der Dichtkraft im Milton und Klopstock, die mit innerer Heftigkeit die Einbildungen bearbeitet, auflöset und ver- mischet, trennet und zusammenziehet, und neue Gestal- ten und Erscheinungen schaffet. Wie verschiedenartig sind nicht die Wirkungen. Ein unermeßliches Gedächt- niß kann ohne eine hervorragende Dichtkraft, und um- gekehrt die letztere vorhanden seyn, ohne daß das Ge- dächtniß von vorzüglicher Größe sey. Von dieser Seite betrachtet sind auch die Thätigkeiten und die Vermögen verschiedenartig.
Dennoch aber sind sie von einer andern Seite ange- sehen, homogene Vermögen, und Vermögen einer und derselbigen Kraft. Jst das selbstthätige Vermögen zu reproduciren schon vorhanden; so wachse es, in so fer- ne es ein selbstthätiges Vermögen ist, und in so ferne es aufgenommene Vorstellungen wieder hervorziehet. Man gebe der Phantasie, die wie jedes Seelenvermögen meh- rere Dimensionen, so zu sagen hat, größere Lebhaftig- keit und Geschwindigkeit, und also von dieser Seite noch einen Grad innerer Selbstthätigkeit mehr; und lasse sie dagegen an Stärke, die einzeln Empfindungsvorstellun- gen in ihrer individuellen Völligkeit wieder darzustellen, etwas zurück bleiben, so wird sie eine Kraft werden, wel- che Theile von ganzen Vorstellungen schnell aus ihrer Verbindung mit andern heraus zu heben, und sie abzu- trennen; dann mehrere Vorstellungen, die in unter- scheidbaren Momenten aufeinander folgen, oder die an unterschiedenen Stellen und von einander entfernt lagen, in Einem Augenblick und auf Eine Stelle hin zusam- men zu bringen, in einander zu drängen, zu vermischen und zu vereinigen vermögend ist. Das ist, sie wird selbstbildende Dichtkraft seyn. Es ist oben der Ver- mischung der Vorstellungen erwähnet worden, die in ei- ner Schwäche der Phantasie ihren Grund hat, und daher entstehet, weil Vorstellungen zusammenfallen, die die
Phantasie
I. Verſuch. Ueber die Natur
der Dichtkraft im Milton und Klopſtock, die mit innerer Heftigkeit die Einbildungen bearbeitet, aufloͤſet und ver- miſchet, trennet und zuſammenziehet, und neue Geſtal- ten und Erſcheinungen ſchaffet. Wie verſchiedenartig ſind nicht die Wirkungen. Ein unermeßliches Gedaͤcht- niß kann ohne eine hervorragende Dichtkraft, und um- gekehrt die letztere vorhanden ſeyn, ohne daß das Ge- daͤchtniß von vorzuͤglicher Groͤße ſey. Von dieſer Seite betrachtet ſind auch die Thaͤtigkeiten und die Vermoͤgen verſchiedenartig.
Dennoch aber ſind ſie von einer andern Seite ange- ſehen, homogene Vermoͤgen, und Vermoͤgen einer und derſelbigen Kraft. Jſt das ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen zu reproduciren ſchon vorhanden; ſo wachſe es, in ſo fer- ne es ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen iſt, und in ſo ferne es aufgenommene Vorſtellungen wieder hervorziehet. Man gebe der Phantaſie, die wie jedes Seelenvermoͤgen meh- rere Dimenſionen, ſo zu ſagen hat, groͤßere Lebhaftig- keit und Geſchwindigkeit, und alſo von dieſer Seite noch einen Grad innerer Selbſtthaͤtigkeit mehr; und laſſe ſie dagegen an Staͤrke, die einzeln Empfindungsvorſtellun- gen in ihrer individuellen Voͤlligkeit wieder darzuſtellen, etwas zuruͤck bleiben, ſo wird ſie eine Kraft werden, wel- che Theile von ganzen Vorſtellungen ſchnell aus ihrer Verbindung mit andern heraus zu heben, und ſie abzu- trennen; dann mehrere Vorſtellungen, die in unter- ſcheidbaren Momenten aufeinander folgen, oder die an unterſchiedenen Stellen und von einander entfernt lagen, in Einem Augenblick und auf Eine Stelle hin zuſam- men zu bringen, in einander zu draͤngen, zu vermiſchen und zu vereinigen vermoͤgend iſt. Das iſt, ſie wird ſelbſtbildende Dichtkraft ſeyn. Es iſt oben der Ver- miſchung der Vorſtellungen erwaͤhnet worden, die in ei- ner Schwaͤche der Phantaſie ihren Grund hat, und daher entſtehet, weil Vorſtellungen zuſammenfallen, die die
Phantaſie
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I. Verſuch. Ueber die Natur
der Dichtkraft im Milton und Klopſtock, die mit innerer
Heftigkeit die Einbildungen bearbeitet, aufloͤſet und ver-
miſchet, trennet und zuſammenziehet, und neue Geſtal-
ten und Erſcheinungen ſchaffet. Wie verſchiedenartig
ſind nicht die Wirkungen. Ein unermeßliches Gedaͤcht-
niß kann ohne eine hervorragende Dichtkraft, und um-
gekehrt die letztere vorhanden ſeyn, ohne daß das Ge-
daͤchtniß von vorzuͤglicher Groͤße ſey. Von dieſer Seite
betrachtet ſind auch die Thaͤtigkeiten und die Vermoͤgen
verſchiedenartig.
Dennoch aber ſind ſie von einer andern Seite ange-
ſehen, homogene Vermoͤgen, und Vermoͤgen einer und
derſelbigen Kraft. Jſt das ſelbſtthaͤtige Vermoͤgen zu
reproduciren ſchon vorhanden; ſo wachſe es, in ſo fer-
ne es ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen iſt, und in ſo ferne es
aufgenommene Vorſtellungen wieder hervorziehet. Man
gebe der Phantaſie, die wie jedes Seelenvermoͤgen meh-
rere Dimenſionen, ſo zu ſagen hat, groͤßere Lebhaftig-
keit und Geſchwindigkeit, und alſo von dieſer Seite noch
einen Grad innerer Selbſtthaͤtigkeit mehr; und laſſe ſie
dagegen an Staͤrke, die einzeln Empfindungsvorſtellun-
gen in ihrer individuellen Voͤlligkeit wieder darzuſtellen,
etwas zuruͤck bleiben, ſo wird ſie eine Kraft werden, wel-
che Theile von ganzen Vorſtellungen ſchnell aus ihrer
Verbindung mit andern heraus zu heben, und ſie abzu-
trennen; dann mehrere Vorſtellungen, die in unter-
ſcheidbaren Momenten aufeinander folgen, oder die an
unterſchiedenen Stellen und von einander entfernt lagen,
in Einem Augenblick und auf Eine Stelle hin zuſam-
men zu bringen, in einander zu draͤngen, zu vermiſchen
und zu vereinigen vermoͤgend iſt. Das iſt, ſie wird
ſelbſtbildende Dichtkraft ſeyn. Es iſt oben der Ver-
miſchung der Vorſtellungen erwaͤhnet worden, die in ei-
ner Schwaͤche der Phantaſie ihren Grund hat, und daher
entſtehet, weil Vorſtellungen zuſammenfallen, die die
Phantaſie
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/220>, abgerufen am 22.12.2024.
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