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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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und über das Denken.
Muß nicht der fortarbeitende, und den Stoß, so weit
er ihn empfunden hat, sich vorstellende Verstand durch
ein Raisonnement zu dem Schlußurtheil kommen, daß
irgendwo eine Veränderung von dem Stoße entstehen
müsse? Die eine Kugel nimmt ihren Weg auf die ande-
re zu, und zwey Körper können nicht zugleich denselbi-
gen Ort einnehmen. Dieß würde Statt finden müssen,
wenn die anstoßende Kugel ihren Weg ungehindert ver-
folgen, und die ruhende ihre Stellung unverändert be-
halten sollte. Dieß angeführte Beyspiel ist nur erdich-
tet, und ich kann zugeben, daß wir, ohne mit einem
Stoß auch zugleich seine Wirkung empfunden zu haben,
vielleicht niemals ein solches Raisonnement gemacht hät-
ten, das uns auf diese Art zu den Gedanken von der
Wirkung hinführet. Aber es ist unläugbar, daß wir
das gedachte Raisonnement wirklich vornehmen, und
daß wir nachher mehr um dieses Raisonnements willen
als durch die Empfindung uns überzeugt halten, daß
unser Urtheil von der wirkenden Verbindung zwischen
dem Stoß und ihrem Effekt auch im Allgemeinen ein
wahres Urtheil sey!

Untersuchen wir die Quelle unserer Ueberzeugung von
den ersten Grundgesetzen der Bewegung, so finden wir
mehrere Beyspiele von der nämlichen Art. Jst es eine
Jnduktion, daß ein Körper, der einmal in Bewegung
ist, seine Bewegung ungeändert beybehalte, so lange
nicht eine äußere Ursache sie abändere? daß ein ruhender
Körper ewig an seiner Stelle bleibe, woferne keine frem-
de Ursache ihn heraus triebe? ist es eine Jnduktion, und
allein eine Jnduktion, daß die Aktion eines Körpers al-
lemal mit einer Reaktion verbunden sey? Wenn man
die einzelnen Fälle zumal bey dem ersten Gesetz aufzählet,
in denen man es zu beobachten Gelegenheit gehabt hat,
und sie gegen andere hält, die davon abzuweichen schei-
nen, so wird man sich schwerlich überreden, daß wir je-

nes

und uͤber das Denken.
Muß nicht der fortarbeitende, und den Stoß, ſo weit
er ihn empfunden hat, ſich vorſtellende Verſtand durch
ein Raiſonnement zu dem Schlußurtheil kommen, daß
irgendwo eine Veraͤnderung von dem Stoße entſtehen
muͤſſe? Die eine Kugel nimmt ihren Weg auf die ande-
re zu, und zwey Koͤrper koͤnnen nicht zugleich denſelbi-
gen Ort einnehmen. Dieß wuͤrde Statt finden muͤſſen,
wenn die anſtoßende Kugel ihren Weg ungehindert ver-
folgen, und die ruhende ihre Stellung unveraͤndert be-
halten ſollte. Dieß angefuͤhrte Beyſpiel iſt nur erdich-
tet, und ich kann zugeben, daß wir, ohne mit einem
Stoß auch zugleich ſeine Wirkung empfunden zu haben,
vielleicht niemals ein ſolches Raiſonnement gemacht haͤt-
ten, das uns auf dieſe Art zu den Gedanken von der
Wirkung hinfuͤhret. Aber es iſt unlaͤugbar, daß wir
das gedachte Raiſonnement wirklich vornehmen, und
daß wir nachher mehr um dieſes Raiſonnements willen
als durch die Empfindung uns uͤberzeugt halten, daß
unſer Urtheil von der wirkenden Verbindung zwiſchen
dem Stoß und ihrem Effekt auch im Allgemeinen ein
wahres Urtheil ſey!

Unterſuchen wir die Quelle unſerer Ueberzeugung von
den erſten Grundgeſetzen der Bewegung, ſo finden wir
mehrere Beyſpiele von der naͤmlichen Art. Jſt es eine
Jnduktion, daß ein Koͤrper, der einmal in Bewegung
iſt, ſeine Bewegung ungeaͤndert beybehalte, ſo lange
nicht eine aͤußere Urſache ſie abaͤndere? daß ein ruhender
Koͤrper ewig an ſeiner Stelle bleibe, woferne keine frem-
de Urſache ihn heraus triebe? iſt es eine Jnduktion, und
allein eine Jnduktion, daß die Aktion eines Koͤrpers al-
lemal mit einer Reaktion verbunden ſey? Wenn man
die einzelnen Faͤlle zumal bey dem erſten Geſetz aufzaͤhlet,
in denen man es zu beobachten Gelegenheit gehabt hat,
und ſie gegen andere haͤlt, die davon abzuweichen ſchei-
nen, ſo wird man ſich ſchwerlich uͤberreden, daß wir je-

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[319/0379] und uͤber das Denken. Muß nicht der fortarbeitende, und den Stoß, ſo weit er ihn empfunden hat, ſich vorſtellende Verſtand durch ein Raiſonnement zu dem Schlußurtheil kommen, daß irgendwo eine Veraͤnderung von dem Stoße entſtehen muͤſſe? Die eine Kugel nimmt ihren Weg auf die ande- re zu, und zwey Koͤrper koͤnnen nicht zugleich denſelbi- gen Ort einnehmen. Dieß wuͤrde Statt finden muͤſſen, wenn die anſtoßende Kugel ihren Weg ungehindert ver- folgen, und die ruhende ihre Stellung unveraͤndert be- halten ſollte. Dieß angefuͤhrte Beyſpiel iſt nur erdich- tet, und ich kann zugeben, daß wir, ohne mit einem Stoß auch zugleich ſeine Wirkung empfunden zu haben, vielleicht niemals ein ſolches Raiſonnement gemacht haͤt- ten, das uns auf dieſe Art zu den Gedanken von der Wirkung hinfuͤhret. Aber es iſt unlaͤugbar, daß wir das gedachte Raiſonnement wirklich vornehmen, und daß wir nachher mehr um dieſes Raiſonnements willen als durch die Empfindung uns uͤberzeugt halten, daß unſer Urtheil von der wirkenden Verbindung zwiſchen dem Stoß und ihrem Effekt auch im Allgemeinen ein wahres Urtheil ſey! Unterſuchen wir die Quelle unſerer Ueberzeugung von den erſten Grundgeſetzen der Bewegung, ſo finden wir mehrere Beyſpiele von der naͤmlichen Art. Jſt es eine Jnduktion, daß ein Koͤrper, der einmal in Bewegung iſt, ſeine Bewegung ungeaͤndert beybehalte, ſo lange nicht eine aͤußere Urſache ſie abaͤndere? daß ein ruhender Koͤrper ewig an ſeiner Stelle bleibe, woferne keine frem- de Urſache ihn heraus triebe? iſt es eine Jnduktion, und allein eine Jnduktion, daß die Aktion eines Koͤrpers al- lemal mit einer Reaktion verbunden ſey? Wenn man die einzelnen Faͤlle zumal bey dem erſten Geſetz aufzaͤhlet, in denen man es zu beobachten Gelegenheit gehabt hat, und ſie gegen andere haͤlt, die davon abzuweichen ſchei- nen, ſo wird man ſich ſchwerlich uͤberreden, daß wir je- nes

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/379>, abgerufen am 13.06.2024.