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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
ihr verbunden gewesen ist; so gibt diese Regul die wahre
Folge der Jdeen nicht bestimmter an, als wenn man
sagte: "auf eine gegenwärtige Jdee kann fast eine jed-
"wede andere folgen." Wird die Regellosigkeit der
Phantasie darum eine Regelmäßigkeit, weil die Jdeen
nach dieser Regel reproduciret werden? Jst in einem
Quodlibet deswegen eine ordentliche Gedankenfolge,
weil diese Folge durch eine Regel bestimmet wird, wel-
che saget, daß keine Ordnung darinn seyn soll.

Noch weiter über die Wahrheit hinaus ist es, wenn
einige in dem Gesetz der Association ein allgemeines Ge-
setz gefunden haben wollen, daß die ganze Folge der
Vorstellungen in der Seele bestimmen soll, in so ferne
sie nicht von neuen Empfindungen unterbrochen wird.
Wenn die Sonne aufgehet, so siehet man in Osten lie-
gende entfernte und dunkele Gebüsche für Berge an,
und so scheinet es uns auch bey dieser Regel gegangen zu
seyn. Es mag seyn, daß aus ihr die Folge der Vor-
stellungen, welche alsdenn wieder erwecket werden, wenn
alle übrige Seelenvermögen unthätig sind und nur allein
die wiederhervorbringende Phantasie beschäftiget ist, und
ich will zugeben, daß sie diese Folge völlständig erkläre;
wo und wie selten findet denn wohl diese angenomme-
nen Bedingung Statt? Wenn arbeitet die Phantasie
allein an der wirklichen Association der Jdeen, wozu sie
nur die Materialien, der obigen Regel gemäß, darbie-
tet? Das selbstthätige Dichtungsvermögen kommt da-
zwischen, und schaffet neue Vorstellungen aus denen, die
da sind, und machet also neue Vereinigungspunkte,
neue Verknüpfungen und neue Reihen. Die Denkkraft
entdecket neue Verhältnisse und Beziehungen, neue
Aehnlichkeiten, neue Koexistenzen, und neue Abhän-
gigkeiten, die vorher nicht bemerket waren, und machet
auf diese Art neue Kommunikationskanäle zwischen den
Jdeen, wodurch einige zur unmittelbaren Verbindung

kommen,

I. Verſuch. Ueber die Natur
ihr verbunden geweſen iſt; ſo gibt dieſe Regul die wahre
Folge der Jdeen nicht beſtimmter an, als wenn man
ſagte: „auf eine gegenwaͤrtige Jdee kann faſt eine jed-
„wede andere folgen.“ Wird die Regelloſigkeit der
Phantaſie darum eine Regelmaͤßigkeit, weil die Jdeen
nach dieſer Regel reproduciret werden? Jſt in einem
Quodlibet deswegen eine ordentliche Gedankenfolge,
weil dieſe Folge durch eine Regel beſtimmet wird, wel-
che ſaget, daß keine Ordnung darinn ſeyn ſoll.

Noch weiter uͤber die Wahrheit hinaus iſt es, wenn
einige in dem Geſetz der Aſſociation ein allgemeines Ge-
ſetz gefunden haben wollen, daß die ganze Folge der
Vorſtellungen in der Seele beſtimmen ſoll, in ſo ferne
ſie nicht von neuen Empfindungen unterbrochen wird.
Wenn die Sonne aufgehet, ſo ſiehet man in Oſten lie-
gende entfernte und dunkele Gebuͤſche fuͤr Berge an,
und ſo ſcheinet es uns auch bey dieſer Regel gegangen zu
ſeyn. Es mag ſeyn, daß aus ihr die Folge der Vor-
ſtellungen, welche alsdenn wieder erwecket werden, wenn
alle uͤbrige Seelenvermoͤgen unthaͤtig ſind und nur allein
die wiederhervorbringende Phantaſie beſchaͤftiget iſt, und
ich will zugeben, daß ſie dieſe Folge voͤllſtaͤndig erklaͤre;
wo und wie ſelten findet denn wohl dieſe angenomme-
nen Bedingung Statt? Wenn arbeitet die Phantaſie
allein an der wirklichen Aſſociation der Jdeen, wozu ſie
nur die Materialien, der obigen Regel gemaͤß, darbie-
tet? Das ſelbſtthaͤtige Dichtungsvermoͤgen kommt da-
zwiſchen, und ſchaffet neue Vorſtellungen aus denen, die
da ſind, und machet alſo neue Vereinigungspunkte,
neue Verknuͤpfungen und neue Reihen. Die Denkkraft
entdecket neue Verhaͤltniſſe und Beziehungen, neue
Aehnlichkeiten, neue Koexiſtenzen, und neue Abhaͤn-
gigkeiten, die vorher nicht bemerket waren, und machet
auf dieſe Art neue Kommunikationskanaͤle zwiſchen den
Jdeen, wodurch einige zur unmittelbaren Verbindung

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[112/0172] I. Verſuch. Ueber die Natur ihr verbunden geweſen iſt; ſo gibt dieſe Regul die wahre Folge der Jdeen nicht beſtimmter an, als wenn man ſagte: „auf eine gegenwaͤrtige Jdee kann faſt eine jed- „wede andere folgen.“ Wird die Regelloſigkeit der Phantaſie darum eine Regelmaͤßigkeit, weil die Jdeen nach dieſer Regel reproduciret werden? Jſt in einem Quodlibet deswegen eine ordentliche Gedankenfolge, weil dieſe Folge durch eine Regel beſtimmet wird, wel- che ſaget, daß keine Ordnung darinn ſeyn ſoll. Noch weiter uͤber die Wahrheit hinaus iſt es, wenn einige in dem Geſetz der Aſſociation ein allgemeines Ge- ſetz gefunden haben wollen, daß die ganze Folge der Vorſtellungen in der Seele beſtimmen ſoll, in ſo ferne ſie nicht von neuen Empfindungen unterbrochen wird. Wenn die Sonne aufgehet, ſo ſiehet man in Oſten lie- gende entfernte und dunkele Gebuͤſche fuͤr Berge an, und ſo ſcheinet es uns auch bey dieſer Regel gegangen zu ſeyn. Es mag ſeyn, daß aus ihr die Folge der Vor- ſtellungen, welche alsdenn wieder erwecket werden, wenn alle uͤbrige Seelenvermoͤgen unthaͤtig ſind und nur allein die wiederhervorbringende Phantaſie beſchaͤftiget iſt, und ich will zugeben, daß ſie dieſe Folge voͤllſtaͤndig erklaͤre; wo und wie ſelten findet denn wohl dieſe angenomme- nen Bedingung Statt? Wenn arbeitet die Phantaſie allein an der wirklichen Aſſociation der Jdeen, wozu ſie nur die Materialien, der obigen Regel gemaͤß, darbie- tet? Das ſelbſtthaͤtige Dichtungsvermoͤgen kommt da- zwiſchen, und ſchaffet neue Vorſtellungen aus denen, die da ſind, und machet alſo neue Vereinigungspunkte, neue Verknuͤpfungen und neue Reihen. Die Denkkraft entdecket neue Verhaͤltniſſe und Beziehungen, neue Aehnlichkeiten, neue Koexiſtenzen, und neue Abhaͤn- gigkeiten, die vorher nicht bemerket waren, und machet auf dieſe Art neue Kommunikationskanaͤle zwiſchen den Jdeen, wodurch einige zur unmittelbaren Verbindung kommen,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/172>, abgerufen am 22.12.2024.