der Prediger befahl den Bauern, daß sie das Fleisch an die Stelle tragen sollten, wo sie das Kind gefunden hatten. Das thaten sie; aber kaum hatten sie die Wiese im Rücken, als sie das Kind wieder erbärmlich schreien hörten, wie vorhin: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! und wie sie nun zurückkehrten, fanden sie wieder das Kind, das sie des Morgens früh gefunden hatten. Sie erbarmten sich deshalb noch einmal des hülflosen Würmchens, und brachten es zum zweiten Male zum Prediger, daß er es taufen möge. Allein so wie der Prediger eben wieder die Taufhandlung begonnen hatte, verwandelte das Kind sich in einen Zander (Zannat, Fisch). Der Pfarrer befahl ihnen daher zum zweiten Male, daß sie es zurücktragen sollten. Die Bauern thaten das; aber es begab sich wieder ganz dasselbe, wie das vorige Mal, und als der Prediger das Kind jetzt wieder taufen wollte, verwandelte es sich in ein Brod. Da sagte der Prediger: So wollen wir es denn aufschneiden,

früh mehrere Bauersleute von jenseits der Oder nach Stettin. Als sie nun den langen Damm durch die Oderwiesen passirten, hörten sie auf einmal unten aus der Wiese ein Kind rufen: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! Die Bauern stiegen ab, und fanden im Grase ein ganz nacktes, so eben gebornes Kind liegen. Sie erbarmten sich des armen Würmchens, bei dem Niemand war, und legten es auf den Wagen. Sie beriethen dann unter einander, was sie mit dem Kinde machen wollten, und sie kamen dahin überein, daß sie es zuerst wollten taufen lassen. Sie gingen also damit zu einem Prediger in Stettin, und baten diesen, daß er die Taufe verrichten möge, wozu er auch bereit war. Als er aber die Taufhandlung eben begonnen hatte, begab sich auf einmal ein großes Wunder, denn das Kind verwandelte sich plötzlich in ein Stück blutigen Fleisches. Darüber entsetzten sich Alle, und der Prediger befahl den Bauern, daß sie das Fleisch an die Stelle tragen sollten, wo sie das Kind gefunden hatten. Das thaten sie; aber kaum hatten sie die Wiese im Rücken, als sie das Kind wieder erbärmlich schreien hörten, wie vorhin: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! und wie sie nun zurückkehrten, fanden sie wieder das Kind, das sie des Morgens früh gefunden hatten. Sie erbarmten sich deshalb noch einmal des hülflosen Würmchens, und brachten es zum zweiten Male zum Prediger, daß er es taufen möge. Allein so wie der Prediger eben wieder die Taufhandlung begonnen hatte, verwandelte das Kind sich in einen Zander (Zannat, Fisch). Der Pfarrer befahl ihnen daher zum zweiten Male, daß sie es zurücktragen sollten. Die Bauern thaten das; aber es begab sich wieder ganz dasselbe, wie das vorige Mal, und als der Prediger das Kind jetzt wieder taufen wollte, verwandelte es sich in ein Brod. Da sagte der Prediger: So wollen wir es denn aufschneiden,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0342" n="310"/>
früh mehrere Bauersleute von jenseits der Oder nach Stettin. Als sie nun den langen Damm durch die Oderwiesen passirten, hörten sie auf einmal unten aus der Wiese ein Kind rufen: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! Die Bauern stiegen ab, und fanden im Grase ein ganz nacktes, so eben gebornes Kind liegen. Sie erbarmten sich des armen Würmchens, bei dem Niemand war, und legten es auf den Wagen. Sie beriethen dann unter einander, was sie mit dem Kinde machen wollten, und sie kamen dahin überein, daß sie es zuerst wollten taufen lassen. Sie gingen also damit zu einem Prediger in Stettin, und baten diesen, daß er die Taufe verrichten möge, wozu er auch bereit war. Als er aber die Taufhandlung eben begonnen hatte, begab sich auf einmal ein großes Wunder, denn das Kind verwandelte sich plötzlich in ein Stück blutigen Fleisches. Darüber entsetzten sich Alle, und der Prediger befahl den Bauern, daß sie das Fleisch an die Stelle tragen sollten, wo sie das Kind gefunden hatten. Das thaten sie; aber kaum hatten sie die Wiese im Rücken, als sie das Kind wieder erbärmlich schreien hörten, wie vorhin: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! und wie sie nun zurückkehrten, fanden sie wieder das Kind, das sie des Morgens früh gefunden hatten. Sie erbarmten sich deshalb noch einmal des hülflosen Würmchens, und brachten es zum zweiten Male zum Prediger, daß er es taufen möge. Allein so wie der Prediger eben wieder die Taufhandlung begonnen hatte, verwandelte das Kind sich in einen Zander (Zannat, Fisch). Der Pfarrer befahl ihnen daher zum zweiten Male, daß sie es zurücktragen sollten. Die Bauern thaten das; aber es begab sich wieder ganz dasselbe, wie das vorige Mal, und als der Prediger das Kind jetzt wieder taufen wollte, verwandelte es sich in ein Brod. Da sagte der Prediger: So wollen wir es denn aufschneiden,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0342] früh mehrere Bauersleute von jenseits der Oder nach Stettin. Als sie nun den langen Damm durch die Oderwiesen passirten, hörten sie auf einmal unten aus der Wiese ein Kind rufen: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! Die Bauern stiegen ab, und fanden im Grase ein ganz nacktes, so eben gebornes Kind liegen. Sie erbarmten sich des armen Würmchens, bei dem Niemand war, und legten es auf den Wagen. Sie beriethen dann unter einander, was sie mit dem Kinde machen wollten, und sie kamen dahin überein, daß sie es zuerst wollten taufen lassen. Sie gingen also damit zu einem Prediger in Stettin, und baten diesen, daß er die Taufe verrichten möge, wozu er auch bereit war. Als er aber die Taufhandlung eben begonnen hatte, begab sich auf einmal ein großes Wunder, denn das Kind verwandelte sich plötzlich in ein Stück blutigen Fleisches. Darüber entsetzten sich Alle, und der Prediger befahl den Bauern, daß sie das Fleisch an die Stelle tragen sollten, wo sie das Kind gefunden hatten. Das thaten sie; aber kaum hatten sie die Wiese im Rücken, als sie das Kind wieder erbärmlich schreien hörten, wie vorhin: Nähmt mi mit, nähmt mi mit! und wie sie nun zurückkehrten, fanden sie wieder das Kind, das sie des Morgens früh gefunden hatten. Sie erbarmten sich deshalb noch einmal des hülflosen Würmchens, und brachten es zum zweiten Male zum Prediger, daß er es taufen möge. Allein so wie der Prediger eben wieder die Taufhandlung begonnen hatte, verwandelte das Kind sich in einen Zander (Zannat, Fisch). Der Pfarrer befahl ihnen daher zum zweiten Male, daß sie es zurücktragen sollten. Die Bauern thaten das; aber es begab sich wieder ganz dasselbe, wie das vorige Mal, und als der Prediger das Kind jetzt wieder taufen wollte, verwandelte es sich in ein Brod. Da sagte der Prediger: So wollen wir es denn aufschneiden,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • als Grundlage dienen die Editionsrichtlinien von Wikisource.
  • Überschriebene „e“ über den Vokalen „a“, „o“ und „u“ werden als moderne Umlaute transkribiert.
  • Gesperrter Text wird kursiv
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Einzüge werden nicht übernommen
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Fußnoten der Vorlage sind fortlaufend nummeriert und folgen jeweils am Schluß des Textes.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/temme_volkssagen_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/temme_volkssagen_1840/342
Zitationshilfe: Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/temme_volkssagen_1840/342>, abgerufen am 22.11.2024.