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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
angemerkt, daß sie noch eine andere zeichnende Eigen-
schaft an sich haben. Nemlich sie verweisen uns nicht
auf sich selbst, wenn sie gegenwärtig in der Seele sind,
sie verweisen uns auf andere Gegenstände und Be-
schaffenheiten, davon sie die Zeichen in uns sind. Wir
sehen in den Vorstellungen ihre Objekte, in den Jdeen
die Jdeate, in dem Bilde von dem Monde den Mond,
und in der Vorstellung von einer ehemaligen Hofnung
den derzeitigen und jetzo abwesenden Zustand des Ge-
müths. Jenes macht ihre bildliche Natur aus. Dieß
möchte ich als ihre zeichnende Natur ansehen, wenn die-
se beiden unterschieden werden sollten.

Darinn sind die Vorstellungen aus dem innern
Sinn von den Vorstellungen des äußern Sinns unter-
schieden, daß jene uns auf unsere eigenen innern Ver-
änderungen hinweisen, aus welchen sie zurückgeblieben
sind; ein großer Theil von diesen |hingegen, auf die
äußern Ursachen der Empfindungen, auf Gegenstän-
de, die außer uns sind, auf gesehene, gefühlte und
überhaupt auch empfundene körperliche Gegenstände.

Dieser Unterschied muß seinen Grund haben, und
hat ihn in dem Gang, den die Reflexion nimmt, wenn
sie den Gedanken bildet; die Vorstellung sey eine Vor-
stellung von Etwas anders, das sie selbst nicht ist. Mit
der Wiedervorstellung einer vergangenen Affektion ist
das Urtheil verbunden: So war meine vorige Empfin-
dung; so war mir der Zeit zu Muth. Der Einbildung
von dem Monde, und von jedem äußern Körper hinge-
gen klebet ein andrer Gedanke an. Wir sehen diese Vor-
stellungen nicht für Vorstellungen von dem ehemaligen
Anschauen oder von unserer Empfindung an, son-
dern für eine Vorstellung, die uns ein angeschauetes
Ding darstellet. Diese Urtheile sind schon mit den Em-
pfindungen verbunden, und haben sich aus diesen in die
Reproduktion hineingezogen. Sie selbst sind Wirkun-

gen

I. Verſuch. Ueber die Natur
angemerkt, daß ſie noch eine andere zeichnende Eigen-
ſchaft an ſich haben. Nemlich ſie verweiſen uns nicht
auf ſich ſelbſt, wenn ſie gegenwaͤrtig in der Seele ſind,
ſie verweiſen uns auf andere Gegenſtaͤnde und Be-
ſchaffenheiten, davon ſie die Zeichen in uns ſind. Wir
ſehen in den Vorſtellungen ihre Objekte, in den Jdeen
die Jdeate, in dem Bilde von dem Monde den Mond,
und in der Vorſtellung von einer ehemaligen Hofnung
den derzeitigen und jetzo abweſenden Zuſtand des Ge-
muͤths. Jenes macht ihre bildliche Natur aus. Dieß
moͤchte ich als ihre zeichnende Natur anſehen, wenn die-
ſe beiden unterſchieden werden ſollten.

Darinn ſind die Vorſtellungen aus dem innern
Sinn von den Vorſtellungen des aͤußern Sinns unter-
ſchieden, daß jene uns auf unſere eigenen innern Ver-
aͤnderungen hinweiſen, aus welchen ſie zuruͤckgeblieben
ſind; ein großer Theil von dieſen |hingegen, auf die
aͤußern Urſachen der Empfindungen, auf Gegenſtaͤn-
de, die außer uns ſind, auf geſehene, gefuͤhlte und
uͤberhaupt auch empfundene koͤrperliche Gegenſtaͤnde.

Dieſer Unterſchied muß ſeinen Grund haben, und
hat ihn in dem Gang, den die Reflexion nimmt, wenn
ſie den Gedanken bildet; die Vorſtellung ſey eine Vor-
ſtellung von Etwas anders, das ſie ſelbſt nicht iſt. Mit
der Wiedervorſtellung einer vergangenen Affektion iſt
das Urtheil verbunden: So war meine vorige Empfin-
dung; ſo war mir der Zeit zu Muth. Der Einbildung
von dem Monde, und von jedem aͤußern Koͤrper hinge-
gen klebet ein andrer Gedanke an. Wir ſehen dieſe Vor-
ſtellungen nicht fuͤr Vorſtellungen von dem ehemaligen
Anſchauen oder von unſerer Empfindung an, ſon-
dern fuͤr eine Vorſtellung, die uns ein angeſchauetes
Ding darſtellet. Dieſe Urtheile ſind ſchon mit den Em-
pfindungen verbunden, und haben ſich aus dieſen in die
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[76/0136] I. Verſuch. Ueber die Natur angemerkt, daß ſie noch eine andere zeichnende Eigen- ſchaft an ſich haben. Nemlich ſie verweiſen uns nicht auf ſich ſelbſt, wenn ſie gegenwaͤrtig in der Seele ſind, ſie verweiſen uns auf andere Gegenſtaͤnde und Be- ſchaffenheiten, davon ſie die Zeichen in uns ſind. Wir ſehen in den Vorſtellungen ihre Objekte, in den Jdeen die Jdeate, in dem Bilde von dem Monde den Mond, und in der Vorſtellung von einer ehemaligen Hofnung den derzeitigen und jetzo abweſenden Zuſtand des Ge- muͤths. Jenes macht ihre bildliche Natur aus. Dieß moͤchte ich als ihre zeichnende Natur anſehen, wenn die- ſe beiden unterſchieden werden ſollten. Darinn ſind die Vorſtellungen aus dem innern Sinn von den Vorſtellungen des aͤußern Sinns unter- ſchieden, daß jene uns auf unſere eigenen innern Ver- aͤnderungen hinweiſen, aus welchen ſie zuruͤckgeblieben ſind; ein großer Theil von dieſen |hingegen, auf die aͤußern Urſachen der Empfindungen, auf Gegenſtaͤn- de, die außer uns ſind, auf geſehene, gefuͤhlte und uͤberhaupt auch empfundene koͤrperliche Gegenſtaͤnde. Dieſer Unterſchied muß ſeinen Grund haben, und hat ihn in dem Gang, den die Reflexion nimmt, wenn ſie den Gedanken bildet; die Vorſtellung ſey eine Vor- ſtellung von Etwas anders, das ſie ſelbſt nicht iſt. Mit der Wiedervorſtellung einer vergangenen Affektion iſt das Urtheil verbunden: So war meine vorige Empfin- dung; ſo war mir der Zeit zu Muth. Der Einbildung von dem Monde, und von jedem aͤußern Koͤrper hinge- gen klebet ein andrer Gedanke an. Wir ſehen dieſe Vor- ſtellungen nicht fuͤr Vorſtellungen von dem ehemaligen Anſchauen oder von unſerer Empfindung an, ſon- dern fuͤr eine Vorſtellung, die uns ein angeſchauetes Ding darſtellet. Dieſe Urtheile ſind ſchon mit den Em- pfindungen verbunden, und haben ſich aus dieſen in die Reproduktion hineingezogen. Sie ſelbſt ſind Wirkun- gen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/136>, abgerufen am 17.05.2024.