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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
Sinnen empfangen hat? Mag es doch so seyn, so ist
doch dieser Aktus, oder diese Tendenz der Kraft, den
wir das Vergnügen nennen, auch eine besondere Modi-
fikation der Seele; eine Wirkung, zwar von andern
vorhergegangenen Empfindungen und Vorstellungen,
aber doch immer eine besondere Wirkung, welche für
sich allein einen fühlbaren Zustand ausmachet, und den
wir von andern unterscheiden und gewahrnehmen. Der
Anblick der Speise wirket bey dem Hungrigen den Ap-
petit. Die Begierde ist aber nicht mit dem Anblick der
Speise einerley.

So darf hier im Anfang die Sache nur angesehen
werden. Es ist die Frage, ob dieser besondere Zu-
stand nicht eine Folge in der Seele hinterlasse, wodurch
sie mehr aufgeleget wird, in eben denselbigen wiederum
versetzet zu werden, als sie es sonsten nicht gewesen seyn
würde?

Zweytens scheint mir die obige Erklärung doch in
vielen Fällen zu weit hergeholet und unzulänglich zu
seyn.

Wir erinnern uns oft, aus einer Sache Vergnügen
geschöpft zu haben, oder verdrießlich über sie gewesen zu
seyn, ohne es jetzo mehr zu wissen, was es eigentlich ge-
wesen ist, das uns der Zeit afficiret habe. Wir sind
jetzo nicht mehr in der vorigen Gemüthsbewegung, aber
an gewissen äußern Handlungen des Körpers, welche die
Ausbrüche. des innern Zustandes waren, und die in un-
serm Gedächtniß helle genug mit der Jdee der Sache
wieder hervorkommen, wissen wir es nichts destoweniger
gewiß, daß so ein Zustand in dem Gemüth zu der Zeit
vorhanden gewesen sey. Die Wiedervorstellung des vo-
rigen Zustandes enthält alsdenn so viel von der ehema-
ligen Empfindung in sich, wie die Einbildung von dem
Geschmack einer Birne von ihrer Empfindung in sich
hat.

Man
E 3

der Vorſtellungen.
Sinnen empfangen hat? Mag es doch ſo ſeyn, ſo iſt
doch dieſer Aktus, oder dieſe Tendenz der Kraft, den
wir das Vergnuͤgen nennen, auch eine beſondere Modi-
fikation der Seele; eine Wirkung, zwar von andern
vorhergegangenen Empfindungen und Vorſtellungen,
aber doch immer eine beſondere Wirkung, welche fuͤr
ſich allein einen fuͤhlbaren Zuſtand ausmachet, und den
wir von andern unterſcheiden und gewahrnehmen. Der
Anblick der Speiſe wirket bey dem Hungrigen den Ap-
petit. Die Begierde iſt aber nicht mit dem Anblick der
Speiſe einerley.

So darf hier im Anfang die Sache nur angeſehen
werden. Es iſt die Frage, ob dieſer beſondere Zu-
ſtand nicht eine Folge in der Seele hinterlaſſe, wodurch
ſie mehr aufgeleget wird, in eben denſelbigen wiederum
verſetzet zu werden, als ſie es ſonſten nicht geweſen ſeyn
wuͤrde?

Zweytens ſcheint mir die obige Erklaͤrung doch in
vielen Faͤllen zu weit hergeholet und unzulaͤnglich zu
ſeyn.

Wir erinnern uns oft, aus einer Sache Vergnuͤgen
geſchoͤpft zu haben, oder verdrießlich uͤber ſie geweſen zu
ſeyn, ohne es jetzo mehr zu wiſſen, was es eigentlich ge-
weſen iſt, das uns der Zeit afficiret habe. Wir ſind
jetzo nicht mehr in der vorigen Gemuͤthsbewegung, aber
an gewiſſen aͤußern Handlungen des Koͤrpers, welche die
Ausbruͤche. des innern Zuſtandes waren, und die in un-
ſerm Gedaͤchtniß helle genug mit der Jdee der Sache
wieder hervorkommen, wiſſen wir es nichts deſtoweniger
gewiß, daß ſo ein Zuſtand in dem Gemuͤth zu der Zeit
vorhanden geweſen ſey. Die Wiedervorſtellung des vo-
rigen Zuſtandes enthaͤlt alsdenn ſo viel von der ehema-
ligen Empfindung in ſich, wie die Einbildung von dem
Geſchmack einer Birne von ihrer Empfindung in ſich
hat.

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[69/0129] der Vorſtellungen. Sinnen empfangen hat? Mag es doch ſo ſeyn, ſo iſt doch dieſer Aktus, oder dieſe Tendenz der Kraft, den wir das Vergnuͤgen nennen, auch eine beſondere Modi- fikation der Seele; eine Wirkung, zwar von andern vorhergegangenen Empfindungen und Vorſtellungen, aber doch immer eine beſondere Wirkung, welche fuͤr ſich allein einen fuͤhlbaren Zuſtand ausmachet, und den wir von andern unterſcheiden und gewahrnehmen. Der Anblick der Speiſe wirket bey dem Hungrigen den Ap- petit. Die Begierde iſt aber nicht mit dem Anblick der Speiſe einerley. So darf hier im Anfang die Sache nur angeſehen werden. Es iſt die Frage, ob dieſer beſondere Zu- ſtand nicht eine Folge in der Seele hinterlaſſe, wodurch ſie mehr aufgeleget wird, in eben denſelbigen wiederum verſetzet zu werden, als ſie es ſonſten nicht geweſen ſeyn wuͤrde? Zweytens ſcheint mir die obige Erklaͤrung doch in vielen Faͤllen zu weit hergeholet und unzulaͤnglich zu ſeyn. Wir erinnern uns oft, aus einer Sache Vergnuͤgen geſchoͤpft zu haben, oder verdrießlich uͤber ſie geweſen zu ſeyn, ohne es jetzo mehr zu wiſſen, was es eigentlich ge- weſen iſt, das uns der Zeit afficiret habe. Wir ſind jetzo nicht mehr in der vorigen Gemuͤthsbewegung, aber an gewiſſen aͤußern Handlungen des Koͤrpers, welche die Ausbruͤche. des innern Zuſtandes waren, und die in un- ſerm Gedaͤchtniß helle genug mit der Jdee der Sache wieder hervorkommen, wiſſen wir es nichts deſtoweniger gewiß, daß ſo ein Zuſtand in dem Gemuͤth zu der Zeit vorhanden geweſen ſey. Die Wiedervorſtellung des vo- rigen Zuſtandes enthaͤlt alsdenn ſo viel von der ehema- ligen Empfindung in ſich, wie die Einbildung von dem Geſchmack einer Birne von ihrer Empfindung in ſich hat. Man E 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/129>, abgerufen am 22.12.2024.