Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.über Empfindungen u. Empfindnisse. dungen gestöret werde. Die Seele ist beständig an mehrals Einer Seite und mit mehr als Einem ihrer Vermö- gen geschäftig, und die Erfahrung widerstreitet dem nicht. Sie kann sogar mit allen ihren unterschiedenen Vermö- gen zu Einer Zeit arbeiten. Nur darinnen bestehet ihre natürliche Einschränkung. Sie kann diese mancherley- artigen Aeußerungen nicht alle in gleichem Grade aus- lassen. Eine Beschäftigung hindert die andere und schrän- ket sie ein. Es kann nur Eine in Einem Zeitpunkt vor- züglich vorgenommen und betrieben werden; und nur ei- nige wenige können zugleich mit einer solchen Jntension verrichtet werden, als die Absicht, in der man sie vor- nimmt, es erfodert. Es war eine nicht gemeine Auf- merksamkeit, da Cäsar drey Briefe auf einmal zugleich diktiren konnte. Aber was neulich in den öffentlichen Zeitungen von einem Engländer berichtet worden ist, der zugleich das Schach spielen, und die Points eines an- dern Tarocspiels zählen, und denn noch die Reden meh- rerer Personen in der Gesellschaft bemerken können, ist völlig außerordentlich, wenn es wirklich so ist, wie man es erzählet hat. Der Handwerker singet bey seiner Ar- beit, und verrichtet sie dennoch zweckmäßig; man spatzie- ret und unterredet sich mit einem andern, oder überlässet sich wol gar einer Spekulation. Aber sobald auch dem Handarbeiter etwas in seinem Geschäfte aufstößet, was mehr als die gewöhnlichste Aufmerksamkeit erfodert, und sobald der Spatziergänger auf einen schlüpfrigen Weg oder zu einem schmalen Steig über einer Grube hinkommt, so muß die Kraft der Seele von den fremden Gedanken abgelenket und auf die gegenwärtigen Eindrücke mehr hingezogen werden; oder es geschehen Mißgriffe, und der philosophirende Spatziergänger erfährt das Schick- sal des Thales. So ist es. Soll seine Beschäftigung in der Maße betrieben werden, als es seyn muß, um besonders beobachtet, mit klarem Bewußtseyn erkannt, und I. Band. M
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. dungen geſtoͤret werde. Die Seele iſt beſtaͤndig an mehrals Einer Seite und mit mehr als Einem ihrer Vermoͤ- gen geſchaͤftig, und die Erfahrung widerſtreitet dem nicht. Sie kann ſogar mit allen ihren unterſchiedenen Vermoͤ- gen zu Einer Zeit arbeiten. Nur darinnen beſtehet ihre natuͤrliche Einſchraͤnkung. Sie kann dieſe mancherley- artigen Aeußerungen nicht alle in gleichem Grade aus- laſſen. Eine Beſchaͤftigung hindert die andere und ſchraͤn- ket ſie ein. Es kann nur Eine in Einem Zeitpunkt vor- zuͤglich vorgenommen und betrieben werden; und nur ei- nige wenige koͤnnen zugleich mit einer ſolchen Jntenſion verrichtet werden, als die Abſicht, in der man ſie vor- nimmt, es erfodert. Es war eine nicht gemeine Auf- merkſamkeit, da Caͤſar drey Briefe auf einmal zugleich diktiren konnte. Aber was neulich in den oͤffentlichen Zeitungen von einem Englaͤnder berichtet worden iſt, der zugleich das Schach ſpielen, und die Points eines an- dern Tarocſpiels zaͤhlen, und denn noch die Reden meh- rerer Perſonen in der Geſellſchaft bemerken koͤnnen, iſt voͤllig außerordentlich, wenn es wirklich ſo iſt, wie man es erzaͤhlet hat. Der Handwerker ſinget bey ſeiner Ar- beit, und verrichtet ſie dennoch zweckmaͤßig; man ſpatzie- ret und unterredet ſich mit einem andern, oder uͤberlaͤſſet ſich wol gar einer Spekulation. Aber ſobald auch dem Handarbeiter etwas in ſeinem Geſchaͤfte aufſtoͤßet, was mehr als die gewoͤhnlichſte Aufmerkſamkeit erfodert, und ſobald der Spatziergaͤnger auf einen ſchluͤpfrigen Weg oder zu einem ſchmalen Steig uͤber einer Grube hinkommt, ſo muß die Kraft der Seele von den fremden Gedanken abgelenket und auf die gegenwaͤrtigen Eindruͤcke mehr hingezogen werden; oder es geſchehen Mißgriffe, und der philoſophirende Spatziergaͤnger erfaͤhrt das Schick- ſal des Thales. So iſt es. Soll ſeine Beſchaͤftigung in der Maße betrieben werden, als es ſeyn muß, um beſonders beobachtet, mit klarem Bewußtſeyn erkannt, und I. Band. M
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uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
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als Einer Seite und mit mehr als Einem ihrer Vermoͤ-
gen geſchaͤftig, und die Erfahrung widerſtreitet dem nicht.
Sie kann ſogar mit allen ihren unterſchiedenen Vermoͤ-
gen zu Einer Zeit arbeiten. Nur darinnen beſtehet ihre
natuͤrliche Einſchraͤnkung. Sie kann dieſe mancherley-
artigen Aeußerungen nicht alle in gleichem Grade aus-
laſſen. Eine Beſchaͤftigung hindert die andere und ſchraͤn-
ket ſie ein. Es kann nur Eine in Einem Zeitpunkt vor-
zuͤglich vorgenommen und betrieben werden; und nur ei-
nige wenige koͤnnen zugleich mit einer ſolchen Jntenſion
verrichtet werden, als die Abſicht, in der man ſie vor-
nimmt, es erfodert. Es war eine nicht gemeine Auf-
merkſamkeit, da Caͤſar drey Briefe auf einmal zugleich
diktiren konnte. Aber was neulich in den oͤffentlichen
Zeitungen von einem Englaͤnder berichtet worden iſt, der
zugleich das Schach ſpielen, und die Points eines an-
dern Tarocſpiels zaͤhlen, und denn noch die Reden meh-
rerer Perſonen in der Geſellſchaft bemerken koͤnnen, iſt
voͤllig außerordentlich, wenn es wirklich ſo iſt, wie man
es erzaͤhlet hat. Der Handwerker ſinget bey ſeiner Ar-
beit, und verrichtet ſie dennoch zweckmaͤßig; man ſpatzie-
ret und unterredet ſich mit einem andern, oder uͤberlaͤſſet
ſich wol gar einer Spekulation. Aber ſobald auch dem
Handarbeiter etwas in ſeinem Geſchaͤfte aufſtoͤßet, was
mehr als die gewoͤhnlichſte Aufmerkſamkeit erfodert, und
ſobald der Spatziergaͤnger auf einen ſchluͤpfrigen Weg
oder zu einem ſchmalen Steig uͤber einer Grube hinkommt,
ſo muß die Kraft der Seele von den fremden Gedanken
abgelenket und auf die gegenwaͤrtigen Eindruͤcke mehr
hingezogen werden; oder es geſchehen Mißgriffe, und
der philoſophirende Spatziergaͤnger erfaͤhrt das Schick-
ſal des Thales. So iſt es. Soll ſeine Beſchaͤftigung
in der Maße betrieben werden, als es ſeyn muß, um
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