Die Jdee ist, wenn dieß Wort noch in keiner ein- geschränkten Bedeutung genommen wird, eine Vor- stellung mit Bewußtseyn, ein Bild, das von an- dern Bildern unterschieden wird. Jn einer engern Be- deutung ist es ein von uns zu einem Zeichen eines Ge- genstandes gemachtes Bild. Die Jdeen können dun- kel und verwirrt seyn, nicht weil es an der dazu nöthi- gen Stärke oder Deutlichkeit des Abdrucks in der Vor- stellung fehlet, sondern weil es an der Aufmerksamkeit fehlet, welche erfordert wird, wenn die sich ausnehmen- de und unterscheidbare Züge in der Vorstellung bemerket werden sollen. Die Vorstellung kann nemlich eine an sich sehr leserliche Schrift in uns seyn, und das Auge kann fehlen, das solche scharf und genau genug ansieht. Jn dem Gemählde, worinn der Geschmacklose nichts, als bunte Striche gewahr wird, erblickt das Auge des Kenners tausend feine Züge, Nuancen, Aehnlichkeiten, die dem erstern entwischen, obgleich sein Auge eben so gut die Lichtstrahlen fasset, als das vielleicht blödere Ge- sicht des letztern. Ein Jäger kann in den leichtesten Spuren die Thierart bemerken, die solche hinterlassen hat; der wilde Amerikaner sieht es den Fußtapfen der Menschen im Schnee und auf der Erde an, zu welcher Nation sie gehören, indem die Aufmerksamkeit auf die kleinsten Züge verwendet wird, die einem andern unbe- merkt bleiben, dessen Beobachtungsgeist auf sie nicht geführet wird. Es ist bekannt, daß der Beobachter der Natur, der sich der Vergrößerungsgläser bedient, ge- wisse Theile und Beschaffenheiten an den Objekten, wenn sie vorher mit dem Glas entdecket sind, nachher auch mit bloßen Augen gewahrnehme, ohne solche vor dem Gebrauch des Glases gesehen zu haben.
Diese und ähnliche Erfahrungen lassen sich weder aus der Verschiedenheit des sinnlichen Eindrucks, inso- ferne dieser in den äußern Objekten außer dem Gehirne
seine
I. Verſuch. Ueber die Natur
Die Jdee iſt, wenn dieß Wort noch in keiner ein- geſchraͤnkten Bedeutung genommen wird, eine Vor- ſtellung mit Bewußtſeyn, ein Bild, das von an- dern Bildern unterſchieden wird. Jn einer engern Be- deutung iſt es ein von uns zu einem Zeichen eines Ge- genſtandes gemachtes Bild. Die Jdeen koͤnnen dun- kel und verwirrt ſeyn, nicht weil es an der dazu noͤthi- gen Staͤrke oder Deutlichkeit des Abdrucks in der Vor- ſtellung fehlet, ſondern weil es an der Aufmerkſamkeit fehlet, welche erfordert wird, wenn die ſich ausnehmen- de und unterſcheidbare Zuͤge in der Vorſtellung bemerket werden ſollen. Die Vorſtellung kann nemlich eine an ſich ſehr leſerliche Schrift in uns ſeyn, und das Auge kann fehlen, das ſolche ſcharf und genau genug anſieht. Jn dem Gemaͤhlde, worinn der Geſchmackloſe nichts, als bunte Striche gewahr wird, erblickt das Auge des Kenners tauſend feine Zuͤge, Nuancen, Aehnlichkeiten, die dem erſtern entwiſchen, obgleich ſein Auge eben ſo gut die Lichtſtrahlen faſſet, als das vielleicht bloͤdere Ge- ſicht des letztern. Ein Jaͤger kann in den leichteſten Spuren die Thierart bemerken, die ſolche hinterlaſſen hat; der wilde Amerikaner ſieht es den Fußtapfen der Menſchen im Schnee und auf der Erde an, zu welcher Nation ſie gehoͤren, indem die Aufmerkſamkeit auf die kleinſten Zuͤge verwendet wird, die einem andern unbe- merkt bleiben, deſſen Beobachtungsgeiſt auf ſie nicht gefuͤhret wird. Es iſt bekannt, daß der Beobachter der Natur, der ſich der Vergroͤßerungsglaͤſer bedient, ge- wiſſe Theile und Beſchaffenheiten an den Objekten, wenn ſie vorher mit dem Glas entdecket ſind, nachher auch mit bloßen Augen gewahrnehme, ohne ſolche vor dem Gebrauch des Glaſes geſehen zu haben.
Dieſe und aͤhnliche Erfahrungen laſſen ſich weder aus der Verſchiedenheit des ſinnlichen Eindrucks, inſo- ferne dieſer in den aͤußern Objekten außer dem Gehirne
ſeine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0156"n="96"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Verſuch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/><p>Die <hirendition="#fr">Jdee</hi> iſt, wenn dieß Wort noch in keiner ein-<lb/>
geſchraͤnkten Bedeutung genommen wird, <hirendition="#fr">eine Vor-<lb/>ſtellung mit Bewußtſeyn,</hi> ein Bild, das von an-<lb/>
dern Bildern unterſchieden wird. Jn einer engern Be-<lb/>
deutung iſt es ein von uns zu einem Zeichen eines Ge-<lb/>
genſtandes gemachtes Bild. Die Jdeen koͤnnen dun-<lb/>
kel und verwirrt ſeyn, nicht weil es an der dazu noͤthi-<lb/>
gen Staͤrke oder Deutlichkeit des Abdrucks in der Vor-<lb/>ſtellung fehlet, ſondern weil es an der Aufmerkſamkeit<lb/>
fehlet, welche erfordert wird, wenn die ſich ausnehmen-<lb/>
de und unterſcheidbare Zuͤge in der Vorſtellung bemerket<lb/>
werden ſollen. Die Vorſtellung kann nemlich eine an<lb/>ſich ſehr leſerliche Schrift in uns ſeyn, und das Auge<lb/>
kann fehlen, das ſolche ſcharf und genau genug anſieht.<lb/>
Jn dem Gemaͤhlde, worinn der Geſchmackloſe nichts,<lb/>
als bunte Striche gewahr wird, erblickt das Auge des<lb/>
Kenners tauſend feine Zuͤge, Nuancen, Aehnlichkeiten,<lb/>
die dem erſtern entwiſchen, obgleich ſein Auge eben ſo<lb/>
gut die Lichtſtrahlen faſſet, als das vielleicht bloͤdere Ge-<lb/>ſicht des letztern. Ein Jaͤger kann in den leichteſten<lb/>
Spuren die Thierart bemerken, die ſolche hinterlaſſen<lb/>
hat; der wilde Amerikaner ſieht es den Fußtapfen der<lb/>
Menſchen im Schnee und auf der Erde an, zu welcher<lb/>
Nation ſie gehoͤren, indem die Aufmerkſamkeit auf die<lb/>
kleinſten Zuͤge verwendet wird, die einem andern unbe-<lb/>
merkt bleiben, deſſen Beobachtungsgeiſt auf ſie nicht<lb/>
gefuͤhret wird. Es iſt bekannt, daß der Beobachter der<lb/>
Natur, der ſich der Vergroͤßerungsglaͤſer bedient, ge-<lb/>
wiſſe Theile und Beſchaffenheiten an den Objekten, wenn<lb/>ſie vorher mit dem Glas entdecket ſind, nachher auch<lb/>
mit bloßen Augen gewahrnehme, ohne ſolche vor dem<lb/>
Gebrauch des Glaſes geſehen zu haben.</p><lb/><p>Dieſe und aͤhnliche Erfahrungen laſſen ſich weder<lb/>
aus der Verſchiedenheit des ſinnlichen Eindrucks, inſo-<lb/>
ferne dieſer in den aͤußern Objekten außer dem Gehirne<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſeine</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[96/0156]
I. Verſuch. Ueber die Natur
Die Jdee iſt, wenn dieß Wort noch in keiner ein-
geſchraͤnkten Bedeutung genommen wird, eine Vor-
ſtellung mit Bewußtſeyn, ein Bild, das von an-
dern Bildern unterſchieden wird. Jn einer engern Be-
deutung iſt es ein von uns zu einem Zeichen eines Ge-
genſtandes gemachtes Bild. Die Jdeen koͤnnen dun-
kel und verwirrt ſeyn, nicht weil es an der dazu noͤthi-
gen Staͤrke oder Deutlichkeit des Abdrucks in der Vor-
ſtellung fehlet, ſondern weil es an der Aufmerkſamkeit
fehlet, welche erfordert wird, wenn die ſich ausnehmen-
de und unterſcheidbare Zuͤge in der Vorſtellung bemerket
werden ſollen. Die Vorſtellung kann nemlich eine an
ſich ſehr leſerliche Schrift in uns ſeyn, und das Auge
kann fehlen, das ſolche ſcharf und genau genug anſieht.
Jn dem Gemaͤhlde, worinn der Geſchmackloſe nichts,
als bunte Striche gewahr wird, erblickt das Auge des
Kenners tauſend feine Zuͤge, Nuancen, Aehnlichkeiten,
die dem erſtern entwiſchen, obgleich ſein Auge eben ſo
gut die Lichtſtrahlen faſſet, als das vielleicht bloͤdere Ge-
ſicht des letztern. Ein Jaͤger kann in den leichteſten
Spuren die Thierart bemerken, die ſolche hinterlaſſen
hat; der wilde Amerikaner ſieht es den Fußtapfen der
Menſchen im Schnee und auf der Erde an, zu welcher
Nation ſie gehoͤren, indem die Aufmerkſamkeit auf die
kleinſten Zuͤge verwendet wird, die einem andern unbe-
merkt bleiben, deſſen Beobachtungsgeiſt auf ſie nicht
gefuͤhret wird. Es iſt bekannt, daß der Beobachter der
Natur, der ſich der Vergroͤßerungsglaͤſer bedient, ge-
wiſſe Theile und Beſchaffenheiten an den Objekten, wenn
ſie vorher mit dem Glas entdecket ſind, nachher auch
mit bloßen Augen gewahrnehme, ohne ſolche vor dem
Gebrauch des Glaſes geſehen zu haben.
Dieſe und aͤhnliche Erfahrungen laſſen ſich weder
aus der Verſchiedenheit des ſinnlichen Eindrucks, inſo-
ferne dieſer in den aͤußern Objekten außer dem Gehirne
ſeine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/156>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.