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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VI. Versuch. Ueber den Unterschied
weis es recht gut, daß der Mond am Horizont nicht
nur nicht größer ist, als in der Höhe, sondern auch, daß
das Bild im Auge von ihm nicht größer sey; -- ich setze
dieß aus der obgedachten Erklärung des Hrn. Smiths
hier als richtig voraus, und halte es auch selbst dafür, --
und dennoch sieht er ihn auf dieselbige Art daselbst größer,
wie andere Menschen.

Hierbey soll also eine schlußartige Verbindung der
Jdeen in der Phantasie zum Grunde liegen. Jndem die
Seele einen geometrischen Ueberschlag machet, und ur-
theilet, der kleinere Gegenstand in der größern Entfer-
nung müsse so groß seyn, als ein größer scheinender in
der Nähe, so nimmt man an, es werde das größere
Bild aus der Nähe erwecket, und mit dem gegenwärti-
gen Eindruck so vereiniget, daß wir dieß größere Bild
zu empfinden glauben.

Einige, denen diese Wirkung für die Association der
Jdeen zu stark zu seyn schien, kamen auf die Muthmas-
sung, daß es vielleicht in dem Jnnern des Sinnglie-
des zwischen solchen verschiedenen Jnpressionen eine phy-
sische Verbindung gebe, wodurch entweder eine die an-
dere, besonders die weniger gewöhnliche die mehr ge-
wöhnliche, erwecken oder auch beyde, in Hinsicht ihrer
Wirkungen auf das Gehirn und auf die Seele, einan-
der ähnlich werden könnten. *) Auf diese Art glaubten
sie die Wahrheit der Empfindung zu retten. Denn nun
sehe ich wirklich dasselbige Objekt in der Weite von zehn
Fuß eben so, wie in der Nähe von fünf Fuß. Wenn
gleich die Bilder auf der Netzhaut verschieden sind, so
sind doch die sinnlichen Jmpressionen in dem Jnnern des
Organs, und nach diesen richten sich die Empfindungen
der Seele nur, in beyden Fällen dieselbigen.

Daß
*) Haller. Element. Physiolog. Tom. V. Libr. XVI.
§. XXIX.

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
weis es recht gut, daß der Mond am Horizont nicht
nur nicht groͤßer iſt, als in der Hoͤhe, ſondern auch, daß
das Bild im Auge von ihm nicht groͤßer ſey; — ich ſetze
dieß aus der obgedachten Erklaͤrung des Hrn. Smiths
hier als richtig voraus, und halte es auch ſelbſt dafuͤr, —
und dennoch ſieht er ihn auf dieſelbige Art daſelbſt groͤßer,
wie andere Menſchen.

Hierbey ſoll alſo eine ſchlußartige Verbindung der
Jdeen in der Phantaſie zum Grunde liegen. Jndem die
Seele einen geometriſchen Ueberſchlag machet, und ur-
theilet, der kleinere Gegenſtand in der groͤßern Entfer-
nung muͤſſe ſo groß ſeyn, als ein groͤßer ſcheinender in
der Naͤhe, ſo nimmt man an, es werde das groͤßere
Bild aus der Naͤhe erwecket, und mit dem gegenwaͤrti-
gen Eindruck ſo vereiniget, daß wir dieß groͤßere Bild
zu empfinden glauben.

Einige, denen dieſe Wirkung fuͤr die Aſſociation der
Jdeen zu ſtark zu ſeyn ſchien, kamen auf die Muthmaſ-
ſung, daß es vielleicht in dem Jnnern des Sinnglie-
des zwiſchen ſolchen verſchiedenen Jnpreſſionen eine phy-
ſiſche Verbindung gebe, wodurch entweder eine die an-
dere, beſonders die weniger gewoͤhnliche die mehr ge-
woͤhnliche, erwecken oder auch beyde, in Hinſicht ihrer
Wirkungen auf das Gehirn und auf die Seele, einan-
der aͤhnlich werden koͤnnten. *) Auf dieſe Art glaubten
ſie die Wahrheit der Empfindung zu retten. Denn nun
ſehe ich wirklich daſſelbige Objekt in der Weite von zehn
Fuß eben ſo, wie in der Naͤhe von fuͤnf Fuß. Wenn
gleich die Bilder auf der Netzhaut verſchieden ſind, ſo
ſind doch die ſinnlichen Jmpreſſionen in dem Jnnern des
Organs, und nach dieſen richten ſich die Empfindungen
der Seele nur, in beyden Faͤllen dieſelbigen.

Daß
*) Haller. Element. Phyſiolog. Tom. V. Libr. XVI.
§. XXIX.
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[440/0500] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied weis es recht gut, daß der Mond am Horizont nicht nur nicht groͤßer iſt, als in der Hoͤhe, ſondern auch, daß das Bild im Auge von ihm nicht groͤßer ſey; — ich ſetze dieß aus der obgedachten Erklaͤrung des Hrn. Smiths hier als richtig voraus, und halte es auch ſelbſt dafuͤr, — und dennoch ſieht er ihn auf dieſelbige Art daſelbſt groͤßer, wie andere Menſchen. Hierbey ſoll alſo eine ſchlußartige Verbindung der Jdeen in der Phantaſie zum Grunde liegen. Jndem die Seele einen geometriſchen Ueberſchlag machet, und ur- theilet, der kleinere Gegenſtand in der groͤßern Entfer- nung muͤſſe ſo groß ſeyn, als ein groͤßer ſcheinender in der Naͤhe, ſo nimmt man an, es werde das groͤßere Bild aus der Naͤhe erwecket, und mit dem gegenwaͤrti- gen Eindruck ſo vereiniget, daß wir dieß groͤßere Bild zu empfinden glauben. Einige, denen dieſe Wirkung fuͤr die Aſſociation der Jdeen zu ſtark zu ſeyn ſchien, kamen auf die Muthmaſ- ſung, daß es vielleicht in dem Jnnern des Sinnglie- des zwiſchen ſolchen verſchiedenen Jnpreſſionen eine phy- ſiſche Verbindung gebe, wodurch entweder eine die an- dere, beſonders die weniger gewoͤhnliche die mehr ge- woͤhnliche, erwecken oder auch beyde, in Hinſicht ihrer Wirkungen auf das Gehirn und auf die Seele, einan- der aͤhnlich werden koͤnnten. *) Auf dieſe Art glaubten ſie die Wahrheit der Empfindung zu retten. Denn nun ſehe ich wirklich daſſelbige Objekt in der Weite von zehn Fuß eben ſo, wie in der Naͤhe von fuͤnf Fuß. Wenn gleich die Bilder auf der Netzhaut verſchieden ſind, ſo ſind doch die ſinnlichen Jmpreſſionen in dem Jnnern des Organs, und nach dieſen richten ſich die Empfindungen der Seele nur, in beyden Faͤllen dieſelbigen. Daß *) Haller. Element. Phyſiolog. Tom. V. Libr. XVI. §. XXIX.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/500>, abgerufen am 16.07.2024.