Schmerz mindern oder unterdrücken, oder ihm seinen Stachel nehmen. Posidonius mußte die Gichtschmerzen als wahre physische Schmerzen fühlen, und Epictet sei- nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis- heit, und stoischen Eigensinn gestärkte Seele, daß das Gefühl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwärtigen Gefühls eingeschlossen; und von der Phantasie, von dem Herzen, dem Triebe und Bestrebungen, wodurch die Un- ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em- pfindung kann zur Vorstellung gemacht und mit der Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird sie gewis- sermaßen aus der Seele zurückgeschoben, und als ein Gegenstand der Beobachtung vor ihr hingestellet. Ue- berdieß kann die innere Selbstthätigkeit der Seele mäch- tige Quellen entgegengesetzter Empfindungen eröfnen, um jene Schmerzen zu überströmen; und endlich, kön- nen selbst die Empfindungskräfte gestärket werden, so daß die Disproportion zwischen ihnen und zwischen den auf sie wirkenden Objekten und also auch der wahre phy- sische Schmerz, selbst das Gefühl als Gefühl in etwas verändert wird. Alle diese Wirkungen, die man in he- roischen Seelen antrift, und die entgegengesetzten, die man bey schwachen, und kleinmüthigen Personen ge- wahr wird, erklären sich nun so zu sagen von selbst aus der angegebenen Beziehung, in der die Empfindnisse auf die bloßen Empfindungen der Gegenstände stehen.
VI. Wei-
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
Schmerz mindern oder unterdruͤcken, oder ihm ſeinen Stachel nehmen. Poſidonius mußte die Gichtſchmerzen als wahre phyſiſche Schmerzen fuͤhlen, und Epictet ſei- nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis- heit, und ſtoiſchen Eigenſinn geſtaͤrkte Seele, daß das Gefuͤhl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwaͤrtigen Gefuͤhls eingeſchloſſen; und von der Phantaſie, von dem Herzen, dem Triebe und Beſtrebungen, wodurch die Un- ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em- pfindung kann zur Vorſtellung gemacht und mit der Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird ſie gewiſ- ſermaßen aus der Seele zuruͤckgeſchoben, und als ein Gegenſtand der Beobachtung vor ihr hingeſtellet. Ue- berdieß kann die innere Selbſtthaͤtigkeit der Seele maͤch- tige Quellen entgegengeſetzter Empfindungen eroͤfnen, um jene Schmerzen zu uͤberſtroͤmen; und endlich, koͤn- nen ſelbſt die Empfindungskraͤfte geſtaͤrket werden, ſo daß die Disproportion zwiſchen ihnen und zwiſchen den auf ſie wirkenden Objekten und alſo auch der wahre phy- ſiſche Schmerz, ſelbſt das Gefuͤhl als Gefuͤhl in etwas veraͤndert wird. Alle dieſe Wirkungen, die man in he- roiſchen Seelen antrift, und die entgegengeſetzten, die man bey ſchwachen, und kleinmuͤthigen Perſonen ge- wahr wird, erklaͤren ſich nun ſo zu ſagen von ſelbſt aus der angegebenen Beziehung, in der die Empfindniſſe auf die bloßen Empfindungen der Gegenſtaͤnde ſtehen.
VI. Wei-
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uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
Schmerz mindern oder unterdruͤcken, oder ihm ſeinen
Stachel nehmen. Poſidonius mußte die Gichtſchmerzen
als wahre phyſiſche Schmerzen fuͤhlen, und Epictet ſei-
nen Beinbruch. Aber das vermochte die durch Weis-
heit, und ſtoiſchen Eigenſinn geſtaͤrkte Seele, daß das
Gefuͤhl mehr in den Grenzen des bloßen gegenwaͤrtigen
Gefuͤhls eingeſchloſſen; und von der Phantaſie, von dem
Herzen, dem Triebe und Beſtrebungen, wodurch die Un-
ruhe vermehret wird, abgehalten wurde. Die Em-
pfindung kann zur Vorſtellung gemacht und mit der
Denkkraft bearbeitet werden, und dadurch wird ſie gewiſ-
ſermaßen aus der Seele zuruͤckgeſchoben, und als ein
Gegenſtand der Beobachtung vor ihr hingeſtellet. Ue-
berdieß kann die innere Selbſtthaͤtigkeit der Seele maͤch-
tige Quellen entgegengeſetzter Empfindungen eroͤfnen,
um jene Schmerzen zu uͤberſtroͤmen; und endlich, koͤn-
nen ſelbſt die Empfindungskraͤfte geſtaͤrket werden, ſo
daß die Disproportion zwiſchen ihnen und zwiſchen den
auf ſie wirkenden Objekten und alſo auch der wahre phy-
ſiſche Schmerz, ſelbſt das Gefuͤhl als Gefuͤhl in etwas
veraͤndert wird. Alle dieſe Wirkungen, die man in he-
roiſchen Seelen antrift, und die entgegengeſetzten, die
man bey ſchwachen, und kleinmuͤthigen Perſonen ge-
wahr wird, erklaͤren ſich nun ſo zu ſagen von ſelbſt aus
der angegebenen Beziehung, in der die Empfindniſſe
auf die bloßen Empfindungen der Gegenſtaͤnde ſtehen.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/279>, abgerufen am 22.12.2024.
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