Es kann nicht ein jeder Körper, der angeschlagen wird, nachzittern oder nachschwingen, wie eine elastische Saite und wie ein Perpendikel. Der weiche Körper thut es nicht. Die Seele der Auster und des Polypen mag empfinden, das ist, Eindrücke von den sie umge- benden Gegenständen aufnehmen; dieß kann eine bloße Receptivität seyn, ein bloßes Leiden; es ist damit nicht nothwendig verbunden, daß sie auch zu wallen fortfahre, wenn der Schlamm nicht mehr auf sie zustößt, der ihr den Eindruck beybrachte. Aber wenn ihr Vermögen, womit sie den Eindruck aufnahm, eine mitthätige Kraft ist, die, wenn sie einmal eine Veränderung empfangen hat, diese Wirkung einen Augenblick selbstthätig in sich hervorbringen oder sie erhalten kann -- die Elasticität in der Saite ist nur ein Beyspiel, aber kein allgemeines Bild für alle solche Kräfte -- so kann sie nachempfin- den, die empfangene Modifikation ununterbrochen er- halten, obgleich die Einwirkung der Ursache unterbro- chen ist. Es ist also die Selbstthätigkeit in der Re- ceptivität der Seele, von der das Vermögen, Nach- empfindungen zu haben, abhänget.
Um aber ein percipirendes Vermögen zu haben, muß von den Nachempfindungen eine Spur aufbewahret, und in dem Jnnern des percipirenden Wesens gewisser- maßen abgesondert, getrennet und auseinandergesetzet erhalten werden. Wenn jede Veränderung in jedem Dinge ihre Wirkungen und Folgen hat, die in ihm nie ganz verlöschen, -- dieß ist ein Grundsatz der Leibnitzi- schen Philosophie -- so können doch diese Folgen derge- stalt in einander zusammen fallen, daß keine von ihnen jemals durch die innere Kraft der Substanz wieder aus- gesondert aus dem ganzen verwirrten Chaos der übrigen reproduciret werden kann. Wo dieß letztere geschehen soll, da muß ein höherer Grad von innerer Modifikabi- lität seyn; ein größerer Raum, Umfang, Tiefe und eine
größere
I. Verſuch. Ueber die Natur
Es kann nicht ein jeder Koͤrper, der angeſchlagen wird, nachzittern oder nachſchwingen, wie eine elaſtiſche Saite und wie ein Perpendikel. Der weiche Koͤrper thut es nicht. Die Seele der Auſter und des Polypen mag empfinden, das iſt, Eindruͤcke von den ſie umge- benden Gegenſtaͤnden aufnehmen; dieß kann eine bloße Receptivitaͤt ſeyn, ein bloßes Leiden; es iſt damit nicht nothwendig verbunden, daß ſie auch zu wallen fortfahre, wenn der Schlamm nicht mehr auf ſie zuſtoͤßt, der ihr den Eindruck beybrachte. Aber wenn ihr Vermoͤgen, womit ſie den Eindruck aufnahm, eine mitthaͤtige Kraft iſt, die, wenn ſie einmal eine Veraͤnderung empfangen hat, dieſe Wirkung einen Augenblick ſelbſtthaͤtig in ſich hervorbringen oder ſie erhalten kann — die Elaſticitaͤt in der Saite iſt nur ein Beyſpiel, aber kein allgemeines Bild fuͤr alle ſolche Kraͤfte — ſo kann ſie nachempfin- den, die empfangene Modifikation ununterbrochen er- halten, obgleich die Einwirkung der Urſache unterbro- chen iſt. Es iſt alſo die Selbſtthaͤtigkeit in der Re- ceptivitaͤt der Seele, von der das Vermoͤgen, Nach- empfindungen zu haben, abhaͤnget.
Um aber ein percipirendes Vermoͤgen zu haben, muß von den Nachempfindungen eine Spur aufbewahret, und in dem Jnnern des percipirenden Weſens gewiſſer- maßen abgeſondert, getrennet und auseinandergeſetzet erhalten werden. Wenn jede Veraͤnderung in jedem Dinge ihre Wirkungen und Folgen hat, die in ihm nie ganz verloͤſchen, — dieß iſt ein Grundſatz der Leibnitzi- ſchen Philoſophie — ſo koͤnnen doch dieſe Folgen derge- ſtalt in einander zuſammen fallen, daß keine von ihnen jemals durch die innere Kraft der Subſtanz wieder aus- geſondert aus dem ganzen verwirrten Chaos der uͤbrigen reproduciret werden kann. Wo dieß letztere geſchehen ſoll, da muß ein hoͤherer Grad von innerer Modifikabi- litaͤt ſeyn; ein groͤßerer Raum, Umfang, Tiefe und eine
groͤßere
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I. Verſuch. Ueber die Natur
Es kann nicht ein jeder Koͤrper, der angeſchlagen
wird, nachzittern oder nachſchwingen, wie eine elaſtiſche
Saite und wie ein Perpendikel. Der weiche Koͤrper
thut es nicht. Die Seele der Auſter und des Polypen
mag empfinden, das iſt, Eindruͤcke von den ſie umge-
benden Gegenſtaͤnden aufnehmen; dieß kann eine bloße
Receptivitaͤt ſeyn, ein bloßes Leiden; es iſt damit nicht
nothwendig verbunden, daß ſie auch zu wallen fortfahre,
wenn der Schlamm nicht mehr auf ſie zuſtoͤßt, der ihr
den Eindruck beybrachte. Aber wenn ihr Vermoͤgen,
womit ſie den Eindruck aufnahm, eine mitthaͤtige Kraft
iſt, die, wenn ſie einmal eine Veraͤnderung empfangen
hat, dieſe Wirkung einen Augenblick ſelbſtthaͤtig in ſich
hervorbringen oder ſie erhalten kann — die Elaſticitaͤt
in der Saite iſt nur ein Beyſpiel, aber kein allgemeines
Bild fuͤr alle ſolche Kraͤfte — ſo kann ſie nachempfin-
den, die empfangene Modifikation ununterbrochen er-
halten, obgleich die Einwirkung der Urſache unterbro-
chen iſt. Es iſt alſo die Selbſtthaͤtigkeit in der Re-
ceptivitaͤt der Seele, von der das Vermoͤgen, Nach-
empfindungen zu haben, abhaͤnget.
Um aber ein percipirendes Vermoͤgen zu haben, muß
von den Nachempfindungen eine Spur aufbewahret,
und in dem Jnnern des percipirenden Weſens gewiſſer-
maßen abgeſondert, getrennet und auseinandergeſetzet
erhalten werden. Wenn jede Veraͤnderung in jedem
Dinge ihre Wirkungen und Folgen hat, die in ihm nie
ganz verloͤſchen, — dieß iſt ein Grundſatz der Leibnitzi-
ſchen Philoſophie — ſo koͤnnen doch dieſe Folgen derge-
ſtalt in einander zuſammen fallen, daß keine von ihnen
jemals durch die innere Kraft der Subſtanz wieder aus-
geſondert aus dem ganzen verwirrten Chaos der uͤbrigen
reproduciret werden kann. Wo dieß letztere geſchehen
ſoll, da muß ein hoͤherer Grad von innerer Modifikabi-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/222>, abgerufen am 22.12.2024.
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